Konflikte wagen!

Warum Protestanten ökumenisch mehr aufbegehren müssen
Traueransprache Papst Franziskus
Foto: Peter Dabrock

Der Erlanger Professor für Systematische Theologie, Peter Dabrock, kritisierte zu Jahresbeginn auf Twitter die kühle Predigt von Papst Franziskus für den verstorbenen Papst Benedikt und handelte sich den Vorwurf eines „ökumenischen Fouls“ ein. In seinem Text reflektiert Dabrock, bis 2020 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, den Vorgang und fordert mehr Ehrlichkeit im protestantisch-katholischen Diskurs.

Eine Phrase reiht sich an die nächste. „Wer würde eine solche Ansprache am Grab eines normalen Gemeindemitglieds wagen?“, ging es mir mit Unverständnis durch den Kopf, als ich vor einigen Wochen im Fernsehen die Predigt von Papst Franziskus anlässlich der Trauerfeier für seinen verstorbenen Vorgänger Benedikt XVI. sah und hörte – und, geschenkt, mir sind schon die institutionellen Rahmenbedingungen dieser besonderen Liturgie bewusst. Dennoch fand ich das Ganze überaus trostlos. Deshalb setzte ich kurz nach der Feier den folgenden Tweet auf Twitter ab:

„Traueransprache #Franziskus für #BenediktXVI sinnbildlich für die katholische Kirche: Floskeln, lustlos, kraftlos, unpersönlich. Wie soll eine solche #Kirche Menschen halten, geschweige denn anlocken?“.

Diese Twitter-üblich nicht zu allzu großen Differenzierungen fähige Deutung hat dann im Netz eine intensive Diskussion losgetreten. Manche fühlten sich verletzt, andere deuteten die Ansprache für Benedikt anders, sahen darin gar eine tiefe Spiritualität walten. Dazu könnte man viel sagen, aber was mich nachhaltig überraschte, war die Tatsache, dass ausgerechnet von mir als progressiv eingeschätzte katholische Theologen Franziskus verteidigten und ich umgekehrt für meine Kritik an der Predigt Lob erhielt von eher konservativen Menschen.

Das ist insofern bemerkenswert, weil man (katholischerseits) an sich eine persönliche Traueransprache als liturgisch progressiv erachten würde, aber ausgerechnet Progressive hier den Rückgriff auf Traditionen vornahmen. Sind die Fronten in der katholischen Kirche so verhärtet, dass jegliche Kritik an Franziskus, dem letzten vermeintlichen Hoffnungsstrohhalm von und für Reformwilligkeit, gleich als Angriff auf Reformbestrebungen überhaupt gewertet wird? Und umgekehrt scheint dem traditionalistischen Lager jedes Mittel recht zu sein – auch mit theologischer Inkonsequenz –, Franziskus zu diskreditieren.

Aber um diesen Konflikt zwischen den bekannten Lagern in der katholischen Kirche ging es mir bei der Kritik an der Predigt nicht. Allerdings habe ich in meinem Tweet – und das war sicher vielen ein Dorn im Auge – die These vertreten, dass eine solche Predigt sinnbildlich für die katholische Kirche als Ganzes steht. Dies sei ein grobes ökumenisches Foul, so wurde mir vorgeworfen.

Bittere Realität

Und in der Tat stellt sich die Frage: Darf sich ein evangelischer Theologe so scharf zur katholischen Kirche äußern? Ich sage „Ja“, denn es geht heutzutage in diesem Themenfeld um Fragen, die weit jenseits der katholischen Kirche bedeutsam sind. Natürlich ist ökumenische Sensibilität wichtig, aber nicht hinreichend dafür, sich zu bestimmten Entwicklungen nach gewisser Zeit nicht äußern zu dürfen. Ich äußere mich schon deshalb, weil ich als öffentlicher Theologe, also als jemand, dem das Forum der Öffentlichkeit unter Beteiligung von Kirche und Theologie wichtig ist, wahrnehme, dass der alte Witz „Die Leute treten aus der evangelischen Kirche aus, weil der Papst die Pille verbietet“ inzwischen vielfach bittere Realität geworden ist: Stichwort „Woelki“. Zugleich gestehe ich sofort zu: Was sagt es über das Erscheinungsbild der evangelischen Kirchen und ihrer Vertreter:innen aus, wenn sie offensichtlich so wenig Profil bilden, dass immer mehr Menschen diese fatale Identifizierung vornehmen? Natürlich nichts Gutes. Geschenkt!

Aber zurück zur katholischen Kirche, genauer der offiziellen römisch-katholischen Amtskirche: Mit Blick auf sie kann ich in vermeintlich ökumenischer Höflichkeit nicht mehr akzeptieren, dass und wie sie sich aufstellt, wie wenig sie willig ist, moderne Menschen in ihrer Suche nach Sinn, Gemeinschaft und Hoffnung ernst zu nehmen und stattdessen ein klerikalistisch-verknöchertes Bild der Botschaft Jesu Christi vertritt, das der tröstenden und verheißungsvollen Grundbotschaft von neuem Leben, von versöhnter Endlichkeit und Liebe massiv widerspricht. Leider, leider erfolgten und erfolgen zumeist nur floskelhafte, im Handeln ganz unangemessene Reaktionen auf den größten Skandal ihrer neueren Geschichte, den Skandal um die sexualisierte Gewalt, ihre halbherzige Aufarbeitung. Dies fügt dem christlichen Zeugnis in der Welt dramatischen Schaden zu. Das empört mich.

Man könnte also umgekehrt formulieren: Es ist ein ökumenischer Skandal, wie die offizielle römisch-katholische Kirche diesem ökumenischen Anliegen, die Sache Jesu zu befördern, schadet – und da darf man irgendwann sagen: „Es reicht! Es reicht auch mit der Höflichkeit!“ Erste Signale wie die der rheinischen Kirchenleitung, eine offizielle Einladung zu einem Empfang von Kardinal Woelki auszuschlagen, sind schmerzhaft, ein Offenbarungseid für beide Seiten, aber überaus nachvollziehbar.

Der Verweis auf die Ökumene darf kein Diskurs-Stopper sein, um unangenehmen Wahrheiten nicht ins Auge sehen zu müssen. Und zu diesen unangenehmen „Wahrheiten“ könnte dann eben für viele zählen: „In dieser Kirche kann ich nicht länger meine Glaubensheimat finden“ – auch wenn die mit bewundernswerter (oder Don Quichotte’scher) Hartnäckigkeit um den Synodalen Weg sich versammelnden Reformkatholiken dies anders sehen wollen, um nicht zu verzweifeln.

Die offizielle römisch-katholische Kirche aber ist allen alternativen dogmatischen und praktisch-theologischen Deutungen vom pilgernden Volk Gottes und ähnlichen dynamischen Bildern zum Trotz kirchenrechtlich eine streng von oben nach unten, hierarchologisch organisierte, statische Organisation, die eine strenge Grenze (mit einem – hier nicht zu diskutierenden – Ausnahmefall des Diakonats von sogenannten viri probati) zwischen den dem Zölibat verpflichteten Klerikern und den sogenannten Laien kennt. Das bedeutet, dass in die entscheidenden Leitungsämter nur unverheiratete Männer kommen, die in diesem klerikalen Gestus erzogen worden sind und darin oftmals ihre primäre Anerkennung suchen (müssen).

Nüchtern betrachtet lässt sich dieses System tatsächlich nur so ändern, dass der Druck so groß wird, dass in möglichst großem Konsens mit den anderen Bischöfen der eine Mann auf dem Papstthron sagt: „Jetzt müssen wir umkehren und vieles ändern: Aggiornamento!“ Scharf formuliert: Wenn eine Milliarde Katholiken „Hü!“ rufen, aber die eine Person auf der Kathedra Petri „Hott!“ sagt, gilt „Hott!“ So klar ist das katholische Kirchenrecht – es rechnet durchaus mit Schwarmintelligenz oder in der kirchlichen Sondergruppensemantik formuliert: mit dem Heiligen Geist, aber eben nicht ohne die Bestätigung dieser einen Person.

Beim Ersten Vatikanischen Konzil 1870 wurde in der bis heute gültigen dogmatischen Konstitution Pastor aeternus beschlossen, Kapitel IV: „Wenn der Römische Bischof ‚ex cathedra‘ spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, dass eine Glaubens- und Sittenlehre von der gesamten Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte; und daher sind solche Definitionen des Römischen Bischofs aus sich (ex sese), nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich (non autem ex consensu Ecclesiae irreformabiles).“

Ritualisiert und verknöchert

Dass ein solch hierarchologisches Modell in der Gefahr steht, die Glaubensbotschaft eher ritualisiert – andere würden sagen: verknöchert – zu vertreten, überrascht nicht wirklich. Und in Zeiten des vielfachen Traditionsabbruches, in denen Religionsgemeinschaften ihre Glaubwürdigkeit – jedenfalls wenn sie nicht nur vor und in der eigenen Bubble ihre Botschaft zelebrieren wollen – neu suchen müssen, wirkt sich ein solcher Ansatz fatal aus. Ja, man kann sagen: Nicht der böse Zeitgeist treibt viele Leute aus der Kirche, sondern dass die Kirche die Zeichen der Zeit nicht erkennen will und nicht bereit ist, sie im Lichte des Evangeliums zu deuten – um mit einer berühmten Formulierung des Vaticanum II zu „spielen“. Die harsche Reaktion von Papst Franziskus auf die Bemühungen des Synodalen Weges (sinngemäß: „Wir haben in Deutschland bereits eine evangelische Kirche; wir brauchen keine zweite“ und wenig später dann der Vorwurf, der Synodale Weg sei eine „elitäre Veranstaltung“) sollte allen die Augen geöffnet haben, wie weit der Reformwille in Rom – präziser: bei Franziskus selbst – reicht.

Was meinen Tweet Anfang des Jahres angeht, bin ich durchaus selbstkritisch, denn es war wohl nicht allen klar – und ich habe es nicht verständlich genug gemacht –, dass ich mit meiner Kritik natürlich „nur“ die offizielle römisch-katholische Amtskirche meine. Obwohl die Gleichsetzung aus deren Sicht legitim, ja geboten ist, hätte ich deutlicher schreiben können, dass es die unendlich viel Engagierten und die gibt, die immer noch Hoffnung in Reformen setzen. Selbstverständlich sind auch sie und die immense Vielzahl und Vielfalt ihrer Spiritualität und ihres bezeugten Glaubens katholisch. Unbedingt! Die römisch-katholische Amtskirche beansprucht zwar die religiöse „Trademark“ ‚katholisch‘, aber diese ist weder faktisch noch normativ exklusiv. So habe ich großen Respekt vor vielen kritischen und engagierten Glaubensgeschwistern innerhalb der katholischen Kirche und verstehe, dass sie sich verletzt fühlen durch eine von mir so zunächst vorgenommene Generalisierung, dass die Predigt des Franziskus für den verstorbenen Benedikt sinnbildlich für das Katholische stehe. Natürlich habe ich das verknöcherte amtskirchliche System gemeint.

Andererseits – und deswegen kann man die Einzelbeobachtung der Predigt als Anlass für weitergehende Interpretationen, die nicht den Anspruch vertreten, eine direkte Ableitung zu bieten, nutzen – müssen sich auch die Engagierten und Kritischen schon sagen lassen, dass sie auf Reformen in genau dieser Organisation setzen, die für sich diesen exklusiven Selbstanspruch auf das Label „katholisch“ hat. Ich kann auch nicht sagen, wenn ich in einer Partei bin, aus der andauernd problematische Äußerungen von der Parteispitze kommen: „Aber damit habe ich nichts zu tun; ich arbeite daran, dass sich das ändert.“ Wenn ich dann nicht willig bin, Konsequenzen zu ziehen, wenn sich wider Erwarten meinerseits über einen langen Zeitraum die Positionen der Parteiführung nicht ändern, dann darf es mich nicht wundern, dass ich irgendwann genau mit der von mir selbst von innen heraus kritisierten Partei von außen identifiziert werde.

Geistliche Schwarmintelligenz

Natürlich sehe ich den Geist des Beharrens, der Verknöcherung und der Mutlosigkeit auch in den evangelischen Kirchen. Geschenkt! Aber darum geht es bei der Diskussion im Anschluss an die Predigt von Franziskus nicht, denn mit einem solchen Whataboutism kann man sich gegen jegliche Kritik immunisieren. Mir ging es um diese Predigt und um ihre möglicherweise symptomatische Bedeutung für das Selbst- und Fremdverständnis der katholischen Kirche, die nach Auffassung der katholischen Amtskirche eben mit der von oben nach unten organisierten römisch-katholischen Kirche identisch ist.

Wenn die offizielle römisch-katholische Amtskirche diese Sensibilität als Zeitgeist diskreditiert, dann bin ich froh, dass evangelischer Glaube diesem Zeitgeist Raum gibt. Im Prinzip und in aller Zweideutigkeit ist die evangelische Kirche so zumindest konstitutionell ehrlicher und von der Möglichkeit her, geistliche Schwarmintelligenz auch zur Wirkung kommen zu lassen, näher bei den Menschen. Diese nüchterne Einsicht mag für manchen ein ökumenisches Foul sein, aber diesseits solcher Diskursstopperrhetorik sollten wir uns alle in mehr offener Ehrlichkeit und ehrlicher Offenheit üben. Es steht zu viel auf dem Spiel. 

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Peter Dabrock

  Peter Dabrock ist seit 2010 Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war Dabrock Mitglied des Deutschen Ethikrates und von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender.


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