In der Politikwissenschaft werden die Stimmen immer lauter, die eine Moralisierung politischer Debatten beklagen. Während Immanuel Kant in der Moralisierung die höchste Stufe menschlicher Selbstbestimmung sah (nach Kultivierung und Zivilisierung), wird Moralisierung heute vielfach als narrative Strategie wahrgenommen, um politische Debatten in eine bestimmte Richtung zu drängen. Auch theologisch wird das Problem gesehen. So hat Ulrich J. Körtner schon vor einigen Jahren vor einer Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche gewarnt und die mangelnde Auseinandersetzung mit Fakten problematisiert. Oft schlägt die moralische Diskreditierung bestimmter Auffassungen und Verhaltensweisen um in die moralische Diskreditierung der Menschen, die sie vertreten. Nicht weniger polarisierend wirkt allerdings der konkret erhobene Vorwurf der Moralisierung. Als moralisierend möchte man nicht wahrgenommen werden. Die moderne Emanzipationsgeschichte von den christlichen Moralanforderungen hat deutliche Spuren hinterlassen in der Kodierung von Moral.
Der Wechsel zwischen Prozessen der Moralisierung und Gegenbewegungen der Entmoralisierung kennzeichnet allerdings nicht erst die Situation des Christentums in der Moderne. So kann man zum Beispiel Martin Luthers Kritik an der Buß- und Ablasspraxis seiner Zeit als Moralisierungskritik lesen. Sie galt einer Form der Buße, die den Menschen in eine aporetische Situation im Verhältnis zu sich selbst und zu Gott bringt. Denn die Konzentration auf die Würdigkeit der Bußleistungen im spätmittelalterlichen Bußwesen stimulierte in Luthers Analyse die Vorstellung, man könne sich eine moralische Dignität vor Gott erarbeiten. Gerade in solcher Moralisierung der Gottesbeziehung wird aber die reine Gnade und wahre Güte Gottes verkannt. Denn diese zeigt sich, wie Luther erkannte, darin, dass Gott selbst die trennende Macht der Sünde in Jesus Christus aufhebt und die Vergebung nicht an Vorleistungen des Menschen bindet. Vor diesem Hintergrund konnte die Buße für Luther zu einem befreienden Geschehen werden.
Die Buße steht heute nicht mehr im Zentrum christlicher Glaubenspraxis. Mit Blick auf die moralisierenden Züge, die die Buße auch unter nachreformatorischen Bedingungen nicht loswurde, mag man das begrüßen. Aber wo das Thema nicht mehr präsent ist, droht auch eine christliche Grundeinsicht aus dem Blick zu geraten, die gerade für die Reflexion auf das Phänomen der Moralisierung bedeutsam ist. Sie besteht darin, dass hinsichtlich der moralischen Dignität alle Menschen in der gleichen Situation sind. Alle Menschen sind auf Gnade und Vergebung angewiesen sind, weil sie in Selbstzentriertheit verstrickt sind und ihre Endlichkeitsbedingungen verkennen. So übersetzen moderne Sündenlehren die traditionelle Vorstellung von der Konkupiszenz. Zwar wird, wie der Philosoph Christian Seidel zeigt, moralische Urteilsbildung durch die immer umfassendere Information und die Diskurse in sozialen Medien angekurbelt. Aber erweitern sich damit die menschlichen Möglichkeiten, die Handlungsfolgen zu überschauen? Und könnte es sein, dass die Selbstzentriertheit mit einem Hang zum Moralisieren einhergeht?
Friederike Nüssel
Friederike Nüssel ist Professorin für Systematische Theologie in Heidelberg und Herausgeberin von zeitzeichen.