Go west and back

Zurück in die Heimat im Osten Deutschlands
Eine bayerische Idylle, aber nichts, was Janka Kreißl halten konnte.
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Eine bayerische Idylle, aber nichts, was Janka Kreißl halten konnte.

Aufgewachsen in der DDR, zog es die Journalistin und freie Texterin Janka Kreißl bald nach dem Mauerfall in die weite  Welt – und auch 15 Jahre nach Bayern. Dann aber beschloss sie, nicht mehr weiter anzukämpfen gegen all das Etablierte, unter dem sie dort litt. Stattdessen ging sie wieder dorthin, wo es noch Gestaltungsspielraum in den Städten und Köpfen gibt. Nach Ostdeutschland.

Ich glaube an nichts. Nicht an Gott, nicht an einen Staat, nicht daran, dass Dinge so bleiben, wie sie sind. Ich wuchs auf in einem Land, das mir per Pioniergebot verordnet hat, Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion zu halten, Sport zu treiben und überall tüchtig mitzuhelfen. In einer Region, die von Bergen, Sperrzonen und einer Mauer begrenzt war. In einer Familie, in der mein Verständnis von Religion darin bestand, dass die Nachbarstochter zu Weihnachten eben in die Kirche ging und ich nicht. Der Staat brach zusammen, die Mauer wurde abgerissen, die Orientierung ging verloren.

Als ich 13 wurde, spielte ich mit Freundinnen in meinem Kinderzimmer das Spiel, bei dem man eine Sechs würfeln musste, dann schnell Mütze und Handschuhe anziehen und eine in Zeitung verpackte Schokolade auspacken und mit Besteck zerschneiden musste. Im Wohnzimmer saßen die Erwachsenen zusammen und stießen auf meinen Geburtstag an. Der Fernseher lief, und irgendwann kam jemand herein und sagte „Die Grenzen sind offen.“ Mir war das egal, ich hatte ein Pferdebuch geschenkt bekommen und Jeans aus einem Westpaket.

In den nächsten Tagen fehlten Schüler in meiner Klasse: Ihre Familien waren direkt losgefahren, ein paar Kilometer weiter, in den Westen. Bis wir die Grenze das erste Mal überquerten, dauerte es noch zwei, drei Wochen. „Woher sollen wir wissen, dass die die nicht einfach wieder zumachen“, fragten meine Eltern, und zögerten. Im Vergleich dazu kam der Westen relativ schnell zu uns. Autos mit bayerischen Kennzeichen holperten über die Hauptstraße unserer Kleinstadt, wir Jugendlichen hatten Langeweile und sahen sie uns an. Durch die Fenster wurden uns Bananen, Kulis und CDU-Aufkleber gereicht.

Meine Eltern erhielten ihren ersten Betrüger-Brief, sie hätten 10 000 Mark gewonnen, und luden die ganze Nachbarschaft zum Feiern ein. Irgendwann kamen immer mehr solcher Briefe, und sie begriffen, dass sie nichts gewonnen hatten. Ich hingegen spürte, dass so manche Erwachsenen um mich herum gerade einiges verloren: das gewohnte Leben, wie es mal gewesen war. Die Hoffnung, dass Dinge anders besser würden. Das Vertrauen in den „goldenen Westen“, der viele von ihnen erstmal ganz schön verarschte.

Für den Staat DDR waren Wende und Wiedervereinigung der Endpunkt seiner Geschichte – für seine Bürger ein Anfang in einem neuen Land. Meine Freunde und ich wurschtelten uns so durch. Wir suchten nach unseren eigenen Erklärungen und Wegen in die Zukunft – zwischen Kollektiven, die auseinanderbrachen, und überforderten Erwachsenen, die selbst nach Orientierung rangen. Kaum jemand konnte uns erklären, wie das Neue einzuordnen sei, wie es weitergehen würde, was nun klug oder angebracht sei. Die meisten Großeltern, Eltern oder Lehrer wussten es vermutlich selbst nicht genau. Gewohnte Alltagsstrukturen gerieten durcheinander, Autoritäten gingen verloren, einen Ersatz gab es nicht. Irgendwann sehr viel später zeichnete ein Psychotherapeut mir daraus ein Bild: Aus einem Hafen, der in Windeseile abgerissen wurde, steuerten wir mit einem Boot, was nur aus dem Allernötigsten bestand, auf ein Ziel zu, von dem wir keine Ahnung hatten, wie es aussehen sollte. Nicht mal wussten, wo und wie es existiert.

„Die ganze Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich nötig, dass jemand sie findet.“ (Astrid Lindgren) Ich habe viele Steine umgedreht in der Hoffnung zu finden – auch solche, die besser liegen geblieben wären. Als junge Erwachsene war ich ständig auf Reisen, oft außerhalb meiner Komfortzone und immer mit Anlauf ins Unbekannte. Ich fühlte mich rastlos und stets auf der Suche – nach irgendeinem Leuchtturm, an dem ich mich ausrichten konnte, nach Ankommen und Heimat. Irgendwann wurde mir klar, dass ich diese Heimat in mir finden musste – und dass sie nicht aus einem Ort bestehen würde.Vieles über mich, meine ostdeutsche Herkunft und Identität, habe ich in der Ferne erfahren, im Austausch mit anderen. Beim Auslandssemester in Wales, wo ich bei einem iranischen Pizza­bäcker arbeitete, der ein großer Fan von „the communism“ war und mich mit Fragen zu volkseigenen Betrieben und Pionierorganisation löcherte. Beim Work & Travel in Australien, wo ich am Lagerfeuer Diskussionen mit Kölnern führte, die die ganze Welt bereist hatten, aber noch nie in Berlin, Weimar oder Dresden gewesen waren. Im Kino in Sydney, wo ich 2004 bei „Goodbye Lenin“ in Tränen ausbrach, 15 Jahre nach dem Mauerfall-Kindergeburtstag, weil das Gefühl von Verlust und Verlorensein mich plötzlich überwältigte. In Bayern, wo ich dachte, ich könne durch Events für Ossis und Einheimische ein besseres Verständnis schaffen für uns „Zugereiste“ aus den neuen Bundesländern. „Von denen haben wir schon genug hier“, hörte ich mal, als ich Werbung für meine Ost-Partys machte. „Ach so, du bist auch von drüben. Sprichst ja aber gar kein Sächsisch.“

Kein Wohneigentum und Erbkapital

Im weiß-blauen Teil Westdeutschlands spürte ich überdeutlich, wie sehr ich mich im Denken und Handeln von anderen in meiner Altersklasse dort unterscheide. Schon alleine deshalb, weil ich mich nicht auf ein familiäres Sicherheitsnetz aus Wohneigentum und Erbkapital verlassen kann. Mir wurde zudem klar, wie fremd mir Eliten sind, wie wenig mir an Macht und Einfluss liegt. Auch wenn es eine logische Folge hätte sein können: Dass in meiner Pubertät fast alle stabilisierenden Strukturen weggebrochen waren, führte bei mir eben nicht zu einer individualisierten Einzelkämpfermentalität. Stattdessen löste es eine noch stärkere Ausrichtung auf gemeinschaftliches Vorankommen aus.

Dennoch widerspreche ich (manchmal vermutlich aus Prinzip) Autoritäten und stelle etablierte Prozesse in Frage – ein Störfaktor im beschaulichen bayrischen System. Es wurde mir selten direkt kommuniziert, und doch habe ich immer sehr genau gefühlt, wann und wo diese Grenze erreicht war, ab der ein Weiterkommen als Ossi nahezu unmöglich war. Und mit jedem Mal, mit dem ich mich gegen diese Mauern stemmte, verlor ich ein bisschen mehr an Kraft – und auch an Willen. Irgendwann beschloss ich, nicht mehr weiter anzukämpfen gegen dieses Etablierte und wieder dorthin zu gehen, wo noch nicht alles festgelegt ist. Wo man Dinge nicht einfach tut, weil man das „schon immer so“ gemacht hat. Wo es noch Gestaltungsspielraum in den Städten und Köpfen gibt. Aus der Suchenden wurde – nach all der Zeit – eine Rückkehrerin.

Seit zwei Jahren lebe ich nun wieder in Leipzig und genieße es, wie alltagsnormal viele Dinge hier sind. Statt süddeutsch geprägte Diskussionen zur Vereinbarkeit von Muttersein und Berufstätigkeit zu führen („In der Kita erziehen ja Fremde unser Kind!“) sehe ich hier junge Männer, die ganz selbstverständlich alleine mit ihrem Nachwuchs unterwegs sind – und das offensichtlich nicht nur ausnahmsweise. Ich beobachte Paare im Alter meiner Eltern, die beim Einkaufsbummel Händchen halten oder sich küssen – in 15 Jahren Bayern habe ich das nur selten gesehen. Ich mag die Leute mit knallbunten Haaren oder im tiefschwarzen Tüllkleid – und die Tatsache, dass sich in der Innenstadt niemand zweimal nach ihnen umdreht. Natürlich kann all das auch dem Unterschied zwischen Klein- und Großstadt geschuldet sein. In Letzterer gibt es mehr Freiraum für den Einzelnen, ist das Netz der sozialen Kontrolle weniger eng gestrickt. In meinem thüringischen Heimatort würde ich vermutlich auch nicht alle Aspekte wiederfinden, für die ich Leipzig so mag. Dennoch verschafft es mir ein Gefühl von Leichtigkeit und Unbeschwertheit, dass ich mich hier im Osten nicht so oft erklären muss. Weil die Menschen in meinem Umfeld und Alter ähnliche Erfahrungen gemacht haben, sich unsere Biografien und deren Brüche oft gleichen. Ich mag die Unvollkommenheit des Ostens. Verfallene Industriebauten sind für mich kein Schandfleck – ich erahne in ihnen Verheißungen für etwas Neues, Gestaltbares. Ich finde das Unfertige schön, weil es mir Versprechen einer Zukunft bietet, die noch nicht vorgezeichnet ist durch eine Vergangenheit. Ich brauche es, dass Dinge sich im Wandel befinden – selbst wenn dieser oft schmerzhaft ist.

Von heute auf morgen alles anders

In Bayern war ich 15 Jahre lang nicht auf einer einzigen Demo – weil es selten welche gab und wenig, wofür ich mich kämpferisch zeigen wollte. Hier, in Leipzig, muss der richtige Weg hart diskutiert und erstritten werden, das braucht Energie. Und doch fällt es mir hier leichter, diese Energie zu investieren. Weil ich glaube, dass sich die Dinge hier einfacher bewegen lassen. Noch immer hinterfrage ich vieles und nehme nichts als gegeben hin. Ich habe miterlebt, wie von heute auf morgen alles anders war – nach dem Mauerfall, während der Corona-Lockdowns und ein bisschen auch, als ich meine ukrainische Brieffreundin mit ihren beiden Kindern einige Monate lang hier betreute. All diese Erlebnisse haben mir eines immer wieder gezeigt: Von heute auf morgen kann die Wucht der Veränderung Grundfesten ins Wanken bringen und sicher Geglaubtes mit sich reißen. Strukturen sind nicht unverrückbar, Systeme bestehen nicht für immer. Ob das gut ist oder besser, schlechter oder anders – das stellt sich oft erst später heraus. Ich glaube an nichts. Und an alles. 

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