Minigottesdienst für den Alltag

Warum die Herrnhuter Lehrtexte nicht antijudaistisch gelesen werden sollten
Denkmal von Graf Zinzendorf vor dem Kirchensaal der Evangelischen Brüder-Unität in Herrnhut in der sächsischen Oberlausitz.
Foto: epd
Denkmal von Graf Zinzendorf vor dem Kirchensaal der Evangelischen Brüder-Unität in Herrnhut in der sächsischen Oberlausitz.

In der Märzausgabe der zeitzeichen forderte der Journalist und Theologe Sebastian Engelbrecht von der Herrnhuter Brüdergemeine eine kritischere Auswahl der neutestamentlichen Lehrtexte. Seiner Meinung nach finden sich in den Losungen judenfeindliche Motive. Ihm antwortet nun Benigna Carstens aus der Direktion der Brüdergemeine.

Steh auf, Gott, richte die Erde, denn dein Eigentum sind die Nationen alle!“ Dieses Wort als Tagesmotto am Frühstücks-tisch, ja, das kann hartes Brot sein, besonders für Kinder. Andererseits sind auch unsere Kinder schon in diesen Zeiten mit harten Realitäten konfrontiert. Die Nachrichten von Kriegen und Gewalt, von Erdbeben und Flüchtlingselend sind schwer verdaulich. Gerade solche Erfahrungen aber werden es gewesen sein, die den Dichter von Psalm 82 zu diesem Seufzer oder eher Aufschrei veranlasst haben: „Gott, steh endlich auf!“ Dass alle Völker Gott gehören und deswegen Aggression und Unterdrückung nicht straflos bleiben, das ist die „gute Botschaft“ in dieser Tageslosung. Ich selbst halte sie durchaus für vermittelbar, je nach Alter der Kinder natürlich.

Der zweite Vorwurf im Artikel von Sebastian Engelbrecht ist gravierender: Durch die Auswahl des neutestamentlichen Verses werde unbewusst, aber nicht zufällig, das immer noch in christlichen Kreisen stark vorhandene antijüdische Narrativ bedient: auf der einen Seite der überholte Glaube Israels mit Gesetz und Gericht, auf der anderen Jesus, der Retter vor dem Gericht.

Engelbrechts Artikel unter der Überschrift „Im Schattenreich des Unbewussten“ erreichte uns in Herrnhut inmitten der ersten Tagung des aktuellen Spruchgutausschusses für die Losungen. Das Spruchgut bilden die derzeit 1824 Worte, aus denen die Losungen jährlich gezogen werden. Alle zehn Jahre tritt so ein Ausschuss zusammen. Seine Mitglieder gehen die aktuell in der Auswahl befindlichen Losungsworte durch und durchforsten darüber hinaus die Bücher des Alten Testaments nach weiteren Worten, die als biblisches Tagesmotto in Frage kommen. Beim ersten Arbeitstreffen werden vor allem grundsätzliche Fragen besprochen. Unter diesen Grundsatzfragen stand auch diesmal die Frage nach dem Verhältnis von alttestamentlichem Losungswort und neutestamentlichem sogenannten Lehrtext an erster Stelle. Die Brisanz dieser Zusammenstellung ist uns seit langem bewusst. Nicht nur, weil Leserinnen und Leser immer wieder fragen, warum es denn unbedingt ein Vers aus dem Alten Testament sein müsse, der ausgelost und im Losungsbuch vorangestellt wird. Das Neue Testament sei für uns Christen doch viel wichtiger.

Wie es dazu kam, dass die Losungen ab 1800 noch nur aus einer Sammlung von Sprüchen aus dem Alten Testament gezogen wurden, ist tatsächlich nicht ganz geklärt. Jedenfalls schätzte schon Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700 – 1769) Losungen aus dem Alten Testament, unter anderem wegen ihrer Nähe zum Alltagsleben.

Als wichtig erwies sich diese Reihenfolge besonders in der Zeit der Nationalsozialisten, als die Deutschen Christen das Alte Testament als für Christen gültiges Gotteswort in Frage stellten. Die Losungen waren damals unter anderem in Kreisen der Bekennenden Kirche sehr beliebt, vielleicht gerade wegen der darin zum Ausdruck kommenden Wertschätzung des Alten Testaments, der hebräischen Bibel.

In den Losungen wird unauffällig aber wirkungsvoll der Gefahr gewehrt, den christlichen Glauben von seinen jüdischen Wurzeln zu trennen. Ein zweites gewichtiges Argument ist, dass die Losungen die hebräische Bibel ähnlich gebrauchen wie die ersten Christen. In der sogenannten Urgemeinde mit mehrheitlich jüdischen Gemeindegliedern wurde die Bibel als Interpretationshilfe gelesen für das, was Jesu Nachfolger mit ihm, seinem Leben, seinem Sterben und seiner Auferstehung erlebt hatten. Und sie interpretierten die biblischen Schriften vom Glauben an Jesus Christus her neu, wie zum Beispiel die Gottesknechtslieder bei Jesaja, aber auch viele Psalmen. Der Hebräerbrief beispielsweise kann geradezu als Vorbild für eine christliche Spruchfrömmigkeit im Neuen Testament gesehen werden. Schon bei Paulus (Römer 9–11) wird allerdings klargestellt, dass Israel dadurch in keiner Weise enteignet und enterbt wird. Die Ausweitung der alttestamentlichen Verheißungen auf Menschen aus anderen Völkern ist vom Gott Abrahams und Isaaks selbst initiiert und bestätigt die Erwählung Israels. So und nur so ist auch die Zusammenstellung der Losungen zu verstehen.

Brille des Glaubens

Als Christen lesen wir das Alte Testament bis heute durch die Brille unseres Glaubens an Jesus Christus. Mit dem Losungsbuch geben wir den alttestamentlichen Worten einen gewichtigen Platz in unserer Spiritualität. In diesem „Minigottesdienst für den Alltag“ ist die Losung sozusagen der Predigttext, der Lehrtext die Predigt und der dritte Text Bekenntnis und Gebet. Dennoch wird im Ausschuss erwogen, auf den Begriff Lehrtext für den neutestamentlichen Spruch ganz zu verzichten, um dem Missverständnis vorzubeugen, erst durch das neutestamentliche Wort werde die Losung aus dem Alten Testament in die rechte Lehre eingeholt.

Trotz dieser Hochachtung des Alten Testaments in der Konstruktion der Losungen ist die Brüdergemeine selbst in den Jahren des Nationalsozialismus nicht vor Judenfeindlichkeit gefeit gewesen. Spuren davon finden sich in den Losungsausgaben der 1940er-Jahre. Seit damals hat sich unsere Kirche wiederholt mit diesem Teil der eigenen Geschichte auseinandergesetzt. Wir wissen auch, dass Antijudaismus durch Wissensvermittlung und Aufarbeitung nicht für alle Mal aus der Welt geschafft wird, sondern immer neu an seiner Überwindung gearbeitet werden muss. Wir versuchen es in der eigenen Kirche und natürlich auch mit einer sensiblen Zusammenstellung der Bibelsprüche im Losungsbuch.

Ich bin nicht sicher, ob Zahlen helfen, aber eines unserer Ausschussmitglieder hat sich aufgrund des Artikels von Sebastian Engelbrecht die Mühe gemacht und ist die Losungsworte des aktuellen Jahrgangs durchgegangen. Dabei war sein Befund: „Von den 59 Losungen im Februar und März 2023 ist bei 54 durch das explizit Ausgesagte deutlich, dass AT-Losung und NT-Lehrtext den gleichen Gott meinen, der die gleichen Gebote gibt und auf die gleiche Weise rettet und bewahrt. Ich bezweifle, dass die Leserinnen und Leser der Losungen dann bei den fünf übrigen Tagen zum Schluss kommen, hier handle es sich um zwei verschiedene Götter. Dennoch müssen wir natürlich aufpassen, dass solche Trugschlüsse nicht erfolgen können.“

Vielleicht unterschätzen wir tatsächlich die Reife mancher Losungsleserinnen und -leser. Vielleicht unterschätzen wir auch die Macht der uralten christlichen Klischees der Abwertung des jüdischen Glaubens. Das täte uns leid. Denn unter der Voraussetzung der Einheit Gottes gelesen, klingen die von Sebastian Engelbrecht zitierten Losungszusammenstellungen ganz anders. Der Geist, von dem am 27. April 2020 in Römer 8,15 die Rede ist, ist kein anderer als der Geist, der schon von Anfang an in der Schöpfung und bei Menschen aller Zeiten am Werk ist. Wenn man die Losung aus der Erzählung von Adam und Eva in 1. Mose 3,8 in dieser Perspektive liest, sieht man kurz darauf den liebenden Vater Jesu Christi in Aktion, wie er die beiden Menscheneltern einkleidet. Völlig anders als auf Engelbrecht wirken unter dieser Prämisse auch die Tagestexte vom 17. März 2022: Die Demut Jesu, die hier mit Matthäus 11,29 erwähnt wird, ist eben nicht die Demut von uns Christen. Jesu Nachfolgern gilt im Gegenteil wie dem Volk Israel der ernsthafte Aufruf zu Demut, zu einer Demut, die niemand von uns angeboren ist. Schließlich die Sache mit dem Zorn Gottes. Dass Gottes Zorn schon im Alten Testament kein Selbstzweck, sondern ein Zeichen seiner Liebe ist, sieht man besonders gut im Propheten Micha.

Im Artikel von Sebastian Engelbrecht wird vor allem eines nicht wahrgenommen: Losungsworte sind nicht als Information über den Glauben Israels und Lehrtexte nicht als Information über den Glauben der Christen gedacht. Beide Tagestexte werden als Worte verstanden, die uns aktuell ansprechen. Losungsleserinnen und -leser erkennen also etwa in der Frage aus Psalm 77, 10 („Hat Gott vergessen, gnädig zu sein, hat er sein Erbarmen im Zorn verschlossen?“) ihre eigenen Erfahrungen von Gottesferne wieder. Römer 5,20 („Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden“) als Antwort darauf aus der komplizierten Argumentation des Paulus zu Gesetz und Sünde ist natürlich starker Tobak. Der Spruch selbst leistet für die Leserschaft etwas ganz Ähnliches wie Psalm 77 als Zusammenhang des Losungswortes: Er tröstet mit dem Hinweis auf Gottes machtvolle Gnade, die sich in der Geschichte Israels und in der Geschichte Jesu Christi gezeigt hat.

Missbrauchte Bibelworte

Immer wieder durch die Kirchengeschichte hin sind biblische Worte verengt gebraucht, ja missbraucht worden. Als Brüdergemeine ist uns diese Gefahr besonders im Zusammenhang mit einem weiteren von Sebastian Engelbrecht erwähnten Losungswort bewusst. Es ist dies der Satz in Johannes 8,32: „Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.“ In diesem Jahr ist es 150 Jahre her, dass die Sklaverei in der damals niederländischen Kolonie Suriname endgültig abgeschafft wurde. In Suriname war die Brüdergemeine zu dieser Zeit fast Volkskirche, die meisten ihrer Mitglieder waren Versklavte oder Freigekaufte. Für uns heute ist es schmerzhaft zu sehen, wie lange sich die Leitung der Brüdergemeine damals skeptisch gegenüber der Idee der Befreiung der versklavten Menschen verhielt. Und wenn in der Zeit der Befreiung in Brüdergemein-Gottesdiensten in Suriname über dies Wort aus dem Johannes-Evangelium gepredigt wurde, erhob sich darin allzu oft der Zeigefinger der Missionare: „Denkt nicht, dass euch allein die Entlassung aus dem Dasein als Sklaven tatsächlich frei macht!“ In diesem Jubiläumsjahr werden wir mit unseren Schwestern und Brüdern mit surinamischen Wurzeln immer wieder auch über die Frage sprechen, wie der sich hier äußernde Rassismus bis heute in unserer europäischen Gesellschaft und auch in unserer Kirche wirksam ist. Daher möchte ich auch die Frage Engelbrechts nach unbewussten antijüdischen Affekten oder Denkstrukturen ausdrücklich nicht nur abwehren. Die gibt es sicher, und wir werden auch im aktuellen Spruchgutausschuss und im Redaktionskreis für die Losungen weiter und vielleicht noch genauer darauf achten, dass solche Affekte nicht genährt werden.

Manchmal aber befinden wir uns in einem echten Dilemma. Im Jahr 2022 fiel der Israelsonntag zufällig auf den 21. August. Seit 1732 aber begeht die Brüder-Unität am 21. August den Beginn ihrer Missionstätigkeit. In allen ihren Gemeinden wird an diesem Tag daran erinnert, wie Versklavte in der Karibik, amerikanische Ureinwohner, Inuit und Khoikhoi mit dem Evangelium von Gott, der alle Menschen liebt und erlöst (die Juden zuerst und dann die Griechen), in Berührung kamen. In jeder Kirchenprovinz der Moravian Church (englische Bezeichnung für die Brüder-Unität) werden die Losungen herausgegeben. Vielfach bilden die beiden Bibelworte den Auftakt der Gottesdienste. Die Brüder und Schwestern weltweit werden die Wahl des Lehrtextes als sehr angemessen für ihren Festtag empfunden haben. Dagegen ist der Israelsonntag, der ja zunächst als Gedenktag für Judenmission entstand, meines Wissens ein deutsches Phänomen geblieben. Dennoch hoffe ich, dass nicht zu viele Menschen hierzulande die Zusammenstellung von Losung und Lehrtext am Israelsonntag 2022 als antijüdischen Affront empfunden haben.

Vielleicht war es kein Zufall, dass der kritische Artikel von Sebastian Engelbrecht dem Losungsspruchgutausschuss 23 zwar nicht auf den Frühstückstisch flatterte, aber gerade rechtzeitig zum Mittag unseres Sitzungstages kam. Wir werden seine kritischen Fragen mit in unsere Arbeit nehmen. Am schönsten wäre es, einmal einen Austausch zu haben mit Menschen jüdischen Glaubens über diese unsere Spruchfrömmigkeit. Wir meinen, etwas Verwandtes nämlich tatsächlich schon in der hebräischen Bibel selbst zu entdecken.

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Benigna Carstens

Benigna Carstens, *1959, Theologiestudium in Berlin, Naumburg und Prag, Vikariat und erste Gemeinde bei Bautzen, Jugendarbeit bis 1990 von Leipzig aus, je zehn Jahre Lebensgemeinschaft in Hessen, Gemeindepfarramt im Schwarzwald und Mitglied der Kirchenleitung der EBU.


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