Interessante Denklücken

Ernst Troeltsch und seine Vorstellungen von christlicher Mission
Troeltsch behauptet zurecht, dass die Mission keineswegs eine Aktivität „der Kirche“ war. Unser Foto zeigt Missionar Vedder beim Unterricht in Namibia.
Foto: privat
Troeltsch behauptet zurecht, dass die Mission keineswegs eine Aktivität „der Kirche“ war. Unser Foto zeigt Missionar Vedder beim Unterricht in Namibia.

Der Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt, hat sich intensiv mit christlicher Mission beschäftigt. Sein Aufsatz „Die Mission in der modernen Welt“ aus dem Jahr 1906 enthält jedoch nach Ansicht des EKD-Kulturbeauftragten Johann Hinrich Claussen gravierende Wahrnehmungs- und Reflexionslücken.

Es ist eine besondere Freude, wenn man über einen Klassiker, den man recht gut zu kennen meinte, etwas Neues erfährt und so einen Anlass erhält, wieder und anders über ihn nachzudenken. Diese Freude beschert einem die eben veröffentlichte Troeltsch-Biografie von Friedrich Wilhelm Graf im Übermaß. Denn sie breitet viele überraschende, zum Teil auch reizvoll-befremdliche Materialien aus. So erfährt man, dass Troeltschs Frau Marta und ihr Sohn Ernst Eberhard ausgerechnet im Auto von Paul von Hindenburg zu seiner Beerdigung am 3. Februar 1923 fuhren. Warum bloß? Und was hat dieser große Modernitätstheologe eigentlich über das neu aufkommende Massentransportmittel namens „Automobil“ gedacht? So abwegig ist diese Frage nicht. Denn sein Sohn Ernst Eberhard sollte nach dem Zweiten Weltkrieg Geschichte schreiben, als er Auto, Motor, Sport, die wichtigste deutsche Auto-Publikation, mitbegründete.

Von Grafs Biografie lernte ich auch, dass sich Troeltsch in seiner Heidelberger Zeit intensiv mit christlicher Mission beschäftigt und auch praktisch engagiert hat. Von 1903 bis 1910 war er nämlich Vorsitzender des dortigen „Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins“ gewesen. Dies war eine eher kleine Gruppe liberaler Protestanten, die versuchten, eine Alternative zu den viel größeren pietistisch-positiven Missionsvereinen zu entwickeln. Dabei war sie keineswegs wirkungslos, sondern konnte in Shanghai, Tsingtau und Japan eine Reihe von Bildungsanstalten mitgründen und unterstützen.

Heute interessanter aber ist ein Aufsatz, den Troeltsch 1906 über Mission geschrieben hat. Ich habe ihn jetzt zum ersten Mal gelesen – in der Hoffnung, dass er für unsere Debatten über Mission und Kolonialismus etwas abwirft. Ich wurde nicht enttäuscht, auch wenn dieser Text sicherlich nicht zu Troeltschs Hauptwerken gehört. Aber manchmal ist gerade das Nebensächliche erkenntnisfördernd.

Um Fairness bemüht

In „Die Mission in der modernen Welt“ stellt Troeltsch natürlich all die Einwände vor, die moderne Bildungsbürger damals gegen die Mission hatten und immer noch haben. Denn sie sehen sie als Widerspruch zur „Achtung der Gewissensfreiheit und persönlichen Überzeugung, zu unserer Forderung der Toleranz“. Und warum sollte man überhaupt eigene Glaubensvorstellungen anderen aufdrängen? Besonders dann, wenn einem der eigene Glaube unsicher geworden ist? Vor allem aber habe die moderne Religionswissenschaft doch bewiesen, dass auch in nichtchristlichen Religionen „wahres und tiefes religiöses Leben“ zu finden sei, das man schlicht anzuerkennen habe.

Trotz dieser prinzipiellen Distanz gelingt es Troeltsch, die damalige Mission präzise einzuordnen. Denn als Religionssoziologe wirft er einen weiten und differenzierten Blick auf das Christentum. So betont er zu Recht – und anders als ein heute noch gängiges Klischee behauptet –, dass die Mission keineswegs eine Aktivität „der Kirche“ war. Er unterscheidet nämlich drei Sozialformen des Christentums: die Anstalt der „Kirche“, den Freiwilligkeitsverein der „Sekte“ und die „Mystik“ als loses Netzwerk spirituell Bewegter. Die evangelische „Kirche“ betreibt nun keine Mission, denn als Staatskirche sieht sie ihr Wirkungsgebiet allein zu Hause. Evangelische Mission ist deshalb allein die Sache „freier Vereine“, die dem „Sektentypus“ zuzurechnen sind. (Die „Mystik“ als hochindividualisierte Seelenpflege fällt hier natürlich völlig aus.) Nüchtern kann Troeltsch beschreiben, welche Theologie selbstverständlich zu den Missionsvereinen gehört: Sie sind „fast sämtlich mehr oder minder orthodox“. Denn: „Zur Heidenmission ist ein selbstgewisser, mit sich selber fertiger und unbedingter Glaube am geeignetsten.“

Doch auch wenn Troeltsch eine entgegengesetzte Theologie vertritt, ist er um Fairness bemüht. So erkennt er an, dass die Missionsvereine durchaus ein Gegengewicht zu kolonialer Gewalt und Ausbeutung bilden konnten, was zu vielfältigen „Reibungen zwischen Mission und Politik, Handelsinteressen und Missionsinteressen, Kolonialbeamten und Missionaren“ führte. Troeltsch lässt sogar eine Sympathie für Missionare erkennen, wenn er erwähnt, wie die Kolonialisten über „Humanitätsdusel und Verzärtelung“ schimpfen, „wenn die Missionare mit den Menschenrechten der Farbigen kommen“. Damit benennt er einen Aspekt, der heute zu wenig bekannt ist: Es waren die Missionsvereine, die den Menschenrechtsaktivismus begründet haben.

Zugleich aber fragt Troeltsch, ob nicht eine andere Art von Missionstheologie und -praxis möglich wäre. Denn die Konsequenz, gänzlich auf jede Form von Mission zu verzichten, möchte er nicht ziehen (außer im Fall der Judenmission, die er ablehnt). Denn er hofft, dass eine liberalisierte Mission einen Beitrag zu globaler Verständigung, zur Entwicklung der „Idee einer geeinigten Menschheit“ beziehungsweise einer „ethischen Menschheitsreligion“ leisten könnte. Diese aber müsste eine Mission der „gegenseitigen Anerkennung“ und der „gemeinsamen Entwickelung religiöser Grundwahrheiten“ sein. Sie würde vor allem in Bildungs- und Entwicklungsarbeit bestehen. Sie wäre aber kein bloßer Traum. Denn Troeltsch hat für sein Konzept ein handfestes Argument: Mission gelingt nur dort, wo sie auch ein soziales, wirtschaftliches, politisches und kulturelles Aufstiegsversprechen anbieten und auch erfüllen kann. Eine bloße Glaubensmission funktioniert einfach nicht.

So sympathisch sich Troeltschs Missionsaufsatz über weite Strecken auch lesen mag, enthält er doch gravierende Wahrnehmungs- und Reflexionslücken. Einige ressentimentgeladene Äußerungen über vorschriftliche Kulturen zeigen, wie wenig er (und seine Zeitgenossen) über die Komplexität und den Reichtum sogenannter primitiver Religionen wusste. Von größerem systematischen Gewicht ist, dass er über die strukturelle Verbindung – wie immer man sie beschreiben möchte – von Mission und Kolonialismus nicht angemessen nachdenkt. Zwar nimmt er wahr: „Die moderne Kolonisation, der Imperialismus, der Weltverkehr, das Vordringen der europäisch-amerikanischen Zivilisation breitet überall das Christentum aus.“ Aber dass dies auch seine eigene Missionsidee im Kern betrifft, scheint er nicht zu bedenken. So belässt er es beim Wunsch, dass Mission nicht „aus Gründen der Handels- und Machtpolitik“ betrieben werden solle.

Koloniale Verstrickungen

Er hätte wohl die beschwerliche Reise in die von Deutschen besetzten Gebiete in China oder Afrika machen müssen, um die kolonialen Verstrickungen jeder Mission – also auch seiner eigenen – präziser zu erfassen. Dann hätte ihm auch ein Problemaspekt auffallen können, der heute die Diskussion wesentlich bestimmt, nämlich der Rassismus, also die strikte Separierung und Hierarchisierung von Menschengruppen nach äußerlichen Merkmalen wie der Hautfarbe. Man kann spekulieren, warum er hierzu nichts geschrieben hat. Wohl kannte er die Anfänge der sogenannten Rassenlehre und hat sie abgelehnt. Aber wenn er selbst in die deutschen Kolonien gefahren wäre – was damals nicht so einfach war – und direkt mit kolonisierten Menschen gesprochen hätte, wäre vielleicht ein anderer, problembewussterer und politisch wacherer Text möglich gewesen. Seine Wahrnehmungs- und Denklücken sind heute aber deshalb so interessant, weil Grundaspekte seiner Missionsidee – wechselseitige Anerkennung und Verständigung, Fokussierung auf Entwicklungsarbeit – inzwischen weitverbreitet sind. Umso wichtiger ist es, gerade auch die inhumanen Machtdynamiken einer liberalisierten Mission zu bedenken.

Troeltschs Missionskonzept ist keine papierene Idee geblieben. Um darüber mehr zu erfahren, sollte man zu einem anderen Buch greifen: Dorothea Wippermanns Biografie von Richard Wilhelm (1873–1930). Denn Wilhelm begann seine Arbeit als China-Missionar genau in der Zeit, als Troeltsch Vorsitzender seines Missionsvereins war, und zwar dort, wo dieser Verein wirksam war. Ob es eine direkte Verbindung zwischen Troeltsch und Richard gegeben hat, weiß ich nicht. Graf und Wippermann schreiben nichts darüber. Aber Wilhelm war ein Missionar exakt nach Troeltschs Vorstellungen. So erklärte er am Ende seines Lebens mit Stolz, in seiner langen Zeit dort keinen einzigen Chinesen getauft zu haben. Stattdessen setzte er sich intensiv für Erziehung und Bildung in Qingdao ein. Vor allem aber übersetzte er eine lange Reihe klassischer Werke der chinesischen Literatur, Philosophie und Religionskultur, die in Deutschland viel gelesen wurden. So begründete er die deutsche Sinologie mit und eröffnete einen intensiven Religionsdialog über tiefe kulturelle Gräben hinweg. Es ist schade, dass es zwischen ihm und Troeltsch offenbar zu keinem Austausch gekommen ist. 

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Foto: EKDKultur/Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.


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