Eine zersägte Kanzel reicht nicht

Eine evangelische Predigt will den Menschen in eine selbstkritische Bewegung bringen

Als ich als junger Theologiestudent es erstmals wagte, einen Gottesdienst zu gestalten, fragte mich danach eine ältere Dame, warum ich nicht auf die Kanzel gestiegen sei. Keine Scheu, auch nicht mangelndes Selbstbewusstsein, wohl aber die Ahnung, noch gar nicht zu wissen, was eine Predigt ist, führten zum Verzicht. Nun las man von einer Kanzel im Kanton St. Gallen, die nicht nur nicht betreten, sondern zersägt worden ist (zz 03/22), und fragt sich, ob damit vielleicht ein Urteil über die Predigten verbunden sei, die auf dieser Kanzel gehalten worden sind. Oder man assoziiert die Redewendung des Astes, auf dem einer sitzt, der an ihm sägt.

Eine Predigt, die nicht sorgfältig verfasst und mit großem Ernst gehalten wird, um die Botschaft des Evangeliums Jesu Christi anzusagen, ist tatsächlich belanglos und überflüssig. Denn das Evangelium als «Wort vom Kreuz» will nicht einfach etwas Informatives oder Spannendes mitteilen, sondern will den Menschen in eine selbstkritische Bewegung bringen, will ihn kehren und verändern. Wenn Jesu Predigt mit dem Ruf beginnt: «Kehrt um!», das heißt: Kehrt aus der Selbstbehauptung um zur Existenz für Gott und den Nächsten, so bedeutet das gerade nicht im landläufigen Sinn: Ändere dein Verhalten, handle richtig. Eine solche Änderung wäre ja bloß eine moralische Anstrengung des Ich.

Für Appelle, Ermahnungen und Verbesserungsvorschläge, die sich an die Selbstverwirklichung und das Handeln des Menschen richten, braucht es kein Evangelium. Solange wir Menschen unser Leben von uns aus leben, um sich herum kreisend, existieren wir faktisch und in den Vollzügen des Lebens ich-orientiert, auch wenn wir uns angeblich für eine «bessere Welt» einsetzen. Der Appell: Ändere dein Leben! ändert daran gar nichts, verschafft aber dem Redner ein überlegenes Gefühl.

Rastlose Werkstatt

Die an das Tun und Handeln gerichteten Appelle, deren Wirkungslosigkeit allein schon zu denken geben müssten, führen tiefer in die Spirale der Selbstverwirklichung hinein. Die Bürde, die der Mensch sich selber ist, wird er so nie und nimmer los. Gefesselt und geschmiedet ans eigene Treiben und an die eigenen Taten, lebt er, so Hölderlin im «Archipelagus», in einer tosenden, also hyperaktiven und rastlosen Werkstatt, in der sich jeder nur selber hört, und wohnt in der Finsternis des Orkus.

Dagegen ruft die Predigt des Evangeliums ins Offene, zu einer Kehre des ganzen Menschen, seiner Existenz in allen ihren Vollzügen und Relationen. Die entscheidende Frage ist also: Wodurch wird diese Umkehr bewirkt? Durch mich selber, durch die moralische Anstrengung und besseres Handeln? Oder aber durch das Reich Gottes, dessen Nähe und Gegenwart Jesus verkörpert? Die Umkehr und Befreiung des Menschen von der Bürde, die er selbst ist, wird durch das Wort Gottes bewirkt. Der Hörer wird in der Predigt darauf angesprochen, diese Wirkung konkret an sich zuzulassen.

Das Reich Gottes ist ja das Reich seiner Liebe und seiner freien Gnade. Wenn einer also durch die Nähe und Gegenwart Gottes in die Umkehr kommt, dann wird er durch die Liebe gehalten; so gehalten, wird möglich, was er von alleine und aus sich heraus nicht zuzugeben vermöchte: dass er seiner selbst nicht mächtig ist, dass er nicht Herr im eigenen Haus und darum der Gefangene seiner selbst ist, dem die Befreiung von außen notwendig ist.

In der Kehre

Wenn Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene durch die evangelische Predigt wirklich in diese Kehre kommen, ihr Leben nicht mehr von sich aus leben, sondern von Gott her und auf Gott hin, für Gott und für den Nächsten, dann ändert sich die Welt sozial, politisch, ethisch. Aber dazu bedarf es der Predigt, die dem Wort Gottes dient, das Wort vom gekreuzigten Christus ansagt und so die Hörerschaft in eine selbstkritische Bewegung bringt. Die biblischen Texte erzählen, wie man das tun kann, nämlich so, dass jeder merkt: Wenn ich erkenne, wer ich in Wahrheit bin, wie ich wirklich und faktisch existiere, wenn ich meine Beziehungslosigkeit anerkenne, dann erst wird mir Zukunft eröffnet, dann erst komme ich ins Offene. Diese Abkehr des Menschen von sich selbst und die Hinkehr zu Gott und zur Welt will auch das Wort Jesu bewirken: «Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.» Das ist der Sinn der Predigt – ob zur besseren akustischen Verständlichkeit auf der Kanzel gehalten oder am Abendmahlstisch oder am Ambo, ist dabei völlig zweitrangig.

Eine Predigtsprache zu finden, die tief eindringt in das Geheimnis einer von Gott, vom Reich seiner Liebe und Gnade bestimmten Sprache, ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, wie jeder Prediger aus Erfahrung weiß. Sie gelingt wohl am ehesten, indem man sich die Gedanken und Einfälle vom Bibeltext zuspielen lässt – wie ein Musikinstrument, das zum Klingen gebracht wird – und als erster Hörer seiner eigenen Predigt fungiert. Fühle ich mich als Prediger unmittelbar angesprochen, so gelingt es vermutlich, auch andere anzusprechen. 

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