Andrea Wulf, in London lebende Bestsellerautorin aufklärerischer Sternstunden der Erkenntnis, hat mit Fabellhafte Rebellen eine kurzweilige Geistesgeschichte der Frühromantik geschrieben.
Faktenreich lädt sie in vier Kapiteln für zwölf Jahre (1794–1806) ins Zentrum elektrisierende, Kreativität nach Jena, das mit seiner Entdeckung und Emanzipation des Ich die ganze Welt weckt. Sie stellt Fragen nach dem „Verhältnis zwischen den atemberaubenden Möglichkeiten des freien Willens und den Fallstricken des Egoismus … zwischen dem Tunnelblick der individuellen Perspektive und dem Glauben an eine Veränderung zum Wohle der Allgemeinheit“. So macht sie die Jenaer Rebellen um Caroline Schlegel-Schelling ambitioniert lebendig. Antworten muss man bei Goethe und Schiller, Fichte und Schelling selbst suchen.
Denn ein Wesentliches für heute bleibt ungesagt: Nur das unterdrückte Ich führt zu Egoismus und Narzissmus, weil ihm elementarer Mangel zugrunde liegt – siehe Schillers Räuber. Hingegen ist das erfüllte Ich Grundlage sozialen Verhaltens, weil dieses Ich geben kann und will. Das gezeichnete, moralisch konkurrierende Bild Individualität/Ich versus Gesellschaft/Wir unterschätzt deren Verbindung: Das Ich nährt das Wir, weil es die Aufgabe, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, als Kraft begreift und zu leben fähig wird.
Mark Bremer ist die stimmige Stimme dieses Buches, dieser fast 17 Stunden Lesezeit. Er bringt den angelsächsischen Duktus souverän in Fluss und macht Unerhörtes unaufgeregt hörbar. Aber auch für eine Lesung gilt: Pausen sind auch Musik. Dem präzisen Tonfall hätte eine Regie gut getan, die die Zäsuren des Buches mit tatsächlich innehaltenden Atemzügen zu Wort kommen lässt. Dafür kann man selber lesen.
Klaus-Martin Bresgott
Klaus-Martin Bresgott ist Germanist, Kunsthistoriker und Musiker. Er lebt und arbeitet in Berlin.