Dialektische Trunkenheit

Die Anfänge der Frankfurter Schule vor 100 Jahren
Gruppenfoto der Männer und Frauen, die an der „Ersten Marxistischen Arbeitswoche (EMA)“ teilnahmen.
Foto: Marxists.org CC BY-SA 3.0
Gruppenfoto der Männer und Frauen, die an der „Ersten Marxistischen Arbeitswoche (EMA)“ teilnahmen.

Im Frühling 1923 traf sich in einem Bahnhofshotel in Thüringen eine Gruppe junger Menschen zwischen 20 und 30 Jahren, die den Wunsch hatten, den Marxismus in wissenschaftlicher Weise weiterzuentwickeln. Das war der Beginn der „Frankfurter Schule“, die sich der Dialektik als Denkmethode bediente. Ein Fehler, der korrigiert werden müsste, meint Eberhard Pausch, Studienleiter für Religion und Politik an der Evangelischen Akademie Frankfurt/Main.

Ein reicher alter Mann (der Weizenspekulant Weil) stirbt, beunruhigt über das Elend auf der Welt“, so der Dichter Bertolt Brecht im Jahr 1942: „Er stiftet in seinem Testament eine große Summe für die Errichtung eines Instituts, das die Quelle des Elends erforschen soll. Das ist natürlich er selber.“ Wenn man in eher zynischer Form die Vorgeschichte des Instituts für Sozialforschung beschreiben möchte, dann vielleicht in diesen Worten.

Denn so ähnlich war es tatsächlich: Da gab es den Sohn des deutsch-argentinischen Millionärs Hermann Weil, einen Mäzen namens Felix Weil (1898–1975). Er war im Ersten Weltkrieg zum Sozialisten geworden. Sein Vater, mit jüdischen Wurzeln und eher konservativ gesinnt, ließ sich vom Sohn auch infolge der Ermordung des Außenministers Walter Rathenau durch die radikale Rechte im Jahr 1922 motivieren, eine erhebliche Summe Geldes als Stiftungskapital für das Institut zur Verfügung zu stellen. Felix Weil blieb danach – und erst recht nach dem Tode des Vaters (1927) – der entscheidende Förderer der erst später sogenannten „Frankfurter Schule“.

Aber 1922/23 wurde nicht nur sehr viel Geld in den Aufbau einer Forschungsinstitution investiert, sondern vor allem auch viel Hoffnung auf eine bessere, friedlichere, gerechtere Welt. Diese Welt sollte unter dem Vorzeichen des Sozialismus stehen. Vor diesem Hintergrund traf sich im Frühling 1923 unter dem Titel „Erste Marxistische Arbeitswoche“ (EMA) in einem Bahnhofshotel in Geraberg bei Arnstadt (Ilmenau/Thüringen) eine Gruppe junger Menschen zwischen 20 und 30 Jahren, die den Wunsch hatte, den Marxismus in wissenschaftlicher Weise weiterzuentwickeln. Dies allerdings jenseits der totalitären Versuchung, die sich in der Sowjetunion als Stalinismus inkarnieren sollte, aber auch jenseits der revisionären Gestalt des Sozialismus, die sich die deutsche Sozialdemokratie gegeben hatte. Auch wenn einige KPD-Mitglieder dabei anwesend waren, verstand sich das achttägige Treffen nicht als parteipolitisch.

1923 war für viele Deutsche ein chaotisches und unfriedliches Jahr. Da gab es den „Ruhrkampf“, in dem die Reichsregierung die Bevölkerung zu „passivem Widerstand“ gegen die französische Besatzung aufrief. Da gab es Umsturzversuche von beiden Seiten des politischen Spektrums. Die Inflation nahm außerdem im ersten Halbjahr 1923 schon einmal Anlauf, um im Herbst des Jahres heftig zu galoppieren. Nur folgerichtig sollte sich am 9. November in München der „Hitlerputsch“ ereignen, dessen tatsächliche Relevanz erst sehr viel später deutlich wurde. In dieser unruhigen Zeit fand die erste, inoffizielle Tagung der Frankfurter Schule statt.

Auch sieben Frauen

Unter den etwas mehr als 20 jungen Intellektuellen waren auch sieben Frauen. Da ihre Namen oft in der Darstellung übergangen werden, seien sie hier zuerst genannt: Gertrud Alexander, Hedda Korsch, Margarete Lissauer, Hede Massing, Christiane Sorge, Käthe Weil, Rose Wittfogel. Alle waren sie begabt und wissenschaftlich interessiert, und eine von ihnen, Hedda Korsch, sollte später sogar eine Professur erlangen. Von den männlichen Teilnehmern seien vorweg zwei Personen erwähnt, weil sie während des „Dritten Reiches“ gewaltsam ums Leben kamen: Eduard Ludwig Alexander wurde 1945 von den Nationalsozialisten ermordet, und Richard Sorge, der zur EMA eingeladen hatte und später Institutsmitarbeiter war, wurde in Japan hingerichtet, weil er in den 1940er-Jahren dort als Spion für die Sowjetunion gearbeitet hatte. Die anderen männlichen Teilnehmer der Arbeitswoche überlebten die Zeit des „Dritten Reichs“, die meisten von ihnen als Exilanten in den USA.

Unter den Anwesenden waren (außer dem Finanzier Felix Weil) die marxistischen „Star-Theoretiker“ Karl Korsch und Georg Lukács, ebenso Konstantin Zetkin, ein Sohn von Clara Zetkin und zeitweiliger Geliebter von Rosa Luxemburg, sowie Karl-August Wittfogel, der bis in die späten 1930er Jahre hinein Mitarbeiter des Instituts sein würde und dessen Forschungsinteresse der ökonomischen Entwicklung Chinas galt. Die beiden ersten Institutsleiter Carl Grünberg (1861–1940, Direktor von 1924 bis 1931) und Max Horkheimer (1895–1973, Direktor von 1931 bis 1964) waren dagegen nicht auf der Tagung präsent, ebenfalls nicht der später so bedeutsame Theodor W. Adorno (1903–1969). Aber Friedrich Pollock (1894–1970) war vor Ort, der engste Freund Max Horkheimers. Er sollte der eigentliche Organisator des Instituts werden, blieb aber, obwohl auch er ein exzellenter Wissenschaftler war, meist im Hintergrund.

Wenigstens drei Impulse aus der EMA wurden für die folgende Zeit bestimmend. Erstens: Ausgangspunkt war der Marxismus im Rahmen einer „materialistisch-ökonomisch“ ansetzenden Philosophie. Er wurde im Institut, obwohl einige seiner Angestellten KPD-Mitglieder waren, alles in allem sehr kreativ und unorthodox interpretiert. Das Institut verstand sich als wissenschaftliche Einrichtung und nicht als Brutstätte irgendeiner „Ideologie“. Im Gegenteil blieb es in allen Phasen seines Wirkens gegen Ideologien jeder Herkunft kritisch eingestellt. Ihm eignete stets ein emanzipatorischer Zug an: das Streben nach immer weitergehender Befreiung des Individuums und der Gesellschaft. Die „Frankfurter Schule“ war in allen ihren Phasen eine Schule der Freiheit, im bewussten und konsequenten Gegenüber zu totalitären Denkweisen, Systemen und Staatsformen.

Zweitens: Als eine wesentliche Denkmethode betrachtete man von Anfang an im Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx die sogenannte Dialektik. Aber was war damit gemeint? Ging es nur um eine Methode der Argumentation, durch die sich ein Diskurs zwischen These und Antithese in Richtung Erkenntnis fortbewegte? Ging es um die Wahrnehmung von dynamischen Ambivalenzen in bestimmten Gegenstandsbereichen – dies könnte man als „Realdialektik“ bezeichnen? Oder produzierte man in den eigenen Argumentationen logische Widersprüche oder nahm diese zumindest in Kauf? Dies blieb nicht nur in den Anfängen der „Frankfurter Schule“ vielfach unbestimmt und ungeklärt. Die Hegelsche Dialektik machte von jeher Generationen von Denkenden trunken, nicht nur auf der linken, sondern auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Einerseits wissenschaftlich, andererseits dialektisch denken zu wollen, dies war von Anfang an eine Schwäche und Aporie der Frankfurter Schule.

Jedoch verstand sie sich, drittens, schon sehr früh als eine offene Denkbewegung, die in der Lage war, interdisziplinär zu arbeiten und wissenschaftliche Gehalte aus vielen anderen Richtungen und Bereichen zu würdigen und aufzunehmen. So wurde die Psychoanalyse für sie höchst bedeutsam, und Adorno sowie Walter Benjamin importierten Elemente von Kultur- und Musiktheorie. Auch empirische Feldforschungen spielten eine Rolle. Die (evangelische) Theologie wirkte nicht nur am Rande mit, sondern vor allem in der Gestalt von Paul Tillich (1886–1965), der seinerzeit als Nachfolger des (noch vor Dienstantritt) unerwartet verstorbenen Max Scheler auf einen Lehrstuhl für Philosophie an die Universität Frankfurt berufen wurde.

Legendäres „Kränzchen“

Insbesondere Tillich prägte seit 1928 als Vordenker und Integrationsfigur die Frankfurter Schule. Hans-Georg Gadamer berichtet in seinen „Philosophischen Lehrjahren“, wie Tillich einst im Frankfurter Umfeld intellektuell „brillierte“. Wolfgang Martynkewicz wies erst kürzlich wieder auf Tillichs große Bedeutung für das „Café der trunkenen Philosophen“ hin. Denn dieser rief das legendäre „Kränzchen“ ins Leben, das regelmäßig im bürgerlichen Café Laumer mitten im Frankfurter Westend tagte, und er organisierte immer wieder Diskurse im Kreis der jungen Sozialist*innen. So etwa das „Frankfurter Gespräch“ im Juni 1931, in dem die Gruppe der Religiösen Sozialisten um ihn auf Horkheimer, Adorno und Co. traf. Zu einem Konsens über das Verhältnis von Religion und Sozialismus gelangte man damals freilich nicht.

Wichtiger waren zwei institutionelle Weichenstellungen: Tillich beseitigte universitätsinterne Widerstände gegen die Berufung Max Horkheimers zum Direktor des Instituts, die 1931 erfolgte. Auch konnte sich Adorno bei ihm habilitieren, nachdem sein erster Anlauf zur Habilitation einige Jahre zuvor gescheitert war. Mit beiden zusammen führte er Lehrveranstaltungen durch. Dass beide sich (allerdings erst in ihrer Spätzeit) zur „Solidarität mit der Metaphysik“ und zur „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ bekannten, dürfte jedoch wohl kaum allein auf Tillichs Anstöße zurückzuführen sein.

Ironie der Geschichte: Als zur Jahreswende 1932/33 sein Buch Die sozialistische Entscheidung erschien, fiel fast gleichzeitig mit der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers die Entscheidung gegen den Sozialismus, und der linke Sozialdemokrat Tillich verlor als einer der ersten nichtjüdischen Professoren seinen Lehrstuhl. Er ging noch 1933 ins Exil in die USA und empfahl diesen Weg auch den anderen „Frankfurtern“. Das sollte vielen von ihnen das Leben retten.

Der Blick auf die EMA als inhaltliche Ur- und Keimzelle und auf die ersten Jahre der „Frankfurter Schule“ macht deutlich, dass hier ein wissenschaftlich außerordentlich fruchtbares Projekt auf den Weg gebracht wurde, das heute – 100 Jahre nach der Gründung – eine weltweite Ausstrahlung und Relevanz besitzt. Das kürzlich abgeschlossene Forschungsprogramm „Normative Ordnungen“ etwa wäre ohne die Frankfurter Schule nicht denkbar gewesen. In der Gegenwart werden beispielsweise Querverbindungen zwischen Feminismus und „Kritischer Theorie“ (wie Horkheimer seit 1937 das Projekt betitelte) rekonstruiert, und der seit 2021 amtierende Institutsleiter Stephan Lessenich analysiert aktuell die (nicht nur lokal verstandenen) „Grenzen der Demokratie“, den Preis der europäischen „Externalisierungspraxis“ sowie die im Dauerstress befindliche deutsche Gesellschaft.

Allerdings gelingt es der „Frankfurter Schule“ auch heute nur teilweise, in einen konstruktiven Dialog mit modernen Gestalten der Aufklärung, etwa der Analytischen Philosophie und dem Kritischen Rationalismus, zu treten. Das ist umso bedauerlicher, als es ja nicht unerhebliche Gemeinsamkeiten gibt. Zum Beispiel im Bekenntnis zum kritischen, hinterfragenden und zweifelnden Denken. Oder aber im Eintreten für eine offene, freie, grundsätzlich demokratische Gesellschaft, je nachdem mit mehr oder weniger Nähe zum Sozialismus.

Doch vermutlich lag der Fehler schon am Anfang und hat seinen Ursprung in der Auffassung, man könne anstelle der formalen Logik „die“ Dialektik als Denkmethode einführen. Das Paradedokument dieses weitreichenden Irrtums ist die von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfasste „Dialektik der Aufklärung“ (1944). Bis heute wimmeln die Texte von Repräsentanten der „Frankfurter Schule“ von dialektischen Denkfiguren und Redeformen.

Dialektisches Denken

Horkheimer/Adorno etwa schrieben 1944: „Der Satz, dass die Wahrheit das Ganze sei, erweist sich als dasselbe wie sein Gegensatz, dass sie jeweils nur als Teil existiert“ (Horkheimer/Adorno 1944). Der junge Habermas meinte 1963: „Die Reflexion solcher [erkenntnisleitender] Interessen zwingt aber zu dialektischem Denken“, Adorno behauptete 1969: „Gesellschaft als Subjekt und Gesellschaft als Objekt sind dasselbe und doch nicht dasselbe“. Noch Stephan Lessenich spricht von einer „Dialektik der Demokratie“ und einer „Dialektik der Emanzipation“ – nun kann man begründet annehmen, dass er damit nur Ambivalenzen beschreiben will und keine logischen Denkwidersprüche akzeptiert. Aber der im Kontext des Projekts „Normative Ordnungen“ von Christoph Menke 2020 als bedeutsam herausgehobene Satz: „Die kritische Differenz besteht zwischen Nichtbewusstem und Nichtbewusstem“ lässt sich wiederum logisch nicht nachvollziehen. Handelt es sich dabei um bloße Rhetorik? Will der Autor gar nicht verstanden werden? Das hatte der Philosoph Karl Popper (1902–1994), Gründer des kritischen Rationalismus, bereits Adorno vorgeworfen.

Vor hundert Jahren, 1923, war diese Problematik noch nicht im Blick. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der EMA hofften vielmehr darauf, zu einer gerechteren, freieren und friedlicheren Gesellschaft beitragen zu können. In dialektischer Trunkenheit übersah die Gründungsgeneration der „Frankfurter Schule“ eine fundamentale intrinsische Aporie des Marxismus, nämlich die Unvereinbarkeit von strenger Wissenschaftlichkeit und Dialektik im Sinne einer Denkmethode, die logische Widersprüche zulässt.

Vielleicht sollte die künftige „Frankfurter Schule“ den Mut haben, Hegels dialektischen Schatten zu verlassen und mehr Nüchternheit zu pflegen. Das entspräche auch ihrem kritischen Anliegen. Dass dies möglich ist, belegen nicht nur viele Texte von Jürgen Habermas. In seinem Alterswerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019) befasst er sich überdies explizit mit dem Verhältnis von Wissen und Glauben, Philosophie und Religion. Damit schließt er nicht nur in seinem eigenen Werk eine Reflexionslücke. Eine kritische Sozialphilosophie, die sich selbst dezidiert als Wissenschaft versteht und dabei offen wäre für liberale Formen von Religion, könnte in der einen oder anderen Hinsicht etwa an Paul Tillich anknüpfen. Eine solche Philosophie wäre ein anspruchsvolles Projekt, das in Kontinuität stünde zu den Anfängen der „Frankfurter Schule“. Sie würde eine zentrale Aporie vermeiden und könnte eine bedeutende Lücke schließen. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"