„Engelartig herabsegelnde Blätter“

Trost und Transzendenz im Werk des Schriftstellers Wilhelm Genazino
Blätter
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Wilhelm Genazino war ein Schriftsteller ganz besonderer Art. Objektiv hat er nicht viel erlebt, aber kleinste Details und Zufälligkeiten des Alltags führten zu einem hinreißenden literarischen Werk. Der Theologe Karl Tetzlaff begibt sich auf Spurensuche in das Werk von Wilhelm Genazino, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre.

Engelartig herabsegelnde Blätter.“ Mit dieser knappen Notiz enden die jüngst erschienenen Aufzeichnungen des Schriftstellers Wilhelm Genazino aus den Jahren 1972 bis 2018. Nur wenige Monate nach ihrer Niederschrift ist Genazino, der Anfang dieses Jahres seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert hätte, gestorben. Die von Jan Bürger und Friedhelm Marx postum herausgegebenen Aufzeichnungen dienten ihm als „eine Art Materialcontainer“. Darin sammelte er Beobachtungen, die nicht selten alltäglichen Streifzügen durch die Frankfurter Innenstadt entstammten. Vielfach fanden sie unter anderem Eingang in sein einundzwanzig Romane und zwölf Bände mit essayistischen Texten umfassendes Werk.

Das schöne Bild von den „engelartig herabsegelnden Blättern“ hat leider nicht mehr Teil eines Romans werden können. Wohl kaum zufällig weckt es Vergänglichkeitsgefühle, die Genazino schon Anfang 2018 beschlichen haben müssen. „Wann schreibe ich meinen Weltabschiedsroman?“, fragt er in der ersten Notiz des Jahres, das sein letztes werden sollte. Doch nicht nur endlichkeitsbewusst mutet die vermächtnishafte Schlusswendung aus Genazinos Aufzeichnungen an. Ihr eignet auch etwas Trostvolles. Die unaufhaltsame Abwärtsbewegung der Blätter scheint durch den engelartigen Eindruck, den sie offensichtlich auf den Beobachter gemacht haben, leicht abgefangen zu werden. So zeichnet sich in Genazinos Sprachbild eine Spur von Trans­zendenz ab. Es spricht sich darin die Ahnung aus, dass „das, was ist, nicht alles ist“, um mit Theodor W. Adorno zu sprechen, den er intensiv gelesen hat.

In diesem Sinne hat sich Genazino einmal selbst attestiert, zwar „nicht religiös“ zu sein, aber über „einen verlarvten religiösen Rest“ zu verfügen. „Ich merke, daß ich auf dieser Antenne sowohl sende als auch empfange“, gab er im Rahmen eines Gesprächs zu Protokoll. Dabei verwies er auf eine „Offenheit für Metaphysik“ oder „für die Epiphanie beziehungsweise für Epiphanias, also für die Erscheinung des Göttlichen“, die seinen Büchern abzulauschen sei. Auch das ihm eignende „Gefühl einer individuellen Unüberwindlichkeit“ sei Anzeichen einer Rest-Religiosität, mit der manche seiner Romanfiguren übrigens ebenfalls gesegnet zu sein scheinen.

Teil eines Geschehens sein

Ein passendes Beispiel dafür findet sich im Roman Ein Regenschirm für diesen Tag (2001), mit dem Genazino über drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seines Erstlingswerks endlich vom Geheimtipp zum vielbeachteten Autor und Büchner-Preisträger wurde. Widerwillig gerät der Ich-Erzähler gegen Ende des Romans in den Bann eines rummeligen Stadtfestes, über das er einen Artikel schreiben soll. Doch es gelingt ihm nicht, sich „mit der Fröhlichkeit und der Erwartung der Menschen innerlich zu verbinden“, die zwischen den aufgestellten „Juxbuden, Fressbuden und Kiosken“ unterwegs sind. Als ein Moderator lautstark auf den Höhepunkt des Abends, auf eine spektakuläre Lasershow verweist, geht ihm nur durch den Kopf, dass er „nie eine Laser-Show habe sehen wollen“.

Aus der „lebhaft empfundenen Zwiespältigkeit“, Teil eines Geschehens zu sein, mit dem er eigentlich nichts zu tun haben möchte, wird er aber durch eine plötzliche Entdeckung befreit. Im dritten Stock eines angrenzenden Hauses entdeckt er einen Jungen, der sich auf dem Balkon eine Höhle gebaut hat und durch einen „Sehschlitz“ immer wieder „zu einem längeren Rundblick auf die wogenden und lärmenden Massen“ ansetzt. „Es ist ein mißtrauischer, geretteter Blick, der mein eigener sein könnte“, weiß der Ich-Erzähler zu sagen. Die Identifikation mit dem Jungen erlaubt ihm eine Distanznahme vom Erlebniszwang des Massen­events. Sie lässt ihn „entrinnbar in einem unentrinnbaren Geschehen“ werden, in dem er sich selbst nicht wiederfinden kann. „Von Engeln verstehe ich nichts, ich glaube auch nicht an sie“, bekennt er dabei freimütig, „trotzdem halte ich es für möglich, daß der Junge nur meinetwegen zwischen Himmel und Erde schwirrt“. Die kurzen Momente, in denen der kindliche Höhlenbewohner einen Blick nach draußen wagt, bezeichnet der Ich-Erzähler, weil sie so „unbeschreiblich“ sind, als „ein Eigentum der Engel, wenn es Engel gibt“.

Erfahrungsautonomie gewinnen

Einmal mehr bedient sich Genazino hier des Engelsmotivs, um den Transzendenzcharakter einer Beobachtung in Worte zu fassen. Ohne Bezug zu nehmen auf eine göttliche Dimension, wäre es offenbar unbeschreiblich, was der Betrachter an rettender, erlösender Kraft aus der Ansicht des spielenden Kindes gewinnt. Ob es Engel gibt, woran Genazinos Ich-Erzähler ausdrücklich nicht glaubt, ist dabei zweitrangig. Die „engelartig“ erscheinende Eigenart des Erblickten, das ihn wenigstens momenthaft aus einer schier unentrinnbaren Lage zu befreien vermag, bleibt von solchen Fragen unberührt.„Moderne Literatur“ zielt nach Genazinos Verständnis darauf, „Erfahrungsautonomie zu gewinnen in Umgebungen, die weder Erfahrungen noch Autonomie brauchen können.“ Sie biete den Leserinnen und Lesern bestenfalls eine „Übungsstätte für ihre Individuierung, für deren Ausdruck in den herrschenden Wirklichkeiten oft kein Platz ist“.

In der geschilderten Szene aus Ein Regenschirm für diesen Tag findet Genazinos Literaturverständnis geradezu paradigmatische Umsetzung. Das Bild des Höhle bauenden Jungen dient dem Ich-Erzähler dazu, der eigenen Individualität Ausdruck zu verleihen, für die er in der umgebenden Wirklichkeit keinen Raum findet. Es ihm nachzutun, ist die an die Leserinnen und Leser ergehende Einladung. Denn „wer mit sich zusammentreffen will“, muss sich, schreibt Genazino, „zu einem stets empfindsamen Erfahrungskünstler entwickeln“, der solche Gelegenheiten der Individuierung für sich zu nutzen weiß. Literatur, insbesondere die Genazinos, kann dabei hilfreich sein. In ihrer „Beharrlichkeit“ und „metaphysischen Zuversicht“, mit der sie an der „banalen Realität“ immer wieder den „Vorschein einer anderen Welt“ aufdeckt, ist die Literatur mithin aus seiner Sicht „selber quasi religiös“. „Der Schriftsteller nennt diesen anderen Weltzustand die Utopie“, schreibt er, „der Gläubige nennt ihn Erlösung.“In diesem anderen Weltzustand, der jedoch stets Utopie bleibt, wäre genug Platz für den Ausdruck von Individualität. Der faktische Weltzustand mit seinem „Gedröhn der Selbstbehauptung und des kommerziellen Kontakts“ zwingt hingegen zum „Eskapismus der einzelnen“ etwa „in eine aufschließende Beobachtung“, wie Genazino feststellt. Der darin anklingende gesellschaftskritische Einschlag eignet vielen seiner Texte, insbesondere wenn sie die Arbeits- und Berufswelt fokussieren.

Beispielhaft dafür ist die Ende der 1970er-Jahre erschienene Abschaffel-Trilogie. „Weil seine Lage unabänderlich war, musste Abschaffel arbeiten“, lautet der düster wirkende Eingangssatz von deren erstem Teil. Schicksalhaft nimmt sich die Situation des Protagonisten demnach aus, der als Angestellter im Großraumbüro einer Spedition sein Tagwerk zu verrichten hat. Dabei begleitet ihn „das Gefühl, nicht eigentlich zu leben, sondern sein Leben immerzu zu überbrücken mit der zweit- und drittbesten Möglichkeit, weil die erste Wahl auch für ihn nicht zu haben war“. Erfüllt von einer „Sehnsucht nach dem Absoluten und Unerreichten“ durchstreift er an arbeitsfreien Tagen die Straßen der (Frankfurter) Innenstadt und macht dort Beobachtungen, durch die er seiner Gefühlslage wenigstens Ausdruck verleihen kann.

Einmal entdeckt Abschaffel zwei Hasen, die im Schaufenster einer Zoohandlung ausgestellt sind. Ein paar Kinder lassen die Tiere durch energisches Klopfen an die Scheibe immer wieder zusammenzucken, worin er seine eigene Lebenssituation wiederentdeckt: „Man sitzt in einem Kasten, von außen wird dauernd geklopft, aber niemand weiß, wie man flüchten soll, und also verbringt man zitternd seine Tage.“ So „lächerlich“ und „peinlich diese Gleichsetzung“ sich im nächsten Moment für ihn ausnimmt, er „hatte“ darin doch „für die Trauer, in der er sich verfangen hatte, ein Bild gefunden, das ihn wieder beruhigte“.

Auch Abschaffel nutzt also die sich ihm darbietenden Gelegenheiten, „auf sich selbst sehen“ zu können. Sein Grundgefühl, „diesen Dingen“ – der Arbeit und dem Büro – „ausgeliefert zu sein“, ohne daran etwas ändern zu können, kann er dadurch aber nicht überwinden. „Kommt es vor, daß du auch mal gern zur Arbeit gehst“, wird er gegen Ende des Romans gefragt. „Das weiß ich gar nicht mehr“, antwortet er. „Ich muss einfach hin. Ich hasse meine Arbeit […] und der Haß hat mich still gemacht“. Doch „das Stillwerden“ ist für ihn auch ein „Ausweg“: „Oft habe ich in dieser Stille plötzlich eine irrsinnige Hoffnung. Ich könnte am Schreibtisch anfangen zu heulen, weil ich überzeugt bin, es gibt eine Erlösung.“

Die anvisierte Erlösung von den als starr empfundenen Verhältnissen, nach der sich Abschaffels irrsinnige Hoffnung ausstreckt, vermag er nur schweigend zum Ausdruck zu bringen. Sie hat keinen objektiven Anhalt an der Wirklichkeit. Es ‚gibt‘ sie nur im Modus jener „Sehnsucht nach dem Absoluten und Unerreichten“, die Abschaffel ziellos durch die Straßen streifen lässt, um dann und wann „Miniaturen“ zu erleben, „die ihn für Augenblicke heiter stimmten“.

Diese hoffnungsstiftenden Miniaturen, die eine Heiterkeit in die melancholische Grundstimmung von vielen Texten Genazinos einmischen, haben häufig etwas Komisches. In einem kurzen Essay von 2009 schildert er, wie er einmal „erlebnisbedürftig“ einen Zirkus besuchte und schon außerhalb des Zeltes ans Ziel kam. Ein dort angeleintes Kamel „spreizte die Hinterbeine und fing an zu pissen. […] Wunderbar schamfrei blickte das Tier über die Leute hinweg und nahm den Ausdruck von Würde und Größe an. Auch für ein pissendes Kamel gilt: Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Aus Genazinos Sicht sind es „solche betörenden, weil mehrschichtigen Anblicke, die das Ich öffnen, erweichen, beglücken“ und an denen sich die „bedürftige Seele“ bereichern kann. In ihnen liege die versöhnende Aussicht, dass „die übliche Trennung zwischen Innen und Außen aufgehoben“ werden kann, was aber immer nur „momentweise“ geschehe. Es sind genau solche Momente, die Genazino an anderer Stelle, wie gesehen, als „Erscheinungen des Göttlichen“ oder „Eigentum der Engel“ bezeichnet hat.

„Progressiver Trost“

In Genazinos letztem Buch Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (2018), das ungeplant zu seinem „Weltabschiedsroman“ geworden ist, muss der Ich-Erzähler am Ende „verblüfft“ feststellen, „kaum noch sinnvolle Wünsche“ zu haben „außer einem: Ich wollte erlöst werden“. Im Blick auf sich selbst hat Genazino einmal gesagt, er lebe in einem Zustand zwischen Katastrophenangst und Erlösungssehnsucht. Was ihm das „Gefühl einer individuellen Unüberwindlichkeit“ gebe, sei die Gewissheit, dass sich keine von beiden jemals erfülle. Stattdessen „kommt der nächste Tag“, wie sein persönliches Credo lautet.

Stellt man sich vor, dass der nächste Tag mit so aufbauenden Darbietungen wie „engelartig herabfallenden Blättern“ aufwarten könnte, stiftet diese Aussicht eine gewisse Zuversicht. Aus ihr lässt sich ein „progressiver Trost“ schöpfen, den Genazinos Literatur wecken will – indem sie ihre Leserinnen und Leser sensibel macht für jene kleinen Momente von Transzendenz, die oft beiläufig eine andersartige Welt aufscheinen und erleben lassen. 

 

Literaturempfehlung:
Wilhelm Genazino: Der Traum des Beobachters. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Bürger und Friedhelm Marx. Hanser Verlag, München 2023, 496 Seiten, Euro 34,–.

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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