Selbstbeziehung

Philosophische Betrachtungen

Der Philosoph Dieter Henrich ist am 17. Dezember 2022 im Alter von nahezu 96 Jahren gestorben. Welche geistige Frische ihm bis ins hohe Alter geschenkt war, demonstrierte er noch im Jahr 2021 mit einer hinreißenden philosophischen Autobiografie unter dem Titel Ins Denken ziehen.

Was er ins Denken ziehen wollte, wird schnell deutlich: das eigene Leben in der Spannung zwischen Verheißung und Fragilität. Nachdem drei Schwangerschaften der Mutter unglücklich verlaufen waren, kam er zur Welt. Seine Geburt stellte für die Eltern eine Erlösung dar, der die Angst angesichts langer Krankheitszeiten jedoch bald folgte. Er sei, so erwägt er später, nur Philosoph geworden, weil er mit einer so hohen Erwartung an das eigene Überleben konfrontiert war. Sie verstärkte sich dadurch, dass der Vater starb, als der Sohn erst elf Jahre alt war. Den Abschiedssegen des Vaters nahm er als einen Auftrag für das eigene Leben, auch für sein Philosophieren. Als er dreißig Jahre alt war, starb seine Mutter. Im Bedenken ihres Todes stieß er auf den Satz im 1. Johannesbrief: „Furcht ist nicht in der Liebe“. Ihn ließ er auf den Grabstein der Verstorbenen meißeln. Dieser Satz ließ ihn nicht mehr los. Ihm widmete er die Schrift, die seine letzte werden sollte.

Dieter Henrich, in Marburg geboren und aufgewachsen, kannte den großen Exegeten Rudolf Bultmann gut und hörte zu Beginn seines Studiums dessen Vorlesungen; hatte sogar Zugang zu dessen Schülerkreis, den „alten Marburgern“. Doch in seiner Schrift zu dem Satz auf dem Grab seiner Mutter erwähnt er Bultmanns Kommentar zum 1. Johannesbrief ebenso wenig wie dessen weit berühmtere Auslegung des Johannesevangeliums. Bultmanns Auffassung, der Brief stamme nicht vom selben Verfasser wie das Evangelium, bleibt schon aus diesem Grund unerwähnt.

Der von Henrich gewählte, eigenwillige Deutungsansatz sieht von der „Gotteslehre“ des Johannes vollkommen ab. Die Grundlage dafür findet der Philosoph in seiner Theorie des Selbstbewusstseins, die er in vielen Anläufen entfaltet und 2019 in dem Buch Das Ich, das viel besagt anhand einer detaillierten Fichte-Interpretation abschließend dargelegt hat. Fichte, so zeigt Henrich, geht es darum, dass „die Sachverhalte, die mit dem Wort ‚ich‘ angezeigt werden“, eine Selbstbeziehung einschließen, „innerhalb derer von ihr selbst Wissen besteht“.

Diese wissende Selbstbeziehung des Ich wird Selbstbewusstsein genannt. Die Folge für die Beschäftigung mit dem Satz des Johannes besteht darin, dass die Liebe nicht dem Selbstbewusstsein vorgeordnet werden kann. Jedoch vermag dieses das Bewusstsein einer innigen Gemeinschaft einzuschließen. In diesem Bewusstsein tritt die Furcht vor allem, was das eigene Leben bedrohen und beschädigen könnte, zurück. Diese Erfahrung bringt der Satz des Johannes in einer ebenso knappen wie scheinbar einleuchtenden Weise zum Ausdruck.

Wie dessen Fortsetzung – „denn die vollkommene Liebe treibt die Furcht (aus dem Leben) aus“ – zeigt, enthält der johanneische Liebesbegriff einen höchst problematischen Anspruch. Der Philosoph hält dagegen: „Ganz ohne Furcht kann die Liebe der Endlichen nicht sein.“ Da Dieter Henrich einerseits den Gottesbezug des Johannes auf sich beruhen lassen will, andererseits aber die Überlegenheit der Liebe über die Furcht festhalten möchte, knüpft er an die platonische Ideenlehre an, um derjenigen Hoffnung Raum zu geben, die über die Möglichkeiten endlicher Subjekte hinausgeht. Die Auslegung des johanneischen Satzes durch den Philosophen ist gleichwohl nicht nur für Platoniker, sondern auch für diejenigen lehrreich, die den theologischen Gehalt dieses Satzes nicht auf sich beruhen lassen.

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Foto: epd

Wolfgang Huber

Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.


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