Film des Lebens

Julian Sengelmann hat über Videodrama promoviert
Julian Sengelmann
Foto: Thomas Leidig

Das Videodrama ist eine faszinierende und umfassende Art, mit biblischen Geschichten umzugehen. Der Hamburger Theologe, Musiker und Schauspieler Julian Sengelmann erzählt von sich und seiner Promotion.

Ich komme aus einer Familie klassischer „U-Boot-Christen“. Das heißt, seitdem ich mich erinnern kann, gingen wir früher immer ausschließlich an Heiligabend in die Kirche St. Johannis in Hamburg-Harvestehude in unserer direkten Nachbarschaft.

Als Kind und Jugendlicher war ich aktiv bei den Bündischen Pfadfindern, dem PBN in Hamburg; sehr links, sehr engagiert. Da lernte ich die Maxime: „Wenn jemand etwas ganz laut sagt und immer wieder betont, dann darfst du das nicht einfach glauben, sondern musst das überprüfen und hinterfragen.“ Gleichzeitig wurde dort aber wahnsinnig gegen die Kirche gehetzt. Da dachte ich als gerade 13-Jähriger: Okay, wenn das so ist, dann muss ich das der Logik folgend ja prüfen … So bin ich beim Konfirmandenunterricht gelandet.

Die erste Konfirmandenstunde 1995 in Harvestehude werde ich nie vergessen: Der Pastor, damals Ende dreißig, versammelte uns im Vorraum der Kirche und sagte: „Wartet einen Moment, und wenn ihr das Zeichen hört, geht in die Kirche.“ Wir standen da, scharrten mit den Hufen und warteten. Auf einmal erklang ohrenbetäubend laut Popmusik. Der Pastor schlenderte uns aus dem Mittelgang der großen neogotischen Kirche entgegen, öffnete die Glastür und sagte: „Herzlich willkommen, das ist ab jetzt eure Kirche. Fühlt euch hier wie zuhause, ihr könnt hier machen, was ihr wollt.“ Erst dachten wir: „Das muss ein Trick sein …“ Aber es war kein Trick, wir durften uns alles angucken, sogar in die Sakristei und auf die Kanzel. Es war großartig. Die beste Schwellenüberschreitung überhaupt.

Rockstars werden

Wenig später gab es in der Gemeinde ein Filmwochenende in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Abaton-Kino, bei dem auch Hollywoodfilme gezeigt wurden. In einem Gottesdienst liefen Ausschnitte aus „Das Schweigen der Lämmer“. Zwischen den Szenen spielte der damalige Kirchenmusiker Claus Bantzer, ein begnadeter Orgelvirtuose und -improvisator, in einer Weise, die mich im besten Sinne erschüttert hat. Und spätestens seitdem hatten sie mich. Heute würde ich sagen, mir wurde klar: „Hier ist ein Ort, an dem meine Lebenswirklichkeit vorkommt und meine Interessen wahr- und ernst genommen werden.“

Den Konfirmandenunterricht bei diesem besonderen Pastor habe ich wirklich genossen. Ich ließ mich konfirmieren und war dann viele Jahre in der Jugendgruppe der Gemeinde, die ich später auch geleitet habe. Sogar meinen Zivildienst habe ich im Kindergarten St. Johannis absolviert. Trotzdem hatte ich nie vor, Theologie zu studieren, denn ich wollte schon seit frühester Kindheit Schauspieler werden. Außerdem war ich Musiker, Sänger und Gitarrist und hatte schon zu Schulzeiten ein bisschen lokalen Erfolg mit meiner Schülerband. Wir fühlten uns auf dem Weg nach oben und träumten davon, Rockstars zu werden.

Aber dann hörte es mit meiner ersten Band schlagartig auf, weil einer von uns schwer erkrankte, und mit 19 entschloss ich mich dann doch, Theologie zu studieren – einfach, weil es mich interessierte. Parallel dazu begann dann meine Arbeit als Schauspieler, Moderator und Musiker, die bis heute andauert – neben meiner halben Projektpfarrstelle. Aber das ist eine andere Geschichte.

Lebensweltliche Resonanz

Am Theologischen Fachbereich in Hamburg begegnete ich dem „Videodrama“, das der Praktische Theologe Hans-Martin Gutmann, mein späterer Doktorvater, dort einmal im Semester veranstaltete. Bei diesem aufwändigen religionspädagogischen Projekt handelt es sich um ein praktisches theologisches, interdisziplinäres Seminar, in dem es darum geht, mit und durch Studierende einen 15–20-minütigen Film zu drehen, der am Ende auch Menschen gezeigt wird, die nicht selbst daran teilgenommen haben. Dieser Film passiert im Raum eines biblischen Textes. Es geht aber nicht darum, zu zeigen, dass jemand mit einer Toga vom Berg runterkommt und sagt: „Ich habe zehn Gebote dabei“, sondern um die Frage, welchen lebensweltlichen Resonanzraum biblische Geschichten bei denen erzeugen, die den Film machen, und bei denen, die ihn dann sehen. Es geht um Prozess und Gestalt, Inszenierung und Resonanz.

Das in meiner Arbeit primär untersuchte Videodrama 2015 war das letzte, das stattgefunden hat, da Hans-Martin Gutmann in den Ruhestand ging. Wir fuhren eine Woche nach Dänemark und entwickelten und produzierten einen Film über die Versuchung Jesu in der Wüste nach Matthäus 4, 1–11. Zu dem Prozess gehört auch, im Anschluss an den Dreh Schnitt, Postproduktion und Filmmusik selber zu machen. Den Film finden Sie im angehängten QR-Code unten. Hans-Martin Gutmann hat mich damals ermutigt, über Videodrama an sich und dieses Projekt als konkretem Gegenstand eine Dissertation zu schreiben. Sie ist 2021 unter dem Titel „Das Videodrama – Ein religionspädagogisches Filmprojekt im interdisziplinären Dialog“ im Springer-Verlag Wiesbaden erschienen.

In meiner Arbeit schreite ich ausführlich die systematisch-theologischen, ästhetischen und religionspädagogischen Per­spektiven ab, die für die Erschließung und Deutung dieses komplexen Projekts von Bedeutung sind. Der Prozess und sein Ergebnis sind ein Versuch, Symbole aus der christlichen Tradition zum einen zunächst zu verstehen und sich darin zu artikulieren und zum anderen die je eigenen „individuellen Heiligtümer“ – so eine Formulierung des Theologen und Pädagogen Norbert Weidinger – auszudrücken und ins Gespräch zu bringen. Darin liegt eine doppelte Chance: Zum einen der eigenen Glaubensgeschichte eine gelungene – oder im Sinne Christoph Bizers „gute“ – Gestalt zu geben. Zum anderen auch darin, mit bewusster Medienarbeit, Menschen zu erreichen und eventuell eine Gesprächsmöglichkeit zu bieten, die für diese unerwartet ist.Das von mir für die Doktorarbeit ausgewertete Videodrama – bedingt durch den Ruhestand von Hans-Martin Gutmann – war das letzte seiner Art. Das ist bedauerlich, denn immer wieder haben mir Studierende gesagt, dass sie durch dieses Projekt eine fundamental wichtige Erfahrung mit sich selbst und biblischen Geschichten gemacht haben. Sollte es irgendwann, irgendwo eine Auferstehung erleben – mich würde es freuen, und ich wäre dabei. Oder zumindest ansprechbar. 

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

 

Der Videodramafilm des Projekts von 2015 kann hier abgerufen werden:

 
Sengelmann QR Code
Foto: privat



 

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