Hirt und Nachtigall

Jacob van Eycks Flötenlust

Während Dokumentationen, Statistiken und Datenbanken ins schier Unermessliche wachsen und die Regale dieser Welt zu überfüllen drohen, reduziert sich die Fülle des lebendig Kreativen zunehmend auf jeweils leicht verdauliche Kompaktheit: Romane begnügen sich mit 200 Seiten, Songs mit zwei Minuten. Sie sollen möglichst schnell lesbar sein und möglichst oft geklickt werden können, um über Ranking und Voting erfolgreich einen Platz in der kommerziell sorglos gesättigten Schnelllebigkeit zu ergattern. All dieser ernüchternden Aktualität zum Trotz platzt Simon Borutzki, international geachteter Grandmaster der Blockflöte, mit einer 7-CD-Box in die Zeit: einer Gesamteinspielung des „Fluyten Lust-hofs“ von Jacob van Eyck. Knapp acht Stunden Musik. Also: Blockflöte. Solo.

Ist der Kerl verrückt? Ja: Das ist er! Begeistert und verrückt – aber dabei technisch und dramaturgisch, pulmonal und manual so genial, dass das Verrückte auf der einen Seite Entrückung auf der anderen nach sich zieht. Begünstigt wird das alles durch mehrere glückliche Faktoren. Zum einen unterliegen alle diese auf Volksweisen und Psalmmelodien, Madrigalen und Chorälen basierenden Kleinode, die der von Geburt an blinde Komponist Jacob van Eyck selbst des Sonntags wie ein Straßenmusiker dem lustwandelnden Publikum im weiträumigen Janskerkhof seiner Heimatstadt Utrecht spielte und hernach diktierte, um sie veröffentlichen zu können, keiner zwangsläufigen Folge, die eine Langzeitversenkung abverlangt. Alle diese im Booklet treffend so benamten Hits der 1630er, 1640er und dem Besten von damals überhaupt lassen sich nach Belieben auch einzeln hören – wie etwa „Doen Daphne d’over schoone Maeght“. Zum anderen weiß Simon Borutzki diese Gelassenheit und Offenheit für alle Schönheit stiftende Abwechslung noch einmal zu potenzieren, indem er mehrere Flöten für diese Einspielung nutzt. Zwei? Fünf? Zehn? Nein: 26 Flöten – alle von dem bekannten Schweizer Blockflötenbauer Sebastian Meyer –, mit denen er die Vielfalt der Melodien, ihre Charaktere und Farben effektvoll in Szene setzt. Und alles, was da klingt, schmeichelt und schmeckt den Ohren aufs Beste. Aller Anfang und Lockvogel zum Hinhören ist jeweils die ursprüngliche Melodie selbst – dann geht es in das Labyrinth der Variationen, quicklebendig aufleuchtende Sternbilder, hinter denen die Frage aufleuchtet: Ist es freie Improvisation? Durchkomponierte Interpretation? Oder beides?

Hat man van Eyck spielend vor Augen, den hörend Spielenden, dann wird schnell offenbar, dass alles im Fluss und in der perlenden Lebendigkeit jene Flexibilität hat und braucht, die sich nicht bis ins letzte Detail im Notentext fixieren lässt. Dieser Herausforderung begegnet Simon Borutzki dank seiner profunden Kenntnis historischer Praxis und eigenen Spielfreude mit begeisternder Bravour.

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