Die Unverfügbarkeit der Wahrheit
Der Erlanger Systematische Theologe Peter Dabrock hat in der aktuellen Ausgabe von zeitzeichen die römisch-katholische Kirche kritisiert. Ihm widerspricht entschieden sein Berliner Fachkollege Notger Slenczka, der seinerseits trotz anderer Positionen als evangelischer Christ, die Positionen der römischen Kirche für absolut legitim hält.
Mein hochgeschätzter Kollege Peter Dabrock hat im Märzheft der zeitzeichen die „ökumenische Höflichkeit“ aufgekündigt und sich um des Erscheinungsbildes der Christenheit willen gegen die katholische „Amtskirche“ und die amtskirchliche Hierarchie positioniert. Es sei angesichts der Folgen, die das Auftreten der katholischen Amtskirche für das Bild des Christentums insgesamt in der Gesellschaft hat, Widerspruch angesagt. Er geht dabei so weit, dass er den katholischen Christen den Kirchenaustritt nahelegt.
Dabrock weist selbst darauf hin, dass auch die evangelischen Kirchen wenig attraktive Seiten aufweist und es auch dort Äquivalente einer „verknöcherten Amtshierarchie“ gibt. Die Differenz bringt er so auf den Begriff: auf Seiten der Katholischen Kirche gelte das ‚Hott‘ des einen – des Papstes – auch dann, wenn eine Milliarde von Katholiken ‚Hüh‘ schreie. „In den meisten evangelischen Kirchen, jedenfalls auf dem Gebiet der EKD, besteht die Möglichkeit, keineswegs in Willkür – es braucht schon immer satte Mehrheiten – dem geglaubten Wirken des Geistes dynamischer zu respondieren: Alle „Hüh!“, einer „Hott!“, und es gilt „Hott!“ – das geht bei uns nicht.“ Dazu zehn ausgeführte Gedanken:
1. Von argumentierender Klarheit halte ich sehr viel, wenn es tatsächlich um die Wahrheit geht, und ich halte gar nichts davon, Differenzen höflichkeitshalber zuzukleistern. Aber man muss eben doch auch feststellen, dass es die Reformation nur darum gegeben hat, weil einer – Luther – ‚Hott‘ geschrien und daran festgehalten hat, obwohl der Rest der Christenheit auf dem ‚Hüh‘ insistierte. Das jedenfalls ist das Bild, das Luther rückblickend von der Reformation entworfen hat: hier der einsame Mönch – dort die Mehrheit der Kirche. Und, so das Bild: dieser einsame Wahrheitsanspruch habe sich, jedenfalls in den reformatorischen Territorien, durchgesetzt. Das ‚Hott‘ des einzelnen muss nicht dadurch falsch sein, dass die Mehrheit anders denkt – diese Überzeugung gehört zum namengebenden Kern des Protestantismus (unabhängig davon, ob dies Selbstbild Luthers so zutreffend ist, oder nicht).
„Zutiefst verehrungswürdige Institution“
Umgekehrt: „Satte Mehrheiten“ haben die Deutschen Christen in den Kirchenwahlen 1933 erreicht und für ihre Position ausdrücklich beansprucht, dass sie dem Wirken des Heiligen Geistes Rechnung trage; und doch sind wir uns alle einig, dass hier die satte Mehrheit kein Wahrheitsindiz war. Und auch gegenwärtig könnte jeder von uns Protestant/inn/en mit Sicherheit jeweils unterschiedliche inhaltliche Fragen nennen, in denen seiner Meinung nach die „satte Mehrheit“ in den protestantischen Synoden irrt – und er oder sie würde damit der Aussage Luthers zustimmen: Auch Synoden können irren. Wer denn nun dem „geglaubten Wirken des Heiligen Geistes“ „dynamisch respondiert“, und wohin der Heilige Geist seine Kirche treibt, ist nicht durch das Medium „satter Mehrheiten“ feststellbar. Darüber sollte Einigkeit herrschen. Dagegen spricht auch die Rede vom ‚Magnus consensus‘ , der weitgehenden Übereinstimmung nicht, den beispielsweise die Confessio Augustana in den protestantischen Territorien ihrer Zeit beansprucht: Wer irgendwie theologisch die Tassen im Schrank hat, der weiß, dass auch das Vorliegen eines ‚magnus consensus‘ nicht durch Abstimmung einer gegenwärtigen Synode festgestellt werden kann, sondern theologisch den Konsens der ‚wahren‘ Kirche aller Zeiten und Orte (sozusagen zwischen Pfingsten und der Wiederkunft Christi) meint. Repräsentant dieser Kirche in einer gegebenen Zeit kann im Extremfall ein einziger Christ sein, der im Widerspruch zur Mehrheit der Gegenwartskirche steht – womit wir wieder beim Selbstbild Luthers sind.
2. Angesichts der Kritik, die die Katholische Kirche in der Gegenwart auf sich zieht, habe ich persönlich es mir zur Aufgabe gemacht, mich nicht bequem im Windschatten der Katholischen Kirche einzurichten als der Protestant, der von der Kritik nicht getroffen ist, weil er es ja schon seit 500 Jahren gesagt hat. Die Kritik, die gegenwärtig die katholische Kirche trifft, hat mit den ursprünglichen Einwänden der Reformation wenig zu tun. Und darum habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Katholische Kirche zu verteidigen. Unbeschadet dessen, dass ich mit Bewusstsein liberaler Protestant bin: Die Katholische Kirche ist auch für Außenstehende eine zutiefst verehrungswürdige Institution. Und auch wenn die Katholische Kirche selbstverständlich von ihren Voraussetzungen her die Evangelischen Kirchen nicht als Kirche anerkennen kann, gilt umgekehrt mit aller Selbstverständlichkeit: Die Katholische Kirche ist nach protestantischem Verständnis ein Teil der Kirche Jesu Christi, und zwar ein völlig legitimer. Das festzustellen ist kein Akt der ökumenischen Höflichkeit, zu der ich nicht neige, sondern ein Gebot der Wahrheitstreue.
3. Die von Peter Dabrock scharf kritisierte Orientierung des Selbstverständnisses der Katholischen Kirche an der Amtshierarchie ist – diese These vertrete ich im Folgenden – eine spezifische und gut nachvollziehbare Lösung der Frage nach dem Kriterium der Wahrheit. Es ist die Antwort auf eine in beiden Kirchentümern unverzichtbare Sachfrage: die Frage danach, wie die Kirche in der Gegenwart einerseits mit der Demokratisierung aller Lebensbereiche und der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Menschen Ernst machen kann und zugleich die Überzeugung festhalten kann, dass die Kirche für eine Wahrheit steht, die nicht einfach menschlicher Verfügung unterliegt, sondern ihr entzogen und vorgegeben ist.
Menschenrechte als Wahrheit vorgegeben
4. Denn weder nach dem Verständnis der protestantischen Kirchen noch der Katholischen Kirche kann die Wahrheit durch Abstimmung festgestellt werden. Näher besehen gilt das auch außerhalb der Kirche: Dass wie immer qualifizierte Mehrheiten über die Wahrheit entscheiden können, hat nie jemand ernsthaft vertreten und vertritt auch gegenwärtig, soweit ich sehen kann, niemand. So eine Behauptung wäre auch sinnlos, übrigens auch im Bereich der staatlichen Demokratie: auch das Grundgesetz kennt Wahrheiten – die Grundartikel; diese sind aber der Änderung durch gesetzgebende Mehrheiten entzogen, und das Prinzip der Menschenwürde sowie die damit verbürgten Grundrechte etwa sind ein in der Verfassung anerkanntes, aber nicht durch Mehrheitsentscheide oder rechtliche Anerkennungsakte konstituiertes oder einziehbares Prinzip. Die juristische Verbindlichkeit der Menschenwürde ist nicht Gegenstand demokratischer Meinungsbildung. Sie ist als Wahrheit vorgegeben, wird von Parlamentsentscheidungen anerkannt, aber nicht begründet. Allgemeiner gilt, dass jeder Mensch Wahrheitsansprüche unterhält, die er nicht zur Disposition von Mehrheitsentscheidungen stellen würde, sondern an denen er auch gegen eine Mehrheitsentscheidung festhalten würde. Legitimer Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen im staatlichen Bereich sind alle Einrichtungen, Regelungen und das innen- und außenpolitische Handeln des Staates und seiner Institutionen, soweit sie dieser Wert- und Wahrheitsbindung nicht widersprechen. Wann im konkreten Fall eine Mehrheitsentscheidung diese Wahrheitsbindung verletzt und Widerspruch geboten ist, ist im Einzelfall natürlich strittig. Man folgt selbstverständlich einer parlamentarischen Mehrheitsentscheidung; wenn sie die eigene Wahrheitsbindung berührt: unter ausdrücklichem Protest.
Die protestantischen Kirchen wissen sich nach ihren Grundordnungen durch das Evangelium verpflichtet, das in der Schrift gegeben und im Bekenntnis bezeugt ist. Diese Wahrheitsbindung unterliegt nicht der Meinungsbildung einer Synode und entspringt keiner Mehrheitsentscheidung. In manchen Landeskirchen (etwa Hannover) hat oder hatte der Bischof das Recht, Fragen, die das Bekenntnis berührten, einer synodalen Entscheidung zu entziehen; auf diese Weise hat etwa der damalige Landesbischof Horst Hirschler 1993 ein knappes synodales Votum für die Zulassung Homosexueller zum Pfarramt für ungültig erklärt. Dies Festhalten an Überzeugungen gegen die jeweilige Mehrheit ist auch in der Kirche kein konservatives Proprium, denn etwa kirchliche Friedensgruppen haben sich mit der synodal gestützten Haltung der protestantischen Kirchen in der Beurteilung des militärischen Handelns nie abgefunden. Die Überzeugung, dass nicht nur einzelne, sondern auch Konzilien und Synoden irren können, gehört, wie gesagt, zur DNA des Protestantismus.
5. Das Besondere an der katholischen Kirche ist nicht dies, dass sie an der Vorgegebenheit und Unverfügbarkeit der Wahrheit festhält, sondern dies: dass sie besondere institutionelle Wege zur Verbürgung und zur Wahrung dieser Wahrheit beschreitet. Das bischöfliche Amt in der Gemeinschaft mit dem Papst stellt die Garantie der Wahrheit dar. Das ist keine willkürliche Definition, sondern diese Behauptung hängt daran, dass die Gemeinschaft der Bischöfe in der institutionellen Kontinuität der Gemeinschaft der Apostel Jesu stehen: vom Kreis der Apostel leitet sich, so die Gründungstheorie, die Gemeinschaft der Bischöfe durch die Handauflegung her. Die Handauflegung macht die Bischöfe zu Trägern des Geistes der Wahrheit, der die ersten Jünger mit Jesus verband. Die gegenwärtigen Bischöfe repräsentieren in der Gegenwart diesen Kreis der Jünger Jesu. In diesem Jüngerkreis hat der Apostel Petrus eine besondere, herausgehobene Position, die in der jeweiligen Gegenwart der Bischof von Rom repräsentiert, der genau darum der Papst der Gesamtkirche ist.
Die Anerkennung dieser Rolle des Petrus ist – so könnte man das aus protestantischer Perspektive reformulieren – die Folge des Vertrauens auf die Zusage an Petrus, dass er der Fels sei, auf den Jesus seine Kirche bauen werde (Matthäus 18,18f., vergleiche Johannes 21,15-19).
Die Wahrheit steht auch dem Papst nicht zur Verfügung
6. Das ist ein nicht nur imponierendes, sondern auch bedenkenswertes Modell. Denn mitnichten wird dadurch dem einzelnen Bischof oder den Kardinälen eine Entscheidungsgewalt über die Wahrheit übertragen – übrigens entgegen der üblichen protestantischen Polemik auch dem Bischof von Rom nicht. Genaugenommen nämlich wird die Lehrautorität ebenso übertragen wie entzogen. Das kann man sich ausgerechnet an der Konstitution ‚Pastor aeternus‘ des Ersten Vatikanischen Konzils deutlich machen, in der die Unfehlbarkeit des Papstes dogmatisiert wird: Vor der das Dokument abschließenden Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes wird zweierlei festgehalten: zum einen, dass die Prärogative des Papstes nicht bedeutet, dass er aus einer Offenbarung des Geistes neue Dogmen aufstellen und in Geltung setzen kann; vielmehr kann er nur „unter dem Beistand des Heiligen Geistes die von den Aposteln überlieferte Offenbarung oder das anvertraute Glaubensgut gewissenhaft hüten und getreu auslegen.“ Daher wird ausdrücklich festgehalten, dass der Papst sein Lehramt so wahrzunehmen hat, dass er sich des Glaubensgutes vergewissert – und das tut er auf dem Wege der Befragung seiner Mitbischöfe, auf regionalen oder allgemeinen Konzilien, und auf dem Wege der Frage nach dem Glaubensbewusstsein der Kirchenglieder. Das heißt: die Wahrheit steht nicht zur Verfügung des Papstes. Der Papst ist vielmehr Hüter und Garant der in der Kirche lebenden und ihm vorgegebenen Wahrheit; aber er produziert sie nicht.
Im Zweiten Vatikanum wird folgerichtig der päpstliche Primat eingefügt in den Zusammenhang einer Ekklesiologie, in dem sie nach der Anlage des ‚Schema de ecclesia‘ ursprünglich auch im Ersten Vatikanum hätte stehen sollen (aber nicht mehr stehen konnte, weil das Konzil aufgrund der Besetzung Roms durch das Königreich Italiens abgebrochen wurde). Denn zunächst ist nach dem Verständnis beider vatikanischen Konzilien die Kirche Trägerin der Wahrheit, und folgerichtig ist es die Gemeinschaft der Bischöfe, durch die die der Kirche offenbarte Wahrheit festgehalten und bewahrt wird. Diese Gemeinschaft umfasst nicht einfach die gegenwärtige Kirche und die gegenwärtig lebenden und lehrenden Bischöfe, sondern diese Gemeinschaft schließt die gesamte Kirche in Vergangenheit und Gegenwart ein, und das heißt: Es genügt nicht, dass ein Bischof, auch nicht: dass eine gegenwärtige Gemeinschaft oder gar nur eine relative Mehrheit von Bischöfen sich in einer Frage einig ist, sondern sie muss sich in ihrer Entscheidung ernsthaft einig wissen mit der ihnen vorausgehenden Gemeinschaft bis zurück zum Jüngerkreis Jesu. Das päpstliche, aber auch das bischöfliche Lehren steht damit vor der Aufgabe einer beständigen Vergewisserung und Verantwortung vor der Schrift und der gesamten Tradition.
Also: Der Ort, an dem die Wahrheit zur Sprache gebracht und bewahrt wird, wird mit dem kirchlichen Bischofsamt unter der Leitung des römischen Bischofs institutionell definiert, ganz wörtlich: abgegrenzt. Die Gemeinschaft der Bischöfe in der Fortführung des Kreises der Apostel hat explizit die Aufgabe der Wahrung und Weitergabe der in der Kirche lebenden Wahrheit und kann sich dieser Aufgabe nicht entziehen. Zugleich aber wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch dieser Institution in ihrer gegenwärtigen Gestalt die Wahrheit nicht einfach überlassen, sondern entzogen ist. Die Wahrheit kann auch hier nicht durch Abstimmung festgestellt werden, sondern in einem Prozess der Konsensbildung, in die die Stimme der Tradition (also auch der vergangenen Träger des Amtes) gleichberechtigt einbezogen ist und gehört wird. Unter diesem Vorbehalt steht, wie gesagt, auch die Unfehlbarkeit der Lehrautorität des Papstes nach der Konstitution 'Pastor aeternus', der mitnichten neue Dogmen erfinden kann, sondern in seinen Lehrentscheidungen die kirchliche Tradition zur Geltung bringt.
Institutionelle Begrenzung der Lehrgewalt
7. Nach katholischem Verständnis ist somit das bischöfliche Amt nicht der Ort, an dem über die Wahrheit, gar noch per Abstimmung, entschieden wird. Sondern in der katholischen Amtstheologie manifestiert sich im gemeinschaftlichen bischöflichen Amt und im Lehrprimat des Papstes ernsthaft die Unverfügbarkeit der Wahrheit. Als liberaler Protestant teile ich dies Verständnis der bischöflichen Lehrgewalt und der bischöflichen Autorität nicht. Aber es kann einen guten Sinn haben. Im Grunde genommen ist das bischöfliche Amt beziehungsweise die Gemeinschaft der Bischöfe der begrenzte institutionelle Ort, an dem sich das vollzieht, was nach protestantischem Verständnis der gesamten Kirche – der Gemeinschaft der Inhaber des Taufpriestertums – aufgetragen ist: das Gespräch zu führen, in dem allein die unverfügbare, die Zeiten übergreifende Wahrheit sich herausstellen kann. Dabei tut die Gemeinschaft der Bischöfe gut daran, für die Frage nach der Lehre der vor ihnen lebenden Bischöfe auf die wissenschaftliche Theologie zu hören; und die Gemeinschaft der Bischöfe tut gut daran, auf den Gemeinsinn der Kirche, aller Gläubigen zu hören. Aber eben: Die institutionelle Begrenzung der Lehrgewalt auf das bischöfliche Amt weist der Gemeinschaft der Bischöfe eine Aufgabe und eine Verantwortung zu, der sie sich nicht entziehen kann, die sie nicht delegieren kann, sondern wahrzunehmen hat und die die Kirchenglieder anerkennen sollten: im Streit um die Wahrheit zu entscheiden in Verantwortung vor der gesamten Tradition der Kirche.
8. Warum versuche ich als explizit liberaler Protestant, diese Überzeugung der katholischen Kirche geradezu werbend zu erläutern? Weil das bischöfliche Amt der katholischen Kirche einen rapiden Ansehensverlust auch unter den eigenen Gläubigen erlitten hat. Das ist eine Katastrophe, denn das bischöfliche Amt ist eine große Idee, die auch außerhalb der konfessionell katholischen Kirche Strahlkraft gewinnen kann. Denn die übliche Einschätzung, dass das Bischofsamt und der Lehrprimat des Papstes für die menschliche Usurpation und Verfügung über die Wahrheit stehe, geht völlig am Sinn des bischöflichen Amtes vorbei. Dieses ist vielmehr das in der christlichen Tradition gebildete Symbol dafür, dass die Wahrheit unverfügbar ist, auch und gerade dann, wenn es eine Institution wie das kollektive Bischofsamt gibt, das sich zur Feststellung der Wahrheit berufen sieht und sehen muss. Denn das bischöfliche Amt hat nicht und definiert nicht die Wahrheit, sondern dient und unterliegt ihr, weil die Wahrheit in der zeitübergreifenden Kirche lebt und ihre Wahrung der zeitübergreifenden Gemeinschaft der Bischöfe aufgegeben ist. Und es ist das Amt, das diese Würde trägt und symbolisiert auch dann, wenn einzelne Amtsträger dieser Würde in der einen oder anderen Weise nicht gerecht werden. Das Amt ist größer als die Person, und die Gemeinschaft des Amtes in jeder Zeit größer als die gegenwärtigen Vertreter.
„Bewusstsein unverfügbarer Wahrheit ist erhaben“
Das kirchliche Amt nach katholischem Verständnis ist eine große Idee. Das sollte nicht nur den Kirchengliedern klar sein, die vielleicht unter der Kirche der Gegenwart leiden. Sondern das muss einer Gesellschaft insgesamt klar sein. Selbst wenn dieser Gesellschaft inhaltlich vieles fremd bleibt, was die katholische Kirche durch ihr kollektives, zeitübergreifendes Amt lehrt und lebt: Das Bewusstsein unverfügbarer Wahrheit, die nicht zur Disposition stehen kann, ist (die Anspielung auf Kant sei mir gestattet) erhaben. Sie muss – unbeschadet des immer möglichen inhaltlichen Widerspruchs – auf allen Seiten und bei allem inhaltlichen Widerspruch – immer zumindest auch ein Gefühl der Achtung hervorrufen. Und nicht die Höflichkeit, sondern diese theologisch gebotene Achtung muss auch von protestantischer Seite gewahrt bleiben. Die von Kollegen Dabrock empfehlend in Erinnerung gerufene Ablehnung einer Einladung des Kölner Kardinals Woelki durch die Kirchenleitung der Rheinischen Kirche ist, um es mit der nötigen Unhöflichkeit zu sagen, eine ganz grobe Fehlentscheidung.
9. Und by the way: Das auch vom Kollegen Dabrock herumgereichte Bild einer Amtsinstitution, die „nur floskelhafte, im Handeln ganz unangemessene Reaktionen auf den größten Skandal ihrer neueren Geschichte, den Skandal um die sexualisierte Gewalt, ihre halbherzige Aufarbeitung“ böte, ist angesichts dessen, was die katholische Amtskirche, gerade Kardinal Woelki (!) getan hat und tut, keine Unhöflichkeit, sondern eine eklatante Unwahrheit. Die Behauptung weckt zudem die Frage, ob wir Protestanten uns das wirklich leisten können. Wer mit Steinen schmeißt, sollte sich vergewissert haben, dass er nicht im Glashaus sitzt!
10. Der Katholizismus ist aus meiner Perspektive eine – eine! – legitime Antwort auf die Frage, die dem Christentum wie jeder anderen Wahrheitsüberzeugung aufgegeben ist: die Frage, wie die Entscheidung über die Wahrheit sich verbinden kann mit dem Bewusstsein, dass die Wahrheit nicht zur menschlichen Verfügung steht, sondern jeder menschlichen Anerkennung vorgegeben und entzogen ist. Diese Größe und die Legitimität des Katholizismus anzuerkennen ist kein protestantischer Akt der Höflichkeit, zumal sie nicht auf eine entsprechende Anerkennung der Legitimität des Protestantismus – gar des liberalen – durch die Katholische Kirche abzielt. Es ist vielmehr gerade die Größe der Katholischen Kirche, dass sie sich selbst nicht als eine Spielart des Christentums verstehen will und kann, sondern als die Institution, in der allein die Wahrheit des Christentums bewahrt wird. Dem kann man theologisch widersprechen – aber man kann dieser Katholischen Kirche die Achtung nicht versagen.
Notger Slenczka
Notger Slenzcka, geboren 1960, ist seit 2006 Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Humboldt-Universität in Berlin.