Fundgrube

Pietismus: Gerhard Tersteegen

Der evangelische Theologe Johannes Demandt schreibt aus freikirchlicher Perspektive, in unterschiedlichen frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexten, zwischen denen es „keine bruchlosen Übergänge“ gibt. Der Titel des Buches Evangelium und Lebenshingabe (Gerhard Tersteegen und der frühe Pietismus, die niederrheinische Erweckungsbewegung und die Freien evangelischen Gemeinden) fasst zentrale Anliegen des evangelisch-reformierten Mystikers, Erbauungsschriftstellers, Dichters und Seelsorgers Gerhard Tersteegen (1697–1769) zusammen.

Zunächst behandelt Demandt Tersteegens Rezeption christlicher Mystik. Herausgearbeitet werden die zentralen Anliegen des selbstbewussten Laientheologen und Spiritualisten, seine literarische Kreativität und poetische Begabung, seine Akzentuierung des inneren Erlebens vor den äußeren Zeichen, seine institutionenkritischen Orientierungen, die Impulsen christlicher Mystik folgen und sich auf die individuelle Erfahrung göttlicher Nähe konzentrieren. Als biografischer Wendepunkt wird von Demandt Tersteegens „Blutbrief“ aus dem Jahr 1724 dokumentiert und interpretiert, in dem dieser sich seinem „Heiland und Bräutigam Christo Jesu“ zum „völligen und ewigen Eigenthum“ verschreibt (vergleiche zz4/2019).

Ein besonderes Augenmerk legt der Verfasser auf Tersteegens ekklesiologische Orientierungen. Er kommuniziert anerkennend mit täuferisch gesinnten Christinnen und Christen und macht „katholische Glaubensvorbilder für den protestantischen Bereich literarisch bekannt“. Bei Tersteegen finden sich Ansätze einer ökumenischen Spiritualität, die auf dem Hintergrund seines von „Sanftmut“ gekennzeichneten Lebenswerks zu verstehen sind.

Der zweite Teil des Buches thematisiert Erweckungsbewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in regionalen Kontexten. Der Verfasser fragt dabei nach Rezeptionen Tersteegens in verschiedenen Kreisen und Orten. Zugleich kommt in diesem Teil des Buches die Internationalität von erwecklichen Bewegungen in den Blick wie unter anderem in Frankreich, der Schweiz und Britannien.

Auf Gründungsgestalten der Freien evangelischen Gemeinden geht Johannes Demandt im letzten Teil des Buches ein, zuerst auf den Laientheologen und Kaufmann Hermann Heinrich Grafe (1818–1869), aber auch auf den klassisch ausbildeten Theologen Friedrich Heinrich Neviandt (1827–1901), der zum ersten Prediger der Freien evangelischen Gemeinde in Barmen/Elberfeld berufen wurde. Grafe und Tersteegen werden in ihren Anliegen, in ihren sozialen und religiösen Kontexten vergleichend aufeinander bezogen. „Die erste Generation der Freien evangelischen Gemeinden“ stand „in der Tradition der von Tersteegen und seinen Freundeskreisen geförderten erwecklichen Verkündigung“, ging „jedoch in der Gemeindefrage einen deutlichen Schritt über Tersteegen hinaus.“ Der entscheidende Grund für das Verlassen der evangelisch-reformierten Kirche war für Grafe, Neviandt und andere die Suche nach der Gemeinschaft der entschieden Glaubenden und Bekennenden und die aus ihrer Sicht fehlende Kirchenzucht in der Abendmahlspraxis.

Demandt zeigt sich in diesen Darlegungen als herausragender Kenner der Entstehungsgeschichten freikirchlicher Gemeinschaftsbildungen. Das Konventikelwesen (ecclesiola in ecclesia) in landeskirchlichen Kontexten und in separatistischen Ausdrucksformen hatte das Potenzial zur freikirchlichen Verselbständigung. Die politischen Rahmenbedingungen gab es dafür seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Demandts Publikation stellt insofern eine Ergänzung zu dem vierbändigen opus magnum zur Geschichte des Pietismus (abgeschlossen 2003) dar, in dem das Thema Freikirchen keine angemessene Bearbeitung fand.

Trotz umfangreicher Anmerkungen und zahlreicher Zitate im Text sind Demandts Ausführungen gut lesbar. Das Buch ist eine Fundgrube zum Verstehen von Prozessen der Binnendifferenzierung im protestantischen Erweckungschristentum. Bilder seiner Repräsentantinnen und Repräsentanten und der Orte ihrer Wirksamkeit unterstreichen und unterbrechen die Textfülle. Der Anhang hätte übersichtlicher dargestellt werden können. Ein Personen- und Sachregister, ebenso ein Verzeichnis der relevanten Orte erwecklicher protestantischer Bewegungen erleichtern den Zugang zum Ganzen und geben wichtige Hinweise.


 

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