Sankt Arthouse

Liebe auf den ersten Blick in den Lichtspielen
Foto: Privat

Als Junge vom Dorf gab es im oft tristen Alltag wenige Chancen auf kleine Fluchten, aber das Kino war ein erreichbares Versprechen. Feuer und Flamme wurde ich bei den wenigen Gelegenheiten, wenn während der Kuren auf Borkum das Kino Kur-Lichtspiele noch geöffnet hatte. Lex Barker und vor allem Pierre Brice waren meine ersten Helden, mit denen ich mich spielerisch identifizierte. Beide verwahre ich noch immer sicher in einer dritten Herzkammer – auch wenn die Figuren Winnetou und Old Shatterhand heute etwas in Verruf geraten sind und (nicht zu Unrecht) als folkloristische Darstellungen einer indigenen Kultur gelten. Für Uschi Glas, Apanatschi, habe ich leise geschwärmt. Tagelang übte ich die Stimmlage von Sam Hawkens, gespielt vom famosen Ralf Wolter.

Das nächste Kino war in der Kreisstadt Nordhorn sechzehn überdehnte Bus-Kilometer entfernt. Am liebsten bin ich im Hochsommer vor der Sonne, mit der ich bis heute fremdele, ins Dunkle des Kinos geflohen, die Erzählungen hinterher waren Hymnen ans Kino. Ich bin lichtempfindlich, liebe aber Lichtspiele des Kinos. Die großen Franzosen. Claude Chabrol (Der Schlachter), später Éric Rohmer (Das grüne Leuchten). Nouvelle vague. Neue französische Welle. Reduziertes Spiel, Regisseure, die Pausen zuließen, die den Blicken und der Mimik ihrer Schauspieler vertrauten, den Film nicht unnötig mit Wörtern verschmutzten. Sanfte, nicht knallige Töne der Lebensfreude. Nicht nur die Franzosen passten zu meiner mentalen Inneneinrichtung, auch die Filme des Deutschen Rudolf Thome, von der nouvelle vague kräftig beeinflusst, dienten als urbane Möbel. Jeder Film war ein kleiner und doch mächtiger Schritt zur Verstädterung.

Klebriger Titel

Ich erinnere mich präzise: Zunächst stockte ich, weil der Titel des neuen Films von Rudolf Thome mit Kitsch kokettierte: Liebe auf den ersten Blick. Das hörte sich nach einem Bastei-Arzt-Roman an. Nahe am Schund. Zumindest Schwulst. Dann bewunderte ich die Chuzpe von Rudolf Thome, solch einen klebrigen Titel zu wählen, tauchte ins Dunkle ab. Und wurde nicht enttäuscht. Der Film startet, wie man später erfährt, in Kleinmachnow, vor den Türen Berlins. Aus einem eingerüsteten Haus tritt ein junger Mann in DDR-beige und -grau mit zwei Kindern, setzt sie in zwei definitiv nicht vom ADAC geprüften Fahrradsitzen und fährt, ein bravouröser Balanceakt, mit ihnen nach Berlin auf einen nahen Kinderspielplatz. Beide Kinder, etwa drei und anderthalb Jahre alt, rennen sofort los und fangen an zu buddeln. Ein kleines Mädchen kommt dazu. Der Mann setzt sich auf eine Bank und zieht aus seiner ALDI-Tasche ein dickes, fest eingebundenes Buch.

Nach kurzer Zeit setzt sich eine junge Frau zu ihm auf die Bank und spricht ihn an. Sind das ihre Kinder? Später erfahren die Zuschauerinnen seinen Namen: Zenon Bloch. Zunächst reagiert er wie der Gründervater der antiken Philosophie der Stoa, mit dem er seinen Vornamen teilt, Zenon eben, extrem stoisch und er gestattet sich nur einige kurze, tastende, flüchtige Blickwechsel, antwortet nur das nötigste, als würde jedes Wort die Situation ruinieren. Sie, Elsa Süßeisen, bleibt offensiv, lädt ihn, nachdem seine Kinder und ihre dreijährige Tochter ausgespielt haben, in ihr Haus in einer Neubausiedlung ein. Er ist zunächst zurückhaltend – Sie sind ein wildfremder Mensch –, radelt dann aber doch mit den Kindern hinter ihrem Kleinwagen her. Sie ist Zukunftsforscherin, er arbeitsloser Archäologe, zusammen decken sie die bisherige und künftige Menschheitsgeschichte ab. Ostmann plus Westfrau. Sein Nachname, noch eine Anspielung auf einen Philosophen, signalisiert: Bloch, eine Philosophie der Hoffnung. Kann das wirklich gut gehen? Wer Thomes Filme gesehen hat, der weiß: das geht gut.

Szene aus "Liebe auf den ersten Blick" mit Julian Benedikt und Geno Lechner Foto: DIF

Szene aus "Liebe auf den ersten Blick" mit Geno Lechner und Julian Benedikt. Foto: DIF

Der vielleicht zehnte Satz, der fällt, ist die Frage: Sind Sie glücklich? Er verweist auf die Liebe zu seinen Kindern, die er nach dem Unfalltod der Frau alleine großzieht. Lisas Mann hat sich nach Amerika abgesetzt. Ob er nicht den Willen habe, die Welt besser zu machen? Antwort: Wenn man die Macht dazu hat! Sie schaut ihn an: Sie sind ein starker Mann. (Übrigens: Für Aufheiterungen im Film sorgt die Freundin Jutta, eine Lehrerin mit viel Antriebskraft, die sich über Eltern wundert, die ihren Geschichtsunterricht empört findend, etwa deshalb, weil sie den Schülern davon unterrichtete, Napoleon habe vor seiner baldigen Rückkehr von einer Schlacht seiner Liebsten geschrieben: Wasch dich nicht mehr!)

Grammatisch problematisch

Zenon und Lisa bekommen sich nicht aus dem Kopf. Sie ergreift die Initiative: Ich will mit dir schlafen. Er: Ich auch. (Grammatisch eine milde problematische Antwort.) Es fällt prompt noch ein Satz, den man sich selbst verbieten würde: Du bist die schönste Frau der Welt. (Wir würden wahrscheinlich sagen: Entschuldige, es ist abgedroschen, eine Phrase, ja, ja, das weiß ich, klar, aber es ein perfekter und nicht zu toppender Satz, denke an die Szene in dem Roman von … usw.) Ich bin mir sicher: Damals schauderte ich kurz. Ihre Antwort ist völlig überraschend: Glaubst du an Gott? Er: Nicht direkt, aber irgendwie doch. Die Natur ist so wunderbar, das fühle ich ganz besonders jetzt. Thome inszeniert eine extrem ausführliche Liebesszene, die ohne ekstatische Bekenntnisse auskommt. Sie sitzt rittlings auf Zenon und beide schauen sich die ganze Zeit während des Aktes in die Augen, ein Blickereignis, das länger als fünf Minuten dauert. Nie wird die Szene peinlich und etwas Großes ist mit im Spiel.

Der Schluss ist schnell erzählt. Sie mieten ein Wohnmobil und fahren mit den drei Kindern an die Ostsee. Er findet Arbeit als Archäologe. Sie macht Karriere. Das verdanke ich dir und deiner Liebe zu mir. Sie kaufen ein Haus. Sie verloben sich. Ich will ein Kind von dir. Beinahe jeder Satz ist ein Satz aus einem Handbrevier für Regisseure, die wissen wollen, wie man einen Flop inszeniert: Achtung: So ruinieren Sie Ihren Film. Garantiert! Und doch passt jeder Satz, ich fühlte mich angerufen. Diese verschatteten Sätze, die plötzlich aus der Höhle der beiden Münder ins Licht traten, legten einen veritablen Neustart hin. Unverbraucht und quicklebendig. Und schaute man genauer hin, dann hatten die Sätze kleine Flügel. Beglückt packte ich die Vereinigung von Ost und West als Hoffnungsbild ein, als ich das Kino verließ. Ja. Das gibt es. Liebe auf den ersten Blick. Das ist märchenhaft aber kein Märchen.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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