Originell

Neues von Lutz Rathenow

Der Dichter Lutz Rathenow gehört in seiner angenehmen Ungefälligkeit und unterentwickelten „Ostalgie-Neigung“ zu den interessantesten Erscheinungen des ehemaligen ostdeutschen Literaturspektrums. Er war DDR-Dissident und wurde später Sachsens Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Seine eigene Stasiakte umfasste allein 15 000 Seiten.

Es ist das Interesse an Menschen und Geschichten, das Rathenow antreibt und ihn aus der Masse hervorhebt und ihn zum brillanten Chronisten macht. Humor ist für ihn sehr wichtig. Besonders bei Ereignissen, die sehr düster sind, kann leiser Humor die Finsternis des Geschehens in den Geschichten erhellen, wie Sterne die Nacht, und auf das Wesentliche hinweisen.

Lutz Rathenow besitzt das Talent, sich in seine Mitmenschen hineinzudenken und zu übersetzen, was in den Köpfen und Vorstellungswelten der von ihm geschilderten Menschen vorgeht. Deshalb ist er ein begnadeter Dichter und besaß als Stasibeauftragter die notwendige Sensibilität für diese schwierige Arbeit. Der Leser nimmt das Gelesene durch Rathenows Fähigkeit, um die Ecke zu denken, wie durch ein deformiertes Prisma wahr und befindet sich manchmal wie in einem Spiel aus Phantasie und Wirklichkeit. Auch die vielen unveröffentlichten Texte schlagen die Leser in ihren Bann.

Er geht chronologisch vor und beginnt in der Zeit, in der seine kleine Schwester geboren wird. Manchmal springt er durch die Zeiten und verbindet seinen erzählerischen Zugriff auf das Heutige und das Erinnernde brillant mit Andeutung und Anekdote. Er ist ein guter Beobachter und sieht auch in den kleinsten Dingen den Geist der Zeit. „Menschen laufen forschend durch die Kaufhallen. Suchten sie früher Westprodukte oder selten angebotene Waren, so versuchen sie heute, etwas aus der einheimischen Produktion preiswert zu ergattern. Alles ändert, wendet und windet sich.“

Der Elfenbeinturm, in dem einige Dichterkollegen sitzen mögen, ist ihm fern. Er bleibt aufmerksam in alle Richtungen. Und so empfängt er Signale, die an anderen vorüberrauschen. Nicht etwa eine nur phantasiebeflügelte dichterische Willkür, sondern die nachgewiesene Kausalität von Ursache und Wirkung auf erlebter Realitätsebene machen die bedeutende Qualität des umfangreichen Werkes von Lutz Rathenow aus, wie der Leser beim Nachdenken über den Sinn der Geschichten bemerkt. Sein Leben durch Geschichten dem Leser nahezubringen und dabei Brücken von einem Stichwort zum anderen zu schlagen, gelingt Rathenow spielend. Der eigensinnige Autor hat bis heute seinen unverwüstlichen Optimismus behalten.

„Für die Position eines gesamtdeutschen Aufklärers taugt der Autor wohl dennoch nicht, zu groß bleibt die vertrackte Freude am Aufspüren des Grotesken, Verkanteten, Inkommensurablen. Zur Schläfrigkeit eingefahrener Wahrnehmungen bleiben Lutz Rathenows changierende Texte auch weiterhin ein effektives Antidot“, schreibt Marko Martin in seinem Nachwort. Lutz Rathenow hat seinen Lesern und sich selbst zu seinem 70. Geburtstag mit dem Buch ein originelles und schönes Geschenk gemacht.

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