Etwas mit Lebenskunst

Systematisch-theologische und ethische Erwägungen zur Buße
Der Bußgang Kaiser Heinrichs IV. zu Papst Gregor VII. in Canossa. Gemälde von Giulio Arrivabene (1806–1896).
Foto: akg-images
Der Bußgang Kaiser Heinrichs IV. zu Papst Gregor VII. in Canossa. Gemälde von Giulio Arrivabene (1806–1896).

Warum beim Stichwort Buße immer nur an grimmige Bußpropheten denken? Der Würzburger Systematische Theologe und Schriftsteller Klaas Huizing wirbt dafür, auch die spezifische Art weisheitlich geprägter  Bußtraditionen in der Bibel in den Blick zu nehmen und für das eigene Leben fruchtbar zu machen.

Wörter und Begriffe können sich räkeln, sich in den Vordergrund schieben oder sich verflüchtigen. Wenn sie sich verflüchtigen, gibt es immer auch Verflüchtigungsgehilfinnen. Buße war in der Judentums- und Christentumsgeschichte eine mächtige Vokabel, verjocht mit dem Wort Gebet war sie lange ein gesetzlicher, nicht nur ein kirchlicher Feiertag: Buß-und Bettag. Der wurde 1994 geopfert zur Finanzierung der Pflegeversicherung. Wegen der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung sollten nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die Arbeitnehmer einen Beitrag leisten – sprich: einen Tag länger arbeiten. Und weil es um die Krankenversicherung ging, konnten die Entscheidungsträgerinnen in den Kirchen auf den diakonischen Mehrwert dieser Versicherung verweisen. Und hatte nicht Martin Luther davon gesprochen, das ganze Leben sei Buße – und somit Buße nicht auf einen Kalendertag festgelegt? Genau. Also gibt es – mit Ausnahme von Sachsen – den Buß- und Bettag nur noch als kirchlichen Feiertag, der bescheiden nachgefragt wird. Sogar der Wikipedia-Artikel zum Thema kann sich eine Spitze nicht verkneifen: „Kritiker der Abschaffung führen insbesondere an, dass der damals gewünschte Effekt – die sichere Finanzierung der Pflegeversicherung –, anders als die Abschaffung des Feiertags, nicht von dauerhafter Wirkung war.“

Anlass genug, den Begriff „Buße“ auf bisher verwahrloste oder unentdeckte Sinnprovinzen hin abzuklopfen. Gibt es, über das historisch inventarisierte Modell hinaus, eine gegenwartskräftige Deutung, oder soll und kann man auf den Begriff leichthändig oder seufzend ganz verzichten?

Pessimistisches Menschenbild

Das ist religionsgeschichtlich auffällig: In den außerchristlichen Religionen wird der Sachverhalt Buße entschieden geringer veranschlagt. Das hängt – wie so häufig – mit anthropologischen Grundentscheidungen, also: dem leitenden Menschenbild zusammen. In wirkkräftigen Partien des Alten Testaments regiert ein pessimistisches und sündengeprägtes Menschenbild. Zu den Dienstgeschäften der Unheils- oder Gerichtsprophetie gehörten die Weitergabe und Expertise dieses Modells: Nur wer umkehrt, wer Reue zeigt und Rituale der Selbsterniedrigung durchführt, kann auf Rettung hoffen. Deshalb gehört im Gegenzug zur Arbeitsplatzbeschreibung der Heilsprophetie die Zusicherung eines gnädigen Gottes. Gnade wird zum Schlüsselwort, das in den anderen Religionskulturen wegen des schwächeren Sündenbegriffs (oder deren Äquivalenten) beinahe nie diesen Stellenwert erreicht hat.

Die Verkündigung Jesu – er war (mutmaßlich) Schüler von Johannes dem Täufer, der als ein rhetorisch brillanter Bußprophet auftrat – übernimmt von Johannes die Taufe, die Buße hat bei ihm allerdings ein ganz anderes Profil, das sich einem anderen Zeitverständnis verdankt (Hans Weder): Weil das Gottesreich bereits substanziell nahe ist, bleibt Jesus nicht in der Wüste, sondern lehrt in den Dörfern und Städten, um den Menschen eine neue Orientierung und ein neues Lebensgefühl zu vermitteln. Auffällig auch, dass Paulus auf Bußpredigten verzichtet. Der Grund ist schnell benannt: Paulus deutet Sünde als menschliches Existenzial – folgt man kritischen Stimmen aus der Exegese von Rang, dann deckt der alttestamentliche Befund allerdings nicht diese extreme Deutung (Thomas Krüger). Bleibt man aber in der Denkspur von Paulus und deutet die Sünde als ein menschliches Existenzial, dann kann nur ein radikaler Neuanfang helfen, ohne jede Kooperation durch den Menschen.

Auch Luther, der gelernte Augustinermönch, wird später diesen Weg gehen und den sündigen Menschen in die zeitweilige Passivität berenten, erst als gerechtfertigter Sünder wird er wieder fest angestellt. Zwar lassen sich im Denken Melanchthons Spuren und Ansätze finden, die dem menschlichen Willen im Bußgeschehen mehr zutrauen, aber letztlich wird diese Aufhellung doch zugunsten der Grundüberzeugung des sola fide wieder verschattet (Max Weber, Wilfried Engemann).

Die reformierte Tradition ist nicht weniger pessimistisch. Karl Barth, der statt von Buße von Umkehr spricht, weil er sich abheben will vom mehrmaligen Bußsakrament der katholischen Kirche und zugleich vom einmaligen pietistischen Bekehrungserlebnis, versteht die Umkehr umfassend, nicht nur enggeführt auf die sittliche Neukonstitution. Auch für Barth gilt: Der Primat liegt auf dem Handeln Gottes, und es ist Jesus Christus, der die Umkehr vollzieht und uns daran teilhaben lässt. Nur durch dessen Umkehr kann der Mensch dann ein Aktivposten im Vollzug der Heiligung werden.

Lässt sich eine Idee von Buße herausarbeiten, die nicht im dogmatischen Korsett von Sünde und Gnade beheimatet ist, einem anderen anthropologischen Muster folgt und der (sittlichen) Lebenskunst mehr Raum gibt? Lässt sich Buße mit einem optimistischeren Menschenbild verbinden? Nochmals: Die westliche Theologiegeschichte und effiziente Richtungen im Protestantismus konzentrieren sich mit Vorliebe auf das prophetische Modell, gerne in der Verjochung von Gerichtsprophetie und Heilsprophetie. Richtig. Die prophetische Sicht der Dinge ist eine hochwirksame Sicht, aber nicht die einzige, bitteschön. Zur Erinnerung: Bereits das Alte Testament kennt mindestens drei markante Mittler der Transzendenz: den Propheten (den Boten), den Priester (unter anderem als Spezialist für Rituale) und die Weisheitslehrerin (die Pädagogin).

Besonders zugeneigt war der Protestantismus dem Prophetenmodell. Das freilich ist evident: Wer sich im prophetischen Modell als Bote Gottes versteht, besitzt als Pastorin oder Pastor eine enorme Autorität und ein entsprechendes, über viele Jahrhunderte zumeist unhinterfragtes Selbstbild. Hier eröffnet sich viel Raum für mentalitätsgeschichtliche Studien. Durch die mittelalterliche Verrechtlichung, Verkirchlichung und Ökonomisierung der Buße als Werke, die nach einträglichen Bußtarifen gestaffelt waren, kam auch der Priesterstand bekanntlich in Verruf und wurde von Luther zurecht sprachmächtig beklagt. Wie also steht es um das dritte Modell?

Mit Weisheitstheologie gefremdelt

Es ist stark untertrieben zu sagen: Der Protestantismus fremdelte extrem lange mit der Weisheitstheologie. Noch Ende der 1950er-Jahre konnte der Alttestamentler Ernst Würthwein beklagen, die Weisheitstheologie erwecke den Eindruck, der Mensch könne den Segen außerhalb des Bundes und quasi von sich aus erreichen. Das aber sei nicht „genuin israelitisch“. Das optimistische Menschenbild der Weisheit passe nicht zum tradierten Menschenbild im Alten Testament: Hier habe man es mit einem selbstsicheren Menschentyp zu tun, der dem genuin-israelitischen Menschenbild markant widerspreche. Prophetismus, der Prophet als Bote der Offenbarung, und die Weisheit in Gestalt der lebensklug und lebenserfahren argumentierenden Pädagogin scheinen nicht zueinander finden zu können.

Inzwischen hat es im Fach Altes Testament seit mehreren Dekaden einen Hype um die Weisheitstheologie gegeben, der allerdings in der Systematischen Theologie bisher nicht mit richtigem Wumms angekommen ist. Nicht länger gilt die Weisheitstheologie als Fremdkörper, vielmehr konnte gezeigt werden, wie stark die schreibenden Eliten die Importe etwa aus Ägypten sehr eigenständig bearbeiteten. Und auch das von Würthwein beklagte optimistische Menschenbild wurde – zumindest in den späten Weisheitswerken – mal mehr, mal weniger moderat gedämpft. Gleichwohl: Es gehört zum Selbstverständnis der Pädagoginnen, von der Bildsamkeit des Menschen (trotz der Materialermüdung pünktlich vor den großen Ferien) überzeugt zu sein.

Und auch das gilt: Es gibt Überlappungen zwischen dem prophetischen und dem weisheitlichen Modell: Beide arbeiten mit dem Modell des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, die Weisheitstheologie konzentriert sich dabei auf die Lebenskunde für den einzelnen Menschen, damit er ein gelingendes Leben führt, ohne die soziale Dimension und die Rolle JHWHs: Wer in der frischen Luft einer guten „Tatsphäre“ (Klaus Koch) handelt oder diese sogar ausstrahlt, dem wird es auch gut ergehen; wer in einer schlechten Atmosphäre agiert oder diese verbreitet, dem wird es schlecht ergehen. Ziel ist die Bildung des Menschen zu einem gemeinschaftsfähigen und damit gottgefälligen Leben. Intendiert ist ein Erziehungsprozess, der aus der Unwissenheit zur Einsicht und Tugend geführt wird – mögliche Rückfälle eingeschlossen.

Bekanntlich ist die späte oder kritische Weisheit dabei nicht stehen geblieben. Ausgangspunkt dürfte eine Erfahrung in der Lebenswelt gewesen sein: Es ist ein Skandal, eine Ungerechtigkeit, dass Menschen, die sichtbar schlecht handeln, offenbar glücklich sind, und Menschen, die lebensfromm leben, zuweilen Leid und Unglück ertragen müssen.

Präventiv Krisen verhindern

Die Hioberzählung, eine hochpoetische ernste Komödie von Format, versucht, darauf eine Antwort zu geben. Hiobs sogenannte Freunde versuchen, den leidenden Hiob zu pressen, ob es nicht doch an seinem Verhalten liege, dass er in dieser erbärmlichen Situation anzutreffen ist. Reue und Buße seien angebracht. Hiobs Botschaft ist einfach: Hier dient eine Kausalitätsverweigerungspoesie dazu, Leid nicht länger als Strafe Gottes zu verstehen, vielmehr, so die gute, sprich: befreiende Botschaft, kommt es darauf an, gegen Erscheinungsformen des Leidens im physischen oder moralischen Kontext aktiv zu werden und zu forschen, um präventiv Krisen zu verhindern oder einzudämmen. Damit ist das Phänomen der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht aus der Welt, aber diese Neujustierung der Weisheit dürfte im Nachgang doch eine Öffnung für eschatologische Fragen wie Auferstehung oder Unsterblichkeit nach sich gezogen haben, die bei der vorkritischen Weisheit nicht im Blick war.

Der Optimismus der Weisheit liegt – trotz späterer leichter Eintrübung – in der sprachmächtig vorgetragenen Weigerung, die Sünde als Existenzial zu veredeln. Auch in dieser Frage, die zugleich die Genese nach dem Ursprung der Gewalt aufdecken will, bietet die Bibel Höhenkammliteratur in Gestalt der weisheitlich orchestrierten Kain- und Abel-Erzählung. In dieser Erzählung wird Kain die Anerkennung seines Opfers verweigert, er steht vor seinem jüngeren Bruder und anderen Schamzeugen entblößt da. Die Scham geht einher mit aufsteigenden Aggressionsgefühlen, die final in Hass auf den kleinen Bruder zu münden drohen. Hier meldet sich literarisch Gott selbst zu Wort, der Kain auffordert, seinen Charakter zu schulen, weil andernfalls die Sünde vor der Tür stehe oder kauere: „Du aber herrsche über sie!“ Von einem Verständnis der Sünde als Existenzial ist keine Rede. Hier hat die Scham eine positive Funktion, weil sie auf den Charakter zielt und einen enormen Verbesserungsdruck erzeugt.

Bekanntlich hat Kain es vorgezogen, die Passivität der Scham in die Schuld zu verschieben, hat seine Aggressionsgefühle nicht geschult, glaubte Handlungssouveränität zu erlangen, indem er aus dem Hass seine Motivation zum Handeln bezog, pochte auf sein Anerkennungsrecht als Erstgeborener und konnte sich mit einem Statusverzicht, der die Situation befriedet hätte, im entscheidenden Augenblick nicht anfreunden.

Weisheitstheologie spricht (vor allem in den Proverbien) häufig von der JHWH-Furcht, der Alttestamentler Bernd Schipper hat in seinem Kommentar zu den Proverbien die JWHW-Furcht als „Hassen des Bösen“ bestimmt. Aggressionsgefühle sind nicht per se schlecht, sogar der Hass hat eine positive Funktion: Das Böse soll gehasst werden und aus der Welt verschwinden. Wer die Genese der Entstehung von Gewalt, Schuld und Sünde verstanden hat, kann dann auch präventiv Situationen befrieden, wo sich schlechte Atmosphären breitmachen. Kommt es trotzdem zu Untaten, so kann ein vor allem in der amerikanischen Gefängnisseelsorge im Zusammenarbeit mit Psychologen und Traumatherapeutinnen ausprobierter Prozess des Re-Shamings eingeleitet werden, damit der Täter in der Gegenwart der Opfer sich für seine Taten schämt. Dies kann zu einer Charakterformung und zu einer Selbstbildkorrektur führen, damit ein Raum für Verzeihung aufreißt.Nochmals: Traditionell ist die Bußpraxis eine Antwort auf das Sündenbewusstsein. Diese Verjochung ist aber nicht zwingend, wenn man die Bußpraxis als lebenslange pädagogische Besserungspraxis versteht, indem man die Gier oder den Kampf um Anerkennung (Axel Honneth) etwa durch Statusverzicht (Gerd Theißen) befriedet.

Das Wort Buße kommt aus dem Indogermanischen und meint zunächst nur Besserung; das hebräische šûb erinnert zugleich an die Mahnrede, eine Sprachform, die gelegentlich ebenfalls in der weisheitlichen Pädagogik auftaucht; das griechische metanoia umschreibt eine neue Lebenseinstellung, sie ist auf Einsicht und künftige Tugendschärfung bezogen. Bußpraxis ist dann also die weisheitliche Kunst, sein Selbstbild auch auf Gemeinschaftsfähigkeit hin zu befragen. Zugleich hat sie tools wie Statusverzicht im Angebot, um gewaltgesättigte Situationen zu befrieden.Bleibt die Frage nach der Genese des Christenmenschen. Wie erfährt der Mensch die faszinierende Macht des Guten, die zu einer tragfähigen Erfahrung führt und damit zu einer Lebensorientierung? Die zentrale Tätigkeit lautet: spielerische Identifizierung. Erzählen ist das „Urspiel“ des Menschen (Peter Handke). Wer hieran teilnimmt, wer sich mit Personen in Romanen, Biografien, Kinofilmen, Netflix-Serien, Theaterstücken, Kunstwerken identifiziert, probt Lebensentwürfe. Sofern das Christentum zu einem wichtigen Ferment unserer Kultur geworden ist, werden oft Motive und Personenkonstellationen aus den biblischen Erzählungen als Coverversionen in anderen Medien präsentiert.

Gier nach Anerkennung

Wichtig freilich ist, dass auch das erzählerische Kapital der biblischen Narrationen präsent bleibt, damit man etwa mit den Gleichnissen Jesu mitspielt und so eine Lebensorientierung, die Macht des Guten und eine entsprechende Haltung einleibt, die sich nicht am eigenen Status und an der Gier nach Anerkennung ausrichtet. Wir Menschen sind homo narrans und homo ludens gleichermaßen. Die menschliche Tätigkeit im Prozess der Genese des Christenmenschen ist also die elegante Kunst der spielerischen Identifizierung. Affektiv betroffen ist der Mensch primär leiblich, wir machen erhebende Erfahrungen, wenn wir mitspielen, müssen diese leibliche Erfahrung dann auf ihre Lebensdienlichkeit hin prüfen, ob etwa die im literarischen Porträt Jesu erfahrbare Macht eine sittliche Macht des Guten ist (Wilhelm Herrmann), die die Kraft hat, das eigene Leben entsprechend dieses dort aufscheinenden Lebensgefühls auszurichten und darzustellen.

Summa: Eine Karriere zum Buzzword wird das Wort Buße als Kunst der Selbstbildhinterfragung und Tugendschärfung nicht so schnell hinlegen, aber der Sachverhalt, hier im weisheitlichen Deutungshorizont umgeformt, hat entschieden mehr Aufmerksamkeit verdient. Vielleicht sogar erneut einen gesetzlichen Feiertag. So wie in Sachsen. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Theologie"