Wahrheit ist immer konkret

Wider die theologischen Vereinseitigungen in der Diskussion um den Klimaschutz
Bocca della Verita (Mund der Wahrheit) in der Kirche Santa Maria in Cosmedin in Rom, Relief aus dem 15. Jahrhundert.
Foto: picture alliance
Bocca della Verita (Mund der Wahrheit) in der Kirche Santa Maria in Cosmedin in Rom, Relief aus dem 15. Jahrhundert.

Die Attacke, die der Hamburger Theologe Constantin Gröhn gegen die drei Theologen Günter Thomas, Ulrich H.J. Körtner und Ralf Frisch fuhr, reizt die Verlagsleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt, die promovierte Systematische Theologin Annette Weidhas, zum Widerspruch. Für sie hat Gröhn die Kritisierten fundamental missverstanden und ihnen Unrecht getan.

Kürzlich erschien auf zeitzeichen.net der Artikel eines theologischen Referenten für Diakonie und Bildung namens Constantin Gröhn, der kritisiert, dass der Wiener Systematiker Ulrich H. J. Körtner einseitige Tendenzen im deutschen Protestantismus als gesinnungsethisch moralistisch beschreibt und von sektenhafter „Klimareligion“ spricht. Das Sprachbild der Sekte „erinnere“ ihn „an die Kampfschriften gegen die Weimarer Republik“. Diese Art beliebiger Assoziation ist unanständig. Genauso gut könnte ich behaupten, dass mich mein Nachbar, ein überzeugter Vegetarier und ausgesprochener Hundenarr, an Hitler „erinnere“.

Einbezogen in dieses Framing werden bei Gröhn zwei weitere Systematische Theologen: Günter Thomas und Ralf Frisch. Ungeachtet der Tatsache, dass Günter Thomas Verantwortung im Kuratorium von Studium in Israel trägt und auch Ralf Frisch nie den leisesten Grund zu solcher Verdächtigung gegeben hat, werden beide in freier Erfindung mit „antisemitischer Tradition“ in Verbindung gebracht. Hier wird das Gegenteil dessen behauptet, was der Fall ist. Die Trickkarten sind angeblich „bedenkliche Bilder“, mit denen alle drei Theologen arbeiten würden. Wer auf solche Weise Personen aus dem Diskurs entfernen will, statt sich argumentativ mit ihnen auseinanderzusetzen, bestätigt den Vorwurf, gegen den er anschreibt.

Doch darum geht es mir hier nur am Rande, Günter Thomas hat dazu das Nötige geschrieben. Mir geht es um eine Versachlichung der Debatte am Beispiel des Klimaschutzes, denn kein denkender Mensch kann gegen Klimaschutz sein, wie fälschlicherweise in Blick auf Körtner, Thomas und Frisch behauptet wurde. Was kritisiert wird, sind Vereinseitigungen, die das Thema unterkomplex und wenig realitätsnah angehen. Darauf beziehen sich die Begriffe „Klimareligion“ und „Sekte“.

Vor allem aber kritisieren die drei inkriminierten Systematiker damit, dass manche Theologen und Teile unserer Kirchen ihr theologisches Proprium zu sehr vernachlässigen. Das hat viele Gründe. Ein zentraler Grund ist meines Erachtens ein problematisches Wahrheitsverständnis, das vorschnell eine Seite gesellschaftspolitischer Moral absolut setzt und mit christlicher Ethik identifiziert. Möglich ist das jedoch nur, wenn der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubensbekenntnisses weitgehend aufgelöst wird, indem man annimmt, Wahrheit sei am ehesten dort zu finden, wo man zwischen Religionen, Konfessionen und politischen Einheiten den kleinsten gemeinsamen Nenner vermutet, der noch dazu in aller Regel zeitlich und räumlich eng begrenzt ist. Dieses Missverständnis wird anhand eines Artikels des von mir als Person geschätzten Eberhard Pausch diskutiert.

Tempolimit „fast niedlich“

Die „Klimakatastrophe ist die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts“, schreibt Pausch auf zeitzeichen.net als Replik auf Ulrich H. J. Körtners Artikel „Die letzte Generation?“. Das ist sehr wohl möglich, auch wenn der Ausgriff auf ein ganzes, gerade erst begonnenes Jahrhundert von prophetischem Mut zeugt. Im Moment ist der russische Imperialismus die größte Herausforderung. Der allerdings verschärft die Bedrohung der Klimakrise enorm. Was durch den russischen Angriffskrieg an CO2-Ausstoß generiert wird, wird allenfalls übertroffen werden durch den hoffentlich bald möglichen Wiederaufbau der Ukraine, des flächenmäßig nach Frankreich zweitgrößten Landes Europas. So oder so steht Putin der 1,5-Grad-Begrenzung der Erderwärmung entgegen. Und neben der zunehmenden Zahl tief korrupter Autokratien und Diktaturen in anderen Weltregionen tun China und Indien viel, um ihn dabei zu unterstützen.

So gesehen wirkt es fast „niedlich“, wenn Christen in Deutschland Tempolimits als der Politik vorausgreifende Selbstverpflichtung propagieren. – Doch natürlich: Ein wenig würde ein Tempolimit helfen, auch wenn man auf deutschen Autorbahnen wegen der unzähligen Baustellen ohnehin meist nur noch eingeschränkt fahren kann. Das Problem an dieser Stelle ist die einseitige Ausrichtung auf den Individualverkehr. Seit dreißig Jahren will man den Güterverkehr stärker auf die Bahn umlegen. Das Gegenteil ist geschehen. Man könnte auch in Atomkraft investieren, wie es die meisten anderen Industrieländer inzwischen tun. Die Probleme dabei sind mir bewusst. Aber sie tauchen auch in anderen energiepolitischen Hinsichten auf. Realpolitik muss ethische Abwägungsfragen beantworten. Symbolpolitik tut so, als wäre dies aufgrund moralischer Eindeutigkeit nicht nötig.

Was hier fehlt, ist eine Trennung zwischen moralischer und politischer Sphäre. So schützt man sich vor Abwägungsdilemmata und fragt nicht: Was ist mit dem Wohnungsbau, der Textilproduktion und der Digitalwirtschaft? Der Wohnungsbau ist der klimaschädlichste Bereich überhaupt. Doch in Deutschland leben immer mehr Menschen. Die brauchen Wohnungen. Gleichzeitig wollen wir zurecht immer mehr Flächen als Naturschutzgebiete ausweisen, Moore renaturieren, Steinbrüche minimieren usw. Ich bin unbedingt dafür. Nur: Was machen wir mit der wachsenden Bevölkerung? Auch Saunagänger sind ein Kreuz. So viel Energieverbrauch! Skifahrer auf nur noch künstlich beschneiten Pisten sind eh out. Aber was ist mit den Veganern? Obst und Gemüse, das aus immer stärker austrocknenden Weltgegenden zu uns gefahren oder geflogen wird. Und benutzen flächenvernutzendes Rapsöl, da sie auf regenwaldgefährdendes Palmöl verzichten wollen.

Unausweichliche Platikverpackungen

Als Verlagsleiterin weiß ich, dass auch die Buchproduktion nicht klimaschonend ist. Immerhin verzichten wir inzwischen, wo es geht, auf gedruckte Werbemittel und versenden digitale Weihnachtsgrüße. Das aber ist, wie ich kürzlich las, auch schlecht. Der Energieverbrauch umfänglicher Grußmails ist exzessiv. Ganz schlimm sind die digitale Geldwirtschaft und energieintensive Computerspiele, aber natürlich auch alle moderne computergestützte Wissenschaft und Medizin.

Von der Umweltverschmutzung durch Masken- und Plastikverbrauch wegen der globalen Corona-Pandemie müssen wir nicht reden. Das war nicht zu ändern. Die unausweichlichen Plastikverpackungen für alles und jedes sind der Autorin ein wirklicher Dorn im Auge, ebenso wie zu viel Gülle auf den Feldern und flächige Antibiotikagaben in riesigen Tierställen. Hier muss sich etwas ändern – und es wird sich auch ändern. Nur: Die Tatsache, dass Leben Energie verbraucht, wird bleiben, egal, was wir tun. Weil das so ist, sollten wir sparen, wo wir können. Wo aber genau, muss dem Gott und seinem Gewissen verantwortlichen freien Christenmenschen selbst überlassen bleiben. An der Schärfung dieser Verantwortlichkeit darf und soll Kirche arbeiten. Vermieden werden sollte dabei jedoch das Aufrufen einer bestimmten parteipolitischen Agenda. Das protestantische Milieu ist schon hinreichend verengt.

Und damit sind wir bei der „Letzten Generation“ und ihrer Einladung durch die EKD-Synode. Laut Pausch sei es dabei um eine „Symbolhandlung“ gegangen, die sagen wollte: „Wir müssen das Autofahren, den Flugverkehr und den Fleischverzehr umgehend und drastisch reduzieren.“ – Den Wohnungsbau, die Textilproduktion und die Digitalwirtschaft nicht? Weil auf Autos eher zu verzichten ist als auf Wohnungen oder Smartphones? So wird das wohl gemeint sein. Aber stimmt das oder brauchen nicht doch die meisten Menschen beides? Vor allem aber müssten wir dann vor allem den Transport durch Lastkraftwagen „drastisch reduzieren“ sowie Urlaubsflüge und den politischen wie wirtschaftlichen Flugverkehr.

Fleischverzehr nein, Hundehalten ja?

Und warum verpflichten wir uns nicht, die circa 10,3 Millionen Hunde und 16,7 Millionen Katzen (Stand 2021) zu „reduzieren“? Im Deutschlandfunk wurde kürzlich zusammengerechnet, was Schäferhunde, Huskies, Windhunde usw. samt ihres Dosenfutters an klimaschädlichen Gasen produzieren. Wie vernünftig ist es, Menschen vom Fleischverzehr abzuraten, wenn die Hundehalter jährlich mehr werden? Und erst die Katzen! Vor allem die freilaufenden, Singvögel tötenden! Wessen CO2-Fußabdruck ist geringer? Der eines zweimal die Woche Fleisch essendenden moderaten Autofahrers oder der eines veganen Hundehalters, der dann und wann in die Sauna geht? Und wie wollen wir den reichlich 22 Millionen Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund Rind und Lamm ausreden – oder die Bouletten und Schnitzel für die „Biodeutschen“ drastisch reduzieren? Zudem: Wollen wir wirklich unsere Auto- und/oder Tierproduktion massiv unter Druck setzen, obwohl wir nicht wissen können, wie wir sie künftig noch brauchen werden? Ist derlei wirklich „eine Forderung rein irdischer Vernunft? Oder doch – radikal betrieben – gefährlich für Wirtschaft und Demokratie?

Vor allem aber: An wen richtet sich ein solcher Appell zur „drastischen Reduzierung“? An evangelische Christen? Von denen kenne ich eine Menge, aber fast niemanden, der nicht sowieso schon auf seinen CO2-Abdruck achtet. In unseren Gemeinden gibt es ziemlich viele ältere Frauen (wie die Autorin), die naturgemäß in so mancher Woche eh nicht mehr Fleisch verzehren als Katzen. Allenfalls höherwertiges. Die verbliebenen Jugendlichen in unseren Gemeinden ernähren sich sowieso oft schon vegetarisch bis vegan. Doch sicher, in den ländlichen Gegenden sieht das anders aus. Dort allerdings wird mancherlei Getier privat aufgezogen oder beim Nachbarn beziehungsweise im Biohof gekauft. Wollen wir das unseren Gemeindegliedern ausreden und die durch die Inflation sowieso gefährdete Biowirtschaft weiter schwächen? Vermutlich nicht.

An wen also richtet sich der Appell? An die Gesamtbevölkerung, weil wir trotz schwindender Mitgliedschaftszahlen an der Tradition festhalten wollen, als Kirche zur gesellschaftspolitischen Orientierung beizutragen? Wenn das das Ziel ist, müssen wir ethische Dilemmata theologisch bearbeiten, statt ihnen moralistisch auszuweichen. Denn die Ambivalenzen und Zielkonflikte in unserer Gesellschaft, die ich noch lange fortführen könnte, steigen mit dem Wachstum der Bevölkerung und zunehmender Diversität exponentiell an.

Kluft zwischen Absicht und Handlung

Das ist nicht schlimm, sondern normal. Es gehört zur Realität der Evolution des Lebens. Problematisch aber ist, dass über diese evolutionären Zielkonflikte nicht gesprochen wird. Sie stehen wie der sprichwörtliche Elefant im Raum, und alle tun so, als gäbe es das große Tier nicht, weil wir ja Tempolimits propagieren. Günter Thomas schreibt: „Zwischen Motivationen, Absichten und Handlungszielen auf der einen Seite und den Resultaten von Planen und Handeln auf der anderen Seite, klafft zu oft eine große Lücke. Auch gutgemeinte Handlungen müssen nicht zu großformatigen Erfolgen führen. Tun und Ergehen, Handlung und Handlungserfolg, stehen zu oft in einem Missverhältnis.“ (Thomas, Unsere 13 Baustellen, 15.8.2022). Das merken wir gerade.

Mit SPD, Linken und Grünen, geführt von Merkels CDU, hat Deutschland versucht, Russland nach Europa zu ziehen. Der Versuch war richtig! Aber spätestens mit der Krim-Okkupation 2014 hätte umgesteuert werden müssen. Das jedoch geschah nicht, da die „progressive“ Elite des Landes überzeugt war, das ewige Friedensreich sei angebrochen und sie stände auf der richtigen Seite der Geschichte. Nun muss die Bundeswehr auf Vordermann gebracht werden, ebenso die Rüstungsindustrie. Beides wurde vor kurzer Zeit noch als verzichtbar betrachtet. Darum Vorsicht bei der Askese: Möglicherweise benötigen wir die Auto-, Flug- und Fleischindustrie in Zukunft noch. Damit spreche ich nicht gegen „Blühwiesen“, sondern nur gegen ihre Verabsolutierung. Falls uns – unter dem Willen Gottes – etwas rettet, werden Wissenschaft und Technik an vorderer Front dazugehören.

Das alles sind keine künstlich kreierten Dilemmata“, wie Gröhn meint. Auch will keiner der in Rede stehenden Autoren den Klimaschutz auf später“ verschieben (vergleiche Stephan Kosch „Auf später verschieben?“). Sie wollen nur nicht, dass frühere Einseitigkeiten mit neuen Einseitigkeiten bekämpft und damit verschärft werden. Ulrich Körtner geht es insbesondere um die Kritik der moralistischen Aufladung des Politischen. Ralf Frisch geht es vor allem um die Kritik der religiösen Aufladung des Politischen. Und es ist völlig verfehlt, Thomas eine Täter-Opfer-Umkehr“ zu unterstellen, da, so Gröhn, Menschen nicht in Folge übertriebenen Klimaschutzes“ stürben, „sondern weil dieser nicht ausreichend forciert wurde“.

Vorsicht bei Schuldzuweisungen!

Gröhn will nicht verstehen, dass von den drei Autoren nicht gegen Klimaschutz geschrieben wird, sondern gegen das Ausruhen eines Teils unserer immer stärker geistlich ausgezehrt werdenden Kirchen auf diesem so schön säkularen Thema. Aber natürlich: Täterfeststellung und Schuldzuweisung sind das Mittel, das die Selbstgewissheit stützt. In den letzten zwölf Monaten sind jedoch in Europa sehr viel mehr Menschen gestorben durch die Mitschuld Deutschlands (vorsichtig ausgedrückt) am Erstarken des russischen Imperialismus als an der Erderwärmung. Natürlich kann man das eine nicht gegen das andere aufrechnen. Dennoch ist eben Vorsicht bei Schuldzuweisungen geboten.

Sind wir bei gesellschaftshistorischen Großentwicklungen nicht alle Täter und Opfer zugleich? Müssten Christen nicht diese Tatsache betonen, um in gefährlicher Situation beim Gegensteuern zu helfen, statt durch abrupte Kurswechsel das Boot zum Kentern zu bringen? Davon bin ich zutiefst überzeugt und darum sollte Kirche und ihre einzelnen Glieder sich zuerst auf das konzentrieren, das nur sie zu sagen haben. Tun sie das nicht, verfehlen Christen nicht nur ihren Auftrag, Jesus Christus nachzufolgen, sondern auch ihre Verantwortung als Bürger einer demokratischen Gesellschaft.

Das Missverstehen, dem Körtner, Thomas und Frisch ausgesetzt sind, hängt zuvörderst daran, dass die Natur des Menschen (conditio humana) weithin nicht mehr von seinem Sündersein her gedacht wird. Der Mensch ist an sich gut, und wo er das noch nicht zeigt, muss er auf die eine oder andere Weise dazu gezwungen werden. Unter dieser Maßgabe muss Moralismuskritik fehlgedeutet werden und der Umgang mit den Begriffen „Dogmatik“, „Ethik“ und „Moral“ unverstandenen bleiben.

Immer verschiedene Moralen

„Dogmatik stellt die Frage nach der Wahrheit des christlichen Glaubens“ und ist die „zusammenhängende Darstellung christlicher Lehre“ Ulrich H. J. Körtner, Dogmatik, 13 f.). Das ist sie aber, wie die Christentumsgeschichte zeigt, nie ein für alle Mal. Im Gegenteil, diese Frage wird immer neu gestellt und beantwortet. Sie ist nichts Statisches und unterliegt ständiger (Religions-)Kritik von innen wie von außen. Darum werden immer wieder neue Dogmatiken geschrieben. Insofern gibt es keine allgemeine „dogmatische Wahrheit“, die von „gewaltvollen Ereignissen christlicher Kirchengeschichte“ nicht zu trennen sei. Was sollte Körtners Dogmatik mit mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Kriegen zu tun haben? Und generell gilt: Abusus non tollit usum. Insofern werden selbstverständlich „ethische Anliegen“ nicht „diffamiert“, wie Gröhn meint. Das würde das Berufsbild des Ethikers ad absurdum führen. Nur gibt es eben immer verschiedene Moralen, die begründet, bewertet, gewichtet und – wo möglich – ausgeglichen werden müssen. Das ist die Aufgabe von Ethik als Wissenschaft von Moral. Dazu gehört es dann unter Umständen auch, dem Missbrauch von Moral entgegenzutreten und an bestimmten Stellen aus ethischen Gründen Moralkritik zu betreiben.

Das berühmteste Beispiel für Moralkritik ist im Christentum die Verkündigung Jesu. Ausgangspunkt dafür ist seine Überzeugung von der anbrechenden Gottesherrschaft. Von da aus überbietet er unter anderem in seinen Gleichnissen und in der Bergpredigt herrschende Moralübereinkünfte. Nehmen wir beispielsweise die Perikope über Jesus und der Ehebrecherin. Er fordert Barmherzigkeit für die Frau, weil keiner ohne Schuld ist. Diese Geschichte hat unser Rechtsprechungssystem deutlich humanisierend beeinflusst. Aber natürlich kann, solange das Gottesreich noch aussteht, keine Gesellschaft generell auf Strafe verzichten. Hierbei den Anspruch Jesu und die gesellschaftspolitische Notwendigkeit einer angemessenen Strafgesetzgebung miteinander ins Gespräch zu bringen, ist eine Aufgabe christlicher Ethik.

Ähnlich verhält es sich mit den Antithesen der Bergpredigt. Deren erster – der vom Töten – ist wohl noch kein Mensch dieser Welt gerecht geworden. Alle haben wir schon anderen gezürnt und sie mindestens in Gedanken Narren und Dummköpfe geschimpft. Nach Jesus sind wir damit der Hölle verfallen und dürfen allenfalls auf Gottes Barmherzigkeit hoffen. Gleiches gilt für die Antithese vom Ehebruch und der zur Ehescheidung bis hin zur sechsten – der Feindesliebe.

Fortwährender Diskurs nötig

Gegen Gröhn hat Körtner recht: Jesus verkündigt nicht die herrschende Moral. Er überbietet sie in einer Weise, die Paulus später sagen lässt, dass das Gesetz uns als Sünder überführt. Allerdings bedürfen wir des Gesetzes und der Moral, solange die endgültige Gottesherrschaft aussteht. Gesetz und Moral sind jedoch nie fraglos gegeben oder prinzipiell vor Missbrauch geschützt. Und selbst wenn ein bestimmtes moralisches Ziel kaum noch strittig ist, bedarf die Frage nach den richtigen Mitteln, es zu erreichen, des fortwährenden Diskurses.

Deswegen geht der Streit in unserem Fall nicht darum, ob die Klimafrage eine „menschheitliche Überlebensfrage“ ist oder nicht. Der Streit richtet sich auf die Mittel zur Lösung beziehungsweise Minderung des Problems. Dabei aber wird meines Erachtens deutlich, dass, wie Körtner behauptet, die „Letzte Generation“ doch die „Machtfrage“ stellt und „identitär“ agiert, da sie einen „Diskurs“ zu konkreten Dilemmata und Zielkonflikten offen ablehnt und ausschließlich die Mittel ihrer Wahl zulassen will. Die Aktivisten der „Letzten Generation“ gehen definitiv davon aus, dass ihre (einseitige) Wahl der Mittel zur Klimarettung die einzig mögliche ist. Damit ist die Wahrheitsfrage angesprochen. Die aber betrifft einzelne Individuen ebenso wie gesellschaftliche Gruppierungen oder Großinstitutionen wie Konfessionen, Kirchen oder Religionen. Sie alle ringe um Wahrheit und müssen das auch tun.

Eberhard Pausch behauptet jedoch, man könne nicht „von der Wahrheit von Konfessionen, Kirchen oder gar Religionen sprechen“, da Wahrheit ein Prädikat von Propositionen sei, also ein Prädikat von Aussagen, für die Wahrheit beansprucht wird. Konfessionen, Kirchen oder Religionen seien aber soziale Systeme „und damit etwas fundamental anderes und weitaus mehr als bloße Verknüpfungen von Propositionen“, also Satzinhalten mit Wahrheitswert.

„Natürlich größere und kleinere Spielräume“

Das verstehe ich nicht. ­ Natürlich kann man Konfessionen, Kirchen oder Religionen auch unter dem Aspekt sozialer Systeme untersuchen. Das spricht jedoch nicht gegen das konstitutive Moment der Wahrheitsfrage. Man muss doch zwischen Religionen et cetera als sozialen Gebilden und dem, worum es in den einzelnen Religionen geht, unterscheiden. Weil das so ist, existieren ja verschiedene Religionen, Konfessionen und Kirchen. Weil das so ist, haben Religionen Gründungsschriften, die weithin Heilige Schriften genannt werden, sowie Glaubensbekenntnisse. Und evangelische Kirchen haben Bekenntnisschriften, auf die sie ihre Pfarrer ordinieren. Weil das so ist, gab und gibt es auch immer wieder Kirchenspaltungen. Natürlich werden Bekenntnissätzen je nach Zeitgeist oder Weltgegend größere oder kleiner Spielräume für den Einzelnen eingeräumt sowie enger oder weiter gesteckte Interpretationsrahmen gesetzt.

In welchem Umfang das geschieht, hängt am Toleranzwillen der jeweiligen sozialen Systeme. Diese Spielräume und Interpretationsrahmen waren allerdings in den letzten 2000 Jahren noch nie grenzenlos. Und in dem Maße, wie sich der Toleranzwillen – also die Bereitschaft, der eigenen Wahrheitsgewissheit widersprechende Propositionen zu ertragen – in unseren westlichen Gesellschaften gerade verengt, dürften sie zusehends wieder enger werden, nachdem sie in den letzten Jahrzehnten sehr ausgeweitet worden sind. Weil religiöse Institutionen in der Tat auch soziale Systeme sind, sind freilich nicht nur einzelne Wahrheitsaussagen und ihr Zusammenhang entscheidend, sondern wer welche Aussage mit welcher Dignität wann für wen trifft. Und am Ende steht die Frage nach der existenziellen Aneignung einer Glaubensaussage durch die glaubende Person.

Ein Beispiel: Paulus sagt in 2.Korinther 5,19: „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ Dazu sind in den letzten etwa 1900 Jahren Bibliotheken geschrieben worden – gerade weil Wahrheit – nicht nur Glaubenswahrheit – immer existenziell angeeignet und darum verstanden werden muss. Daraus resultiert der Interpretationsrahmen. Körtner nun erklärt die Bibelstelle – hier in Hinsicht auf das Auferweckungsgeschehen – so: „Bei Paulus ist die Auferweckung des Gekreuzigten der sachliche Grund für die Heilsbedeutung des Todes Jesu, welche die Kategorie des Opfers sprengt. Wohl gilt nach Paulus, dass Christus „für uns“ gestorben ist. Ohne Jesu Auferstehung aber wäre der Glaube der Christen nach der Überzeugung des Paulus „nichtig“. Trotz des Todes Christi wären die Christen noch immer „in ihren Sünden (1. Korinther 15,17; vergleiche Röm 4,26)“ (Ulrich H. J. Körtner, aaO, 30).

Wahrheitsgeltung herausgestellt

Unter dieser Interpretation, die auf Grundaxiome des Christentums – wie Sündenverfasstheit des Menschen und Jesu Heilstod, beglaubigt durch seine Auferweckung – rekurriert, wird die Wahrheitsgeltung für diese Paulusstelle herausgestellt. Bei Körtner beansprucht diese Wahrheitsgeltung durchaus universalen Charakter, was jedoch nicht heißt, dass sich diese Wahrheit für alle Menschen, geschweige denn Nichtchristen, erschließt. Es ist die Wahrheitsübereinkunft christlicher Kirchen. Einzelne Glieder können sich davon distanzieren und dennoch Kirchenglieder bleiben. Auch einzelne Theologen stellen immer wieder Teile dieser Übereinkunft infrage. Kritische Theologie ist für Evangelische von hohem Wert, da Wahrheit eine ernste Sache ist.

Etwas ganz anderes wäre es jedoch, wenn Verneinungen christlicher Grundaxiome aus den Synoden und Ämtern der der evangelischen Kirchen oder der EKD kämen. Dann wäre die Bekenntnisfrage gestellt und die Wahrheitsfrage grundsätzlich offen. Es würde Bekenntnissynoden geben und vermutlich neue Abspaltungen. Die Weltchristenheit würde „ehemaligen“ Kirchen, die sich solche Verneinungen zu eigen machen, das Prädikat „christlich“ absprechen. Das geschähe aber nicht, weil die Richtigkeit von (grundlegenden) Sätzen bestritten würde, sondern weil der Glaube als existenzielle Verfasstheit, den diese Sätze beschrieben haben, in dem sozialen System, das sich als christliche Kirche verstand, mehrheitlich verlorengegangen ist und das Ereignis ihrer Bewahrheitung nicht mehr eintritt.

Wahrheit ist keine feststehende und unverrückbare Eigenschaft theologischer Sätze, sondern das Ereignis, dass sie sich je und je neu bewahrheiten. Der theologische Satz ist nicht der Ort der Wahrheit, vielmehr ist die Wahrheit der Ort des Satzes, d.h. der Raum, in welchem Glaubenssätze und dann auch diese reflektierende theologische Sätze wahr werden können. In der Wahrheit sein heißt, paulinisch gesprochen, in Christus sein. Wahr sind theologische Sätze einzig im Geist Christi als dem Kommunikationsraum des Evangeliums. Christus selbst aber ist das Ungesagte und Unaussprechliche allen theologischen Denkens und Redens. Er ist die einende, jedoch ungeschriebene Mitte aller Formen und Spielarten christlicher Theologie. Wer Christus in Wahrheit ist, steht gleichsam zwischen den Zeilen theologischer Sätze und kontextuell bedingter Aussagen.“ (Ulrich H. J. Körtner, aaO, 92)

Ist das – wie Eberhard Pausch im Titel seiner Auseinandersetzung mit Körtner formuliert – „dogmatische Wahrheitsemphase“? Das ist ausgeschlossen, wenn man ernst nimmt, dass allen wirklichen Wahrheitsüberzeugungen eine verbindliche existenzielle Grundierung eignet. Pausch aber geht von einer abstrakten, irgendwie absolut vorhandenen „Wahrheit“ aus, wenn er schreibt: „Religionen sind nicht als solche wahr, sondern können an der Wahrheit partizipieren, wenn sie wahre Propositionen enthalten.“ Natürlich sind Religionen nicht „als solche“ wahr. Ganz im Gegenteil „beinhalten“ sie auch keine als solche „wahren Propositionen“. Denn was sollten solche generellen Wahrheitsaussagen denn sein? Wer wollte sie als solche erweisen? Pausch merkt selbst, dass das schwierig wird und will nun doch nicht ausschließen, dass „die christliche Religion das ihr eigene Wirklichkeitsverständnis“ als wahr bezeichnet – „und zumindest die Wirklichkeitsverständ­nisse, die dem eigenen kontradiktorisch widersprechen, als unwahr ansieht“.

Schöpfungsglaube als „wahre Proposition“?

Die Auseinandersetzung um „kontradiktorisch – nichtkontradiktorisch“ der 1980er-Jahre (vergleiche Eilert Herms) hat schon im ökumenischen Dialog mit den Katholiken zu wenig bis nichts geführt. Pausch will das nun gar für die monotheistischen Religionen in Anschlag bringen, die sich in ihren Wirklichkeitsverständnissen nicht notwendig kontradiktorisch widersprechen müssten, insofern es fundamentale Übereinstimmungen wie Monotheismus und Schöpfungsglauben gäbe sowie praktische Schnittmengen wie Gebets- und Segenshandlungen.

Tatsächlich? Wie will man denn ausgerechnet den Schöpfungsglauben als „wahre Proposition“ verstehen, an der das Christentum partizipiert, wo doch mit dem bloßen Begriff noch wenig bis nichts ausgesagt ist? Sind Menschen ein für alle Mal geschaffen oder unterliegen sie der Evolution? Sind wir ursprünglich alle Geschöpfe Allahs und teils nur vom wahren Glauben abgefallen oder hat das Kind in der Krippe“ die Welt geschaffen? Nein. Schöpfungsaussagen sind nicht nur zufällig gelungene Propositionen über die Welt, sondern Bekenntnisaussagen. Theologische Wahrheit lässt sich nicht erweisen, indem man versucht, sich auf das zurückzuziehen, das auch andere glauben. Wer das versucht, wird am Ende eine leere Hülle in Händen halten.

So wie es keinen „allgemeinen“ Menschen gibt, gibt es auch keine „allgemeine" Wahrheit. Wahrheit ist immer eine konkret bestimmte Wahrheit. Das gilt übrigens auch für die Naturwissenschaften, weil deren Wahrheit sich auf definierte Bereiche bezieht, auch wenn sie manchmal – wie Religionen – weite Streufelder aufweisen. Und auch naturwissenschaftliche Wahrheit muss bis zu einem gewissen Grad individuell angeeignet werden, will sie verstanden sein. Allerdings ist dieser Prozess Glaubensüberzeugungen – seien sie religiöser oder säkularer Art – existenzieller. Bei Glauben gibt es kein Ausweichen. Darum gilt:

Weil sie auf Wahrheit besteht, ist reformatorische Theologie ein Fremdkörper in einer universitären Welt geworden, die alles Wissen nennt, was einen möglichen propositionalen Gehalt haben könnte, aber nicht mehr zwischen Meinen, Glauben und Wissen zu unterscheiden weiß. Gerade wenn sie den intrinsischen Zusammenhang von Gottesbezug und Wahrheitsorientierung herausstellt, ist Theologie nicht das Relikt einer vergangenen Epoche, sondern könnte der Stachel im Fleisch einer Denkweise sein, die sich von der Orientierung an Wahrheit weitläufig verabschiedet und in ihrem überbordenden Konstruktivismus [nicht nur, Weidhas] das Bildungssystem des Westens zu ruinieren im Begriff ist.“ (Ingolf U. Dalferth, God first. Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart, 160 f.)

„Horizonte der Lebensorientierung erschließen“

Wahrheit ist nie eine allgemeine Wahrheit, weil sie immer angeeignet werden muss. Hier liegt der Grund dafür, dass in unseren pluralen Gesellschaften die Wahrheitsfrage in Verruf geraten ist. Wahrheit setzt Entscheidung voraus und erzwingt Positionierung. Darum gibt es das Grundrecht auf Religionsfreiheit und darum gibt es Theologische Lehrstühle an stattlichen Universitäten. Die könnten entfallen, wenn Theologen keine „eigene“ Wahrheit mehr zu vertreten hätten. Und sie werden auch entfallen, wenn Theologen nicht mehr spezifisch christliche Überzeugungen einbringen, die nur sie vertreten.

Im Horizont der Wissenschaften hat Theologie also nicht die Aufgabe, die christliche Wahrheitsüberzeugung apologetisch zu vertreten und mit nichttheologischen Argumenten zu verteidigen. Das war schon immer ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Sie hat vielmehr Horizonte der Lebensorientierung zu erschließen, die leicht übersehen werden, und kritisch an Grundlagen und Grenzen des Lebens, Denkens und Handelns zu erinnern, die zu vergessen lebensschädigend ist.“ (Ingolf U. Dalferth, Die Krise der öffentlichen Vernunft. Über Demokratie, Urteilskraft und Gott, 127)

Dass unter diesen Prämissen niemand im Besitz der Wahrheit ist, versteht sich. Jesu Satz, den Pausch „steil“ nennt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannes 14,6) darf gerade nicht ermäßigt werden und hat überhaupt nichts mit einer „dogmatistischen Auffassung“ zu tun. Das kann nur denken, wer letztlich auch Glaubenswahrheiten irgendwie objektiv feststellen will beziehungsweise sie gar mit wissenschaftlichen Erkenntnissen in eins setzt.

Pausch behauptet tatsächlich, dass Klimaschützer ihren Aktivismus mit „wissenschaftlichen Erkenntnissen“ begründen, die „mindestens ebenso sehr Wahrheit beanspruchen können wie diejenigen religiösen Propositionen, aus denen das Evangelium konstelliert“. Hier läuft vieles durcheinander, nicht nur verschiedene Wissensformen. Vergleichbar ist allerdings eben die existenzielle Betroffenheit. Unsere Aktivisten sind Glaubende! Ich verstehe sie hierin – weil meine Gewissheit, dass Jesus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, ebenso stark ist.

Unterschiede benennen

Wer Jesu „steilen Satz“ existenziell glaubt, kann zum Beispiel auch nachempfinden, dass gläubige Muslime ähnlich in Blick auf Mohammed fühlen. Ein solcher Mensch wird sensibel mit Andersglaubenden umgehen. Diese Form der Nächstenliebe dann in die Gesellschaft einzubringen, ist Aufgabe eines Christen in der Nachfolge Jesu. Gleichzeitig ist es seine Aufgabe, Unterschiede in den Glaubensauffassungen zu benennen und in den gesellschaftlichen Diskurs einzuspeisen. Dabei darf Streit sein, jedoch immer unter der Mahnung, dass nach christlichem Glauben vor Gott alle Menschen gleich sind. Insofern möchte ich Pauschs Schlussaussage „Wer von der Liebe her auf Wahrheit hin denkt, der wird nicht so sehr wahrheits-emphatisch argumentieren wollen als vielmehr wahrheits-empathisch“ umdrehen: Aus der persönlichen Glaubensüberzeugung, die das von der „Liebe her denken“ einschließt, und nicht aus der Ermäßigung dieses Wahrheitsanspruchs fließt Empathie. Nur theologische Klarheit, die für Kirche und Gesellschaft nötige Unterscheidungen ermöglicht, führt zum Verständnis des Eigenen. Und nur wer sich selbst versteht, kann andere verstehen.

Insofern müssen gerade Theologen, die dabei ansetzen, dass menschliche Zugänge zur Wahrheit plural sind, weil existenziell-leibhaft, geschichts- und zeitbezogen, ihre spezifisch christliche Verkündigung stärken. Tun sie das nicht, nehmen sie sich aus dem interreligiösen, interkonfessionellen und auch aus dem gesellschaftspolitischen ethischen Diskurs heraus und machen sich überflüssig. Gerade liberale und plurale theologische Ansätze werden dann hinfällig, weil sie sich als prinzipiell liberalistische und pluralistische Positionen auf nichts mehr beziehen und keinerlei Wahrheitszugang mehr für möglich halten.

Eine ganz andere, erfreulich instruktive Position nehmen Gabriele und Peter Scherle in ihrem die Debatte souverän versachlichenden Beitrag „… und das ewige Leben“ ein. Ihres Erachtens vermuten die einen, dass die Unterstützung des Öko-Aktivismus in der Kirche Ausdruck eines ideologischen „Vitalismus“ sei, bei dem eine „öko-religiöse“ Spiritualität die christliche Hoffnung auf das ewige Leben“ ersetze. Die anderen aber würden vermuten, dass die Hoffnung auf „das Leben der kommenden Welt“ das Leben in dieser Welt“ preisgäbe und damit den Kampf um die Bewohnbarkeit“ der Erde denunziere.

In der Tat kann man bei Günter Thomas lesen: „Der Vitalismus überwindet die Gegenmacht durch Macht und, wenn es nötig ist, Gewalt durch Gewalt. … Die Moral ist in Wahrheit eine Waffe im Kampf der Durchsetzung von Interessen.“ (Günter Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben. Impulse zur Verantwortung für die Kirche, 40) Auch halte ich es für möglich, dass kirchliche Öko-Aktivisten „vermuten“, dass ihre Kritiker „dem Leben in dieser Welt“ nicht genug Gewicht beimäßen. In Blick auf Körtner, Thomas und Frisch ist das allerdings falsch. Bei ihnen steht das Hier und Jetzt gerade nicht gegen das neue Sein in Christus. allerdings speist sich Ersteres aus Letzterem. Vielmehr wird die vorletzte Wirklichkeit von der letzten Wirklichkeit her verstanden. Es wird gefragt, was sich ändert, wenn Christus die letzte Wirklichkeit ist.

Verdacht ohne Bewahrheitung

Als Verlegerin will ich an dieser Stelle eine Lanze für meine Autoren brechen. Ich sehe unter den zahlreichen Autoren der Evangelischen Verlagsanstalt keinen einzigen, der einer „Vertröstung“ auf die kommende Welt das Wort reden würde. Insofern trägt der Verweis von Gabriele und Peter Scherle auf solche „lebens- und leibfeindlichen Traditionen“ für die gegenwärtige Auseinandersetzung nur insofern etwas aus, als es sich hier um einen Verdacht handeln könnte, der freilich bei den Verdächtigten nicht zu bewahrheiten ist.

Sehr wichtig aber ist der Verweis der Scherles darauf, dass es darum geht, „ob und wie mit der Macht des Todes, des Bösen und der Sünde gerechnet wird“. Körtner, Thomas und Frisch stehen für einen realitätsnahen Umgang mit sich zuspitzenden Problemen unserer Welt. Und sie wissen wie das Ehepaar Scherle darum, dass letztlich nur Gott die Schöpfung bewahren kann. Genau darüber gilt es aber „jenseits von gegenseitiger Polemik“ konkret zu reden.

Ganz auf der Linie von Günter Thomas befinden sich Scherles, wenn sie schreiben: „In der Klage, mehr noch als in der Bitte, wird Gott die Verletzlichkeit des Lebens vorgehalten. Bis hin zur Anklage Gottes ist dies Ausdruck jener Hoffnung, die auch im Dank und Lob Gottes zum Ausdruck kommt.“ Thomas schreibt: Die Verbindung von Klage und Hoffnung ist die christliche Antwort auf die Frage, ob die Welt letztlich eine Tragödie ist. Letztlich dürfte von der Fähigkeit zu klagen die Zukunft der Kirche abhängen“ (aaO 260).

Hoffnung auf ewiges Geborgensein

Man kann diesem Satz existenziell unterschiedlich Gestalt verleihen. Ich selbst klage auch, tendiere aber letztlich eher zu nüchternem Aushalten und zur Hoffnung auf das göttliche Überschreiben allen Leids. Das hindert mich in keiner Weise daran, bis ganz zum Schluss zu tun, was ich kann, um die Klage vermeiden zu können. Das bitte ich ernstzunehmen! Nur, und wirklich nur weil das so ist, ist die Hoffnung auf ewiges Geborgensein in Gott für mich keine Vertröstung, sondern Trost angesichts des jeder Zeit möglichen Scheiterns trotz allen Bemühens. Ich wage einen vielleicht nicht in jeder Hinsicht treffenden Vergleich: Für mich ist Gott angesichts lebenslanger Aktivität für Kirche, Familie und Gesellschaft das, was für den Trapezkünstler das Netz ist. Ein solches Netz aber muss stabil sein, um ihm trauen zu können.

In einer wirklich trostlosen Lage dagegen befindet sich derjenige, der am Ende nicht dieses Netz Gottes, sondern – nachdem seine Kräfte in diesem Leben erschöpft sind – nur den Abgrund des Nichts unter sich hat. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat enden, von dessen glaubender Akzeptanz meines Erachtens die Zukunft der Kirche abhängt:

Im Zentrum des Auferweckungsbekenntnisses steht nicht Jesus, sondern Gott und sein schöpferisches, sorgendes und helfendes Wirken: Jesus ist kein Untoter, das Christentum keine Zombiereligion, der christliche Glaube kein auf eine bestimmte Kultur beschränktes Religionsphänomen, sondern Gott hat Jesus in sein ewiges Leben auferweckt und damit klargestellt, wer und was er ist (erbarmende Liebe), dass wir als seine Geschöpfe in seiner Schöpfung leben und was er für uns und seine Schöpfung will (Heil und Gutes). Schöpfung ist Wohltat, der Schöpfer Wohltäter, und die Menschen sind die Geschöpfe, die das anerkennen und ihr Leben daran ausrichten können. Das gilt nicht nur hier und heute und für einige, sondern immer und überall und für alle. Gott ist die Lebenskraft der Liebe, die Gutes aus Üblem, Leben aus dem Tod, Sein aus dem Nichts schafft. Wer dazu ,Amen‘ sagt, steht auf der Seite des Lebens, wer das nicht tut, stellt sich auf die Gegenseite.“ (Ingolf U. Dalferth, Auferweckung, 12, erscheint Februar 2023)

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: EVA Leipzig

Annette Weidhas

Annette Weidhas, geboren 1960 in Rodewisch im Vogtland, ist promovierte Theologin und arbeitet als Programm- und Verlagsleiterin für die Evangelische Verlagsanstalt in Leipzig und ist Redakteurin der Theologischen Literaturzeitung.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Theologie"