Erinnerung und Engagement

Die lutherische Kirche in Polen bekommt bald Besuch aus der ganzen Welt
Miteinander im Pfarrdienst in Warschau: Malgorzata und Piotr Gaś.
Foto: Wolfgang Thielmann
Miteinander im Pfarrdienst in Warschau: Malgorzata und Piotr Gaś.

Vom 13. bis 19. September trifft sich die nächste Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes im polnischen Krakau. Schon jetzt war eine Delegation aus Deutschland vor Ort und sammelte Eindrücke aus dem Leben und der sozialdiakonischen Arbeit der kleinen gastgebenden Kirche in Polen. Der Journalist Wolfgang Thielmann war dabei.

Ich fühle mich nicht benachteiligt“, sagt Malgorzata Gaś versöhnlich. Am 7. Mai 2022 gehörte sie zu den ersten neun Frauen, die in der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen zu Pfarrerinnen ordiniert wurden. In wenigen Jahren wird sie in den Ruhestand gehen, „aber man darf ja bis zum Tod weiterdienen“. Diskussionen um die Frauenordination haben ihr ganzes Leben begleitet. Schon in der Schule reifte ihre Entscheidung, „dass ich meinem Herrn innerhalb der Kirche dienen will“, erzählt sie. 1983, als sowohl sie als auch ihr Mann Piotr ihr Studium beendeten, wurde er zum Pfarrer ordiniert und sie zur Diakonin. Sie begann drei Jahre später als Religionspädagogin, später bekam sie eine Hilfsstelle als Seelsorgerin. Sie hat Piotr vertreten, seit er Pfarrer in Stettin war, sie hat Menschen begleitet, drei Kinder er­zogen, Wortgottesdienste gehalten, getauft und seit 2017, als das möglich wurde, auch Abendmahl gefeiert: „Mehr als 36 Jahre habe ich alles getan, was möglich war, habe immer gezeigt, dass Dienst von Frauen wichtig ist.“

Frauen wie Malgorzata Gaś sind wichtig, wenn im September der Lutherische Weltbund zu seiner alle sechs bis sieben Jahre stattfindenden Vollversammlung im polnischen Krakau zu Gast ist. Die Weltgemeinschaft zählt 77 Millionen Lutheraner in 99 Ländern. Offiziell begrüßt der Weltbund zwar die Frauenordination. Rund 120 der 148 Mitgliedskirchen praktizieren sie mittlerweile, hat die Sprecherin der polnischen Kirche, Agnieszka Godfrejów-Tarnogórska, zusammengetragen. Doch das Thema gehört zur unerledigten Tagesordnung, denn es ist an vielen Orten noch nicht selbstverständlich. Die jordanisch-palästinensisch-israelische Mitgliedskirche hat gerade ihre erste Pfarrerin in den Dienst eigeführt. Der lettische Erzbischof Jānis Vanags hat die in seiner Kirche immer umstrittene Frauenordination 2016 wieder abgeschafft ( zz12/2022 und 1/2023).

„Frauen werden kandidieren, wo sie gewollt sind“, sagt Malgorzata Gaś. Die meisten Pfarrerinnen ihrer Kirche haben zusammen mit ihren Männern eine Teilzeitstelle. Insgesamt verfügt die Kirche mit 133 Gemeinden über 160 Ordinierte. Malgorzata Gaś ist zusammen mit ihrem Mann Piotr an der Dreieinigkeitskirche in Warschau tätig, dem zentralen Gotteshaus der Lutheraner in der Hauptstadt, mit gut 1 800 Mitgliedern. Dass der Mann einer Pfarrerin einem anderen Beruf nachgeht, „das hatten wir noch nicht“. Und noch weniger eine lesbisch lebende Frau im Pfarramt: „Das ist bei uns noch kein Thema.“ Im Weltbund schon: Die äthiopische Mekane-Yesus-Kirche, die größte Mitgliedskirche, hat ihre Beziehungen zu den ebenfalls großen Kirchen in Schweden und den USA wegen deren Offenheit für homosexuelle Menschen in kirchlichen Ämtern aufgekündigt. Kann eine Kirche zwischen Tradition und Moderne wie die polnische in diesen Konflikten vermittelnd wirken und Verständnis wecken? „Die polnische Kirche hat auch zu diesem Thema noch gar keine Meinung“, sagt der Kulturwissenschaftler und Germanist Dariusz Bruncz, der das unabhängige Portal ekumenizm.pl mitgegründet hat.

Geld für Geflüchtete

Beim Umgang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine werden die rund tausend Delegierten und Mitreisenden der Vollversammlung hingegen ein Land erleben, das sich von Anfang an festgelegt hat – mit Waffenlieferungen, politischer Solidarität, mit Sanktionen gegen Russland und der Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine. „Der Zustand mit Russland ist ein Krieg“, sagt Jerzy Samiec, der leitende Bischof der Lutheraner. „Wer ehrlich sein will, soll sagen, wer der Angreifer ist, und wer sich verteidigt. Ich sehe keine Rechtfertigung dafür, dass Russland ein unabhängiges Land angreift, dem es Sicherheit garantiert hat.“

Die Diakonie der Kirche hilft den Flüchtenden. Schon in den vergangenen Jahren hat sie zum Missfallen ihrer Regierung Erstversorgungspakete unter syrischen Flüchtenden verteilt, die der belarussische Diktator Lukaschenko an die polnische Grenze schaffen ließ und gegen die der polnische Grenzschutz rüde vorging, berichtet Diakoniechefin Wanda Falk. Die Flüchtlinge aus der Ukraine ab dem Februar 2022 waren sofort willkommen. „Zuerst brach ein ungeheures Chaos aus“, erinnert sich Wanda Falk. Zwischen April und Oktober hat die Diakonie 15 Busse für Transporte nach Deutschland aufgetrieben und begleitet. Dann beteiligte sich die Diakonie am Bargeldprogramm des UNHCR. „Dafür mussten wir mehr als hundert Leute anstellen“, sagt Falk.

Ukrainische Geflüchtete erhalten in den ersten Monaten neben materiellen Hilfen umgerechnet 150 Euro pro Haushalt und zusätzlich 130 Euro pro Mitglied. Die Diakonie hat Geld an fast 35 000 Leute in rund 13 000 Haushalten ausgegeben. Insgesamt hat die Diakonie 93 Projekte für Geflüchtete organisiert, darunter Feriencamps für Kinder und ein Integrationsfrühstück. Schon aus der Zeit der russischen Besetzung des Donbass sind eine Million Ukrainer in Polen geblieben. Jetzt leben noch zwei weitere Millionen im Land, vor allem in den großen Städten. Damit ist die Einwohnerzahl Polens zum ersten Mal auf über vierzig Millionen gestiegen. Viele Polen haben Geflüchtete bei sich zuhause aufgenommen. Die Aufnahmebereitschaft ist mit Beginn des Ukrainekriegs sprunghaft gestiegen, sagen Umfragen der Diakonie.

Schwierig bleibt jedoch die Integration von Roma. „Der kulturelle Unterschied ist riesig“, sagt Wanda Falk, „sie haben eine andere Idee von Freiheit“. Daneben kommen immer noch Syrer über den fünf Meter hohen Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Belarus ins Land. „Die Regierung will aber keine anderen als ukrainische Flüchtlinge“, sagt Sprecherin Agnieszka Godfrejów-Tarnogórska und erinnert damit auch an frühere Jahre, in denen sich die polnische Regierung den Flüchtlingsströmen aus muslimischen Ländern verschloss und ihre Ablehnung mit der christlichen Kultur des Landes begründete. „Das erschwert auch unsere Arbeit, denn wir helfen allen.“ Die Polizei rühme sich mitunter, Flüchtende nicht durchgelassen zu haben. „Sie behandeln sie nicht nach internationalen Standards; es ist furchtbar.“ Manche Hilfe muss versteckt geschehen, fügt Wanda Falk hinzu.

Unterstützung bekommt die polnische Diakonie von der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe, von anderen kirchlichen Hilfsorganisationen und vom Lutherischen Weltbund. Der wendet den größten Teil seiner Mittel für den Weltdienst auf, seine Entwicklungsorganisation. Sie hat für die Unterstützung der Mitgliedskirchen in Polen, der Ukraine, der Slowakei und Rumänien eine eigene Stiftung gegründet mit Sitz in Warschau und sechs Niederlassungen. Der Weltdienst verfügt über jahrelange Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit und über Kontakte zu Regierungen, UN-Organisationen und bürgerschaftlichen Akteuren. In Polen hat er ein neues Feld aufgemacht. Es umfasst Schutz für Kinder, Prävention sexueller Gewalt und psychosoziale Unterstützung. „Im Dezember 2022 haben wir mit Projekten im Umfang von 43 Millionen Euro 69 000 Leute erreicht“, berichtet Teamchef Paolo Ferraris im Büro der Stiftung mitten in Warschau.

Das kirchliche Leben der polnischen Lutheraner bewegt sich zwischen Tradition und Moderne. „Die polnische Gesellschaft säkularisiert sich am schnellsten in ganz Europa“, sagt Dariusz Bruncz. „Der Kirchenbesuch bei der katholischen Kirche ist in den Städten auf zwanzig Prozent abgestürzt.“ 2018 lag er nach katholischen Quellen noch bei 37 Prozent. Das Ansehen der Kirche befinde sich im freien Fall. Doch die katholische Kirche, die mit fast 33 Millionen Mitgliedern 85 Prozent der Bevölkerung repräsentiert, setze nach wie vor Maßstäbe der öffentlichen Wahrnehmung dessen, was Kirche ausmache. In öffentlichen Medien sei noch Selbstzensur üblich, um Bischöfe zu schützen. Kritik am polnischen Papst Johannes Paul II. sei tabu. Doch das enge Verhältnis zu politischen Entscheidern koste die Bischöfe Vertrauen. Bischöfe erwarteten von der Politik, dass sie sie vor rechtlichen Konsequenzen aus Missbrauchsskandalen schütze. Und dass sie die Säkularisierung aufhalte, „doch die ist längst da.“ Die Hälfte aller Frauen zwischen 18 und dreißig in Polen habe mitprotestiert, als 2020 die Abtreibung in Polen faktisch verboten wurde.

Viele Konvertiten

Unter den Minderheitskirchen ist die lutherische mit 60 000 Mitgliedern nach der polnisch-orthodoxen die Nummer zwei. Die kleinen Kirchen spielen öffentlich keine wichtige Rolle, schätzt Bruncz. Doch habe die Einführung der Frauenordination bei den Lutheranern Aufmerksamkeit erregt. Menschen, die aus der katholischen Kirche austreten, „werden Atheisten oder kommen in die lutherische Kirche“. Dort gleichen sie eine Lücke aus, sagt Bruncz. Denn auch die lutherische Kirche kämpft damit, dass Jugendliche ihr nach der Konfirmation den Rücken kehren. Dreißig Prozent der Mitglieder in der Dreieinigkeitskirche, wo Malgorzata und Piotr Gaś amtieren, seien konvertierte Katholiken. Piotr Gaś spricht von vierzig Konversionen aus dem Katholizismus allein im vergangenen Jahr.

„Ein Teil unserer Identität ist Ökumene“, steht im Flyer, der am Eingang ausliegt. „Unsere Kirche ist die Wiege der polnischen Ökumene, bereits in den schwierigen Zeiten des Zweiten Weltkriegs.“ Hier wurde 1946 der Polnische Ökumenische Rat gegründet. Im Jahr 2000 wurde in der Kirche, mittlerweile im geografischen Mittelpunkt der Hauptstadt, eine Erklärung zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe zwischen den meisten der sieben Mitgliedskirchen, die etwa eine Dreiviertelmillion Christen vertreten , unterzeichnet. Die katholische Mehrheitskirche gehört nicht dazu. Für Gaś bezeichnet das Lutherische seine theologische Identität, „aber sie grenzt mich nicht von anderen ab, denn ein guter Lutheraner konzentriert sich nicht chauvinistisch auf sich selbst.“

Damit greift er das Thema der bevorstehenden Vollversammlung des Weltbundes auf: „Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung“. Aber die Ökumene hat ihre Probleme. Funktionierende Zusammenarbeit mit der katholischen Mehrheitskirche gibt es vor allem in Łódź, Oppeln und Lublin, berichtet Dariusz Bruncz. Doch als die katholischen Bischöfe 2021 Berichte über das kirchliche Leben für den Synodalen Prozess der Weltkirche abgaben, sei Ökumene gar nicht vorgekommen, kritisiert er – „eine Bankrotterklärung“. Für den katholischen Publizisten Tomasz Terlikowski spiegelt sich darin der Zustand der katholischen Kirche: „Es gibt keinen Dialog. Bischöfe sprechen nicht mit Priestern, die nicht mit Diakonen, die nicht mit Laien.“

Was werden die Delegierten der Vollversammlung aus dem Land mitnehmen? Das fragen sich die deutschen Teilnehmenden bei einem Vorbereitungstreffen im Januar in Krakau. „Einheit wird das zentrale Motiv sein“, sagt der Leitende Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland und hannoversche Landesbischof Ralf Meister. „Angesichts einer zerrissenen Welt wird die Verantwortung für eine gerechte Weltgemeinschaft und den Erhalt unserer Schöpfung nur als gemeinsames Projekt erfolgreich sein.“ Hoffnung setzt Meister auch auf einen geplanten Besuch im Konzentrationslager Auschwitz: „Wer dort war, wird den vollständigen Verlust der Humanität empfinden, der zur systematischen Vernichtung des europäischen Judentums führen sollte. Wir verachten Gott im Krieg, Terror, in der Umweltzerstörung und Gleichgültigkeit. Die Vollversammlung wird sich mit dieser Geistlosigkeit auseinandersetzen.“

Auch Auschwitz

Bischof Jerzy Samiec hofft für seine Kirche: „Wir werden von der Weltgemeinschaft wahrgenommen. Wir können ihr unsere Gastfreundschaft zeigen, die Stadt Krakau, die missionarisch orientierte Kirche im Teschener Land – und auch Auschwitz.“

Dann fügt er einen gewagten Satz an: „Wir müssen uns vom Holocaust befreien.“ Es gelte, nicht nur auf konkrete Ereignisse zu sehen, sondern Mechanismen zu erkennen und zu bekämpfen. Eine Reihe kleiner Schritte, Ausgrenzungen und Boykotte, habe zum Antisemitismus geführt. Heute gehörten Juden zu den Opfern von Diskriminierung, „aber manchmal stehen sie auf der Seite der Täter.“ Nirgends dürfe man gleichgültig werden. Er nennt das Stichwort Palästina, aber will nicht konkreter werden.

Der Lutherische Weltbund ist im Nahen Osten besonders engagiert. Seit 1950 betreibt er das ursprünglich deutsche Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Ost-Jerusalem. Es ist Teil der palästinensischen Gesundheitsversorgung und litt in den vergangenen Jahren darunter, dass die EU oder die USA Zahlungen an die palästinensische Autonomiebehörde aussetzten. Das veranlasste den Weltbund zu heftiger Kritik an den USA und der Europäischen Union. Der frühere palästinensische Bischof Mounib Yunan, der bis 2017 auch Präsident des Lutherischen Weltbundes war, gilt als Kritiker Israels. Doch eine in Kirchenkreisen diskutierte Verurteilung Israels als Apartheidstaat hält der polnische Bischof für falsch: „Das sind politische Spiele. Die Vollversammlung sollte sie vermeiden.“ 

 

Informationen
https://2023.lwfassembly.org/de

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