Polarisierung

Ein psychologischer Blick

Kaum etwas hat seit 2015/16 zu dermaßen erregten Debatten beigetragen wie die Frage nach der Integration geflüchteter Menschen. Gegenseitige Vorwürfe: „Naive Gutmenschen“ gegen „verkappte Nazis“ prägen die Wahrnehmung. Ist damit die Spaltung der Gesellschaft und die Beschädigung der Demokratie unvermeidbar? Nein. Sagt ein neues Buch, das von der Arbeits- und Organisationspsychologin Christel Kumbruck herausgegeben wurde. Es beruht auf Gesprächen mit Engagierten pro und contra Flüchtlingsaufnahme, die in einem Forschungsprojekt gemeinsam mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD geführt wurden. Es gebe genügend Ansatzpunkte für Gemeinsamkeiten, aber sie würden wegen der starken Polarisierung überlagert. Sofern aber Abwertungen vermieden würden, gebe es Chancen. Allerdings setze das eine „Portion Gelassenheit“ voraus, Ambiguitätstoleranz, die es braucht, um dem Anderen Anerkennung zukommen zu lassen.

Und genau so verfährt das Buch. Von Anfang an bleiben die Autoren dabei, die unterschiedlichen Diskursmuster als solche zu beschreiben und nicht zu bewerten. Sichtbar werden so subjektive Deutungen auf allen Seiten und niemals die Wahrheit. Vielmehr artikulieren beide Seiten diskussionswürdige Aspekte der Situation: die Verpflichtung zur Hilfe für Menschen in Not die einen – die Sicht auf die Grenzen der Möglichkeiten zu helfen die anderen. Die Zugehörigkeit zur Gruppe von ähnlich Gesinnten, das Befangen-Sein in unterschiedlichen Denkwelten, auch Vorurteile und blinde Flecken gehören zu den Voraussetzungen jedes Engagements und können deswegen nicht einfach der jeweils anderen Seite angekreidet werden. Das Buch hält diese Perspektive konsequent durch und listet eine ganze Reihe von hilfreichen „praktischen Schritten in eine Dialogkultur“ für Engagierte auf.

Was die Protagonisten anbetrifft, so ordnen die Autorinnen diese gemäß der gesellschaftlichen Differenz zwischen „Traditionalisten“ und „Kosmopoliten“ mit den Werten der Erhaltung beziehungsweise der Offenheit zu. Beide Milieus entstammen den Mittelschichten, wobei die Abstiegsangst der klassischen und das Aufstiegsbestreben der neuen Mittelschicht das Feld strukturieren. In beiden Bereichen stoße man auf höchst „instabile Emotionshaushalte“, was sich in Wut, Angst, Angeberei, Aufwertung der einen und Abwertung der anderen äußern könnte. Progressive Selbstverwirklichungsemotionen kippen in Ressentiments um.

Eindrucksvoll ist die Analyse der Gespräche. Entscheidend: In ihnen finden sich geteilte Vorstellungen eines guten Lebens für alle, nämlich friedlich und freiheitlich zusammen zu leben, mit Vertrauen in den Staat, ohne Kriminalität, ohne Clanstrukturen staatsfeindlicher Minderheiten und mit verbindlichen Regeln des Zusammenlebens. Brückenbauer könnten auf der Basis einer solchen „Konsensbildung durch ein gemeinsames Oberziel“ Verständigung erreichen.

Das Ziel wäre nicht eine multi-, sondern eine plurikulturelle Gesellschaft, welche „von den Menschen der verschiedenen Kulturen den höchsten Aushandlungsbedarf und damit auch die höchste Verantwortung für die gemeinsame Gesellschaft fordert“. Kultiviert werden müssten Menschenrechte, aber mehr noch verbindliche Menschenpflichten. Nicht alle sollten gleich sein, aber jeder seinen Platz in der Gesellschaft haben, wird zustimmend Angela Merkel zitiert. Das Verständnis für die je anderen setzt das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Gesellschaft voraus. Wer das einigen Gruppen abstreitet, grenzt sich selbst aus. Bevor es aber dahin kommt, gilt es, jede Perspektive vorurteilslos zu prüfen, und das bedeutet auch, Haltung und Fokus auf Ähnlichkeit statt Abgrenzung zu richten. Nur so ist die gefährliche Polarisierung abbaubar. Was aber macht man mit Menschen, die eine solche Haltung verweigern, zum Beispiel Rassisten?

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