„Teil einer wichtigen, größeren Sache“

Wie ein Jahr mit der Aktion Sühnezeichen ein Leben verändern kann
Amalie Ernst
Foto: Magdalena Huppertz

Nach ihrem Abitur absolvierte Amalie Ernst ein Auslandsjahr mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in Prag, wo sie mit Überlebenden der Naziherrschaft arbeitete und Akten aus dem Zweiten Weltkrieg sichtete. Die heute 21-Jährige, die Kommunikationsdesign in Münster studiert, hat viel erlebt und hofft, dass sie in ihrem Prager Jahr sehr alten Menschen ein helleres Bild von Deutschland vermittelt hat.

Als ich zum ersten Mal das Wort Sühnezeichen hörte, konnte ich nicht viel damit verbinden, denn Sühne ist ein Wort, das ja gar nicht mehr richtig in unserem Sprachgebrauch ist. Aber natürlich haben wir in dem Auswahlseminar als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste – kurz ASF – darüber einiges erfahren, zum Beispiel auch, dass das 1958, als die Aktion Sühnezeichen gegründet wurde, auch als Wording gut ankam, denn da ging es viel um „Wiedergutmachung“, und man bekam wohl besser Gelder für die Sache, wenn es dabei um Sühne ging.

Wir haben viel darüber gesprochen, ob man die Verbrechen, die von uns Deutschen in der Nazizeit in Europa begangen worden sind, überhaupt wiedergutmachen, sprich sühnen kann. Klar geht das nicht. Aber man kann ein Zeichen setzen. Darüber nachzudenken war wirklich wichtig, aber es gab auch immer wieder den Running Gag, dass wir uns fragten: „Was ist Sühne für dich?“ oder „Ich sammle Sühnepunkte“ und so ähnlich. Doch Spaß beiseite: Das einwöchige Vorbereitungsseminar der ASF mit den anderen 150 Freiwilligen in Hirschluch bei Berlin war großartig. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich eine Gruppe von Menschen kennengelernt, die so offen für jede:n Einzelne:n ist und gleichzeitig aus so extrem verschiedenen und individuellen Menschen besteht. Das hat diese Woche wirklich unvergesslich gemacht.

Schicksal kaum aufgearbeitet

Im September 2019 reiste ich dann nach Prag. Dort lebte ich mit zwei weiteren Freiwilligen in einer WG, und ich arbeitete hauptsächlich bei einer Organisation namens Živá Paměť (ŽP), das heißt übersetzt „lebendige Erinnerung“. Die Organisation wurde 2003 gegründet und hat es sich zur Aufgabe gemacht, neben Informations- und Bildungsprojekten zum Beispiel durch Begegnungen zwischen Zeitzeug:innen und der jungen Generation die Schicksale der Opfer der Nazis weiterzutragen. Außerdem möchte sich Živá Paměť für diese Menschen im Alltag auf humanitäre Art und Weise engagieren, da in Tschechien gerade die Schicksale von Zwangsarbeiter:innen und KZ-Inhaftierten während des kommunistischen Regimes kaum aufgearbeitet und stark vernachlässigt wurden.

Viele noch lebende ehemalige Zwangsarbeiter:innen und Holocaust-Überlebende, zum Teil auch deren Nachkommen, erhalten so in verschiedenen größeren und kleineren Städten Tschechiens von ŽP juristische und soziale Unterstützung sowie Kultur- und Bildungsangebote. Genau in diesem Bereich lagen auch meine Aufgaben bei ŽP: Ich besuchte regelmäßig mehrmals die Woche Holocaust-Überlebende zu Hause, die ich im Alltag begleitete und unterstützte. Insgesamt lernte ich in dem Jahr auf diese Weise sechs ältere Menschen mehr oder weniger intensiv kennen.

Zusätzlich zu den Hausbesuchen arbeitete ich auch bei Veranstaltungen und Events des Kontaktzentrums von Živá Paměť mit. Das bedeutete, dass ich bei Ausflügen mit größeren Gruppen mitfuhr – zum Beispiel in den Zoo oder in Museen in Prag – und dort mithalf, die Gruppe zusammenzuhalten oder zum Beispiel einzelnen Mitgliedern Treppen hinunterzuhelfen oder ich war einfach eine zusätzliche Hilfe für meinen Kollegen, der das Kontaktzentrum und die Events leitet. Manche Events fanden auch im Kontaktzentrum selber statt. Dort half ich dabei, Kaffee, Tee und Kekse auszugeben und Veranstaltungen zu organisieren, wie zum Beispiel, dass einmal im Monat eine Frau mit einem Therapiehund kam.

Partisan im Zweiten Weltkrieg

Besonders eindrücklich waren die regelmäßigen Besuche im jüdischen Altenheim bei Herrn Mikuláš Bröder, der leider im vergangenen Jahr im Alter von 98 Jahren gestorben ist. Er hat sich immer sehr gefreut, wenn ich kam, und er hat mir erzählt, er wäre Partisan im Zweiten Weltkrieg gewesen. Die genauen Zusammenhänge wurden in Gesprächen mit ihm nicht klar. Aber fast jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, fragte er: „Habe ich Ihnen schon die Akten in meinem Koffer gezeigt?“ Ich sagte: „Ja, aber wir können sie gerne wieder anschauen“, und dann hat er mich den Aktenkoffer ans Bett holen lassen, in dem alte Fotos von ihm in Uniform, offizielle Urkunden und Auszeichnungen lagen, die er nach dem Krieg bekommen hatte. Was ganz konkret damals gewesen ist, das kam bei meinen Besuchen bei Klient:innen nie raus, und nicht alle von ihnen waren wie Herr Bröder bekannte Zeitzeugen, deren Biografie online zu finden ist. Aber ich habe über mein Jahr viele Stimmungen und Gefühle vermittelt bekommen, was vielleicht sogar wichtiger ist als Zahlen und Fakten. Nicht viele nach mir werden die Chance haben, mit diesen spannenden Persönlichkeiten Zeit zu verbringen.

Nicht immer konnten diese hochbetagten und pflegebedürftigen Klientinnen und Klienten verständlich machen, was sie genau meinten. Aber ich habe häufig gespürt, was sie bewegte, auch wenn sie es mit Worten nicht mehr getroffen haben. So entwickelten wir eine ganz besondere Verbindung. Allerdings wurde mir auch von Kolleg:innen erzählt, dass einige Klient:innen nicht zu Veranstaltungen kommen, die etwas mit Deutsch zu tun haben, weil es sie triggert und total fertig macht, Deutsch auch nur gesprochen zu hören. Ich war überrascht und dankbar, dass ich so etwas eigentlich gar nicht erlebt habe, denn ich hatte damit gerechnet, auf deutlich mehr Vorurteile und Ablehnung zu stoßen. Im Gegenteil: Viele haben mir immer wieder sehr freundlich zu verstehen gegeben, dass sie sehr schätzen, was ich mache, dass ich komme, um ihnen zu helfen und mit ihnen Zeit zu verbringen. Ich habe auch immer wieder gesagt, ich bin ja erst 18 Jahre alt, aber ich weiß sehr wohl, was damals Schreckliches passiert ist, und ich bin hier, um es richtig zu machen. Ich glaube, das haben alle verstanden. Herr Bröder, der Mann mit dem Koffer, hat mir zum Beispiel mal gesagt: „Du bist ja deutsch, dann bist du hier, weil dich das interessiert und weil du dich für mich interessierst.“ Genauso interessierten sich meine Klient:innen für mich als junge Erwachsene und freuten sich, wenn ich zu Besuch kam.

Prozessakten gesichtet

Neben der Tätigkeit für Živá Paměť hatte ich noch einen zweiten Aufgabenbereich im Archiv des Instituts zum Studium totalitärer Regime (tschechisch: Ústav pro studium totalitních režimů, kurz ÚSTR). Die Hauptaufgabe dieses großen Institutes in Prag ist die systematische Aufarbeitung von Verurteilungen im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren während des Zweiten Weltkrieges. Es handelt sich um Prozessakten der deutschen Amts-, Sonder- und Landesgerichte in Brno, Prag und Ostrava. Das Institut ist seit Jahren damit beschäftigt, eine Digitale Kartei für Forschungszwecke und für Nachfahren der Verurteilten einzurichten.

Jede Woche war ich einen Tag dort und habe die wichtigsten Daten über Prozesse und Verurteilte in eine Excel-Tabelle eingetragen. Dafür sichtete ich die Originalakten, die vor mir noch niemand genauer angesehen hatte. Manchmal ging es bei den Prozessen um Mord- und Totschlag, oft aber eben nur um gestohlene Brotlaibe oder unbefugte Grenzübertritte. Gerade bei solchen Fällen waren die Strafen erschreckend hoch, und es ist unfassbar, wie akribisch die Nazis protokollierten: Mir wurde die Dokumentation der Nationalsozialisten jedes kleinsten Details von selbst der unbedeutendsten Straftat sehr deutlich. Immer wieder begegnete mir bei dieser Arbeit das Wort Zuchthaus, und mir fiel auf, dass tschechische oder polnische Angeklagte häufig viel höhere Strafen für Delikte wie Einbruch oder Uhrendiebstahl bekamen als Deutsche. So bin ich stundenlang in Stapeln von Personalien, Tatortfotografien, Zeug:innenaussagen und schriftlichen Urteilsbekanntgaben versunken. Manchmal war das natürlich auch öde und monoton, aber häufig war es auch sehr spannend, und es hat mich ehrlich auch sehr, sehr erschüttert, was ich da in den Urteilsschriften las, über denen in großen Buchstaben stand: „Im Namen des Deutschen Volkes!“

Leider hat nach einem halben Jahr dann Corona zugeschlagen, und wir Freiwilligen mussten für gut drei Monate unseren Einsatz unterbrechen und nach Deutschland zurückkehren. Aus der Ferne und per Zoom habe ich zu einigen Klient:innen von Živá Paměť Kontakt halten können, aber die Arbeit am In­stitut ÚSTR musste natürlich ruhen. Glücklicherweise kamen wir dann im Sommer 2020 nochmal für drei Monate zurück und konnten wieder anknüpfen. Eins ist klar: Diese Zeit hat mich als Mensch unfassbar bereichert. Ich war viel mit Menschen zusammen, die nicht mehr lange leben, einige sind nun schon gestorben. So viel Zeit mit alten Menschen zu verbringen, hat dazu geführt, dass diese Generation mit ihren Erfahrungen und alltäglichen Herausforderungen und Sorgen jetzt mehr auf meinem Radar ist und nicht nur, wie vorher, die alten Menschen aus meiner Familie und meinem näheren Umfeld. Es war wunderbar, mit diesen Menschen über eine Zeit so richtige kleine Freundschaften zu pflegen, und dafür bin ich unendlich dankbar.

Obwohl ich persönlich als junger Mensch natürlich keine Schuld an den furchtbaren Ereignissen von früher habe, repräsentiere ich, ob ich will oder nicht, als Deutsche Deutschland. Und ich hoffe, ich habe die Chance genutzt, um für das heutige Deutschland zu bezeugen, dass wir jetzt anders sind. Klar, wie gesagt, man kann nichts wiedergutmachen, da bringen auch alle Geldzahlungen nichts. Aber man kann es jetzt besser machen. Mir ist schnell klargeworden, dass ich als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Teil einer wichtigen, größeren Sache bin, nämlich dem kontinuierlichen Prozess der Erinnerung an die Verbrechen der Nazis und der tätigen Aufarbeitung. Und das finde ich auch im Rückblick spannender, als nach dem Abitur um die Welt zu fliegen oder mit Rucksackreisen „mich selbst zu finden“. Was nicht bedeutet, dass ich nicht auch mit Reisen und neuen Freund:innen (auch in meinem Alter) die Zeit meines Lebens im schönen Tschechien hatte!

Natürlich würde ich jetzt nicht so weit gehen und sagen: Ja, ich habe jetzt gesühnt oder Buße getan für das, was vor achtzig Jahren im Zweiten Weltkrieg passiert ist. Aber ich hoffe doch, dass die alten Menschen, mit denen ich dort eine Zeitlang sehr intensiv im Kontakt war, nicht mit einem Bild von Deutschland sterben, das nur von Krieg und Unterdrückung geprägt ist. Ja, diese Hoffnung habe ich, und dafür bin ich sehr, sehr dankbar. 

 

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick
 

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