Kälte und Schweigen

Im Berliner Dom verpflichtete sich die EKD zum Kampf gegen Antiziganismus
Programm Gedenkfeier der EKD im Berliner Dom
Foto: Phillip Gessler

 „Die Kirche war keine Schwester für die Verfolgten und Gedemütigten, keine Hüterin.“ Die Evangelische Kirche in Deutschland erinnerte in einem Gottesdienst und einer Gedenkfeier im Berliner Dom am Sonntagabend an ihre Schuldgeschichte beim Massenmord an den Sinti und Roma während der NS-Zeit. Zugleich verpflichtete sich die EKD, gemeinsam mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma Antiziganismus zu bekämpfen.

Es ist kalt an diesem Sonntagabend Ende Januar im Berliner Dom. Der preußische Neobarock oder Pseudo-Klassizismus des riesigen Kirchenrunds wärmen das Herz kaum. Aber es sind vor allem die Kälte und Nässe draußen, die sich zwischen die Kirchenbänke schleichen, hinauf bis zu den nummerierten Sitzplätzen. Bestenfalls ein Fünftel von ihnen sind bei diesem Gottesdienst besetzt. Um Energiekosten zu sparen, ist der Dom in Berlin Mitte auf der Museumsinsel am gestrigen Sonntag zudem kaum beheizt. Schlecht dran ist, wer sich nicht tief in seinen Mantel eingraben kann und ohne Schal auskommen muss. Aber am Ende ist diese Kälte doch recht passend. Denn es geht an diesem Abend um die Kälte der Verbrechen, der Diskriminierung und der Gleichgültigkeit gegenüber den Sinti und Roma in der deutschen Gesellschaft, die Kirchen leider eingeschlossen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat in Kooperation mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zu einem Gottesdienst und einer Gedenkfeier in den Berliner Dom geladen. Dabei soll, wenn man will, Historisches geschehen: Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, will eine Erklärung des Rates der EKD zur Bekämpfung von Antiziganismus an den Vorsitzenden des Zentralrats, Romani Rose übergeben. Es ist im Wesentlichen ein großes Schuldeingeständnis der hiesigen evangelischen Kirche, sich in ihrer Geschichte nicht oder zu wenig für die Sinti und Roma eingesetzt zu haben. Außerdem: „Mit dieser Erklärung festigen die EKD, der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sowie das Netzwerk Sinti, Roma und Kirchen erstmals offiziell ihre Zusammenarbeit, um Antiziganismus im Alltag von Kirche und Gesellschaft entgegenzuwirken“, wie es vorab von der EKD hieß. Ziel sei es, „die lange Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung aufzuarbeiten und die Partizipation von Sinti und Roma in Politik und Gesellschaft zu stärken“.

Ziemlich ungewöhnlich für dieses recht steife Umfeld wird der Gottesdienst eröffnet durch Klänge des „Tcha Limberger Trios“ aus Belgien. Die drei Musiker, darunter der blinde Bandleader und Geigenvirtuose Limberger, spielen mit Violine, Kontrabass und Gitarre (und eindeutig inspiriert von Django Reinhardt) eine Musik, die manche Fachleute alsGypsy-Jazz“ beschreiben. Allerdings ziemlich ruhig und getragen, wie es der Anlass und die kirchliche Architektur nahelegen.

„Bin ich der Hüter meines Bruder?“

Der Theologe Christian Staffa, Beauftragter der EKD für den Kampf gegen Antisemitismus und einer der treibenden Kräfte im Engagement der EKD für die Sinti und Roma, eröffnet den Gottesdienst mit einem Gedicht von Elazar Benyoëtz. Es trägt den Titel „Wenn du nicht Hüter bist, wirst du kein Bruder sein“. Es geht um die Kain- und Abel-Geschichte, den ersten Mord der Bibel gleich nach der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden: »Wo ist Abel, dein Bruder«, fragte Gott, und Kajin antwortete: / »Bin ich der Hüter meines Bruders?« / Den Namen »Abel« konnte er nicht mehr in seinem Mund halten, / nicht über seine Lippen gehen lassen.“

Diese Geschichte, dieses Schweigen und diese Schuld, bestimmen den ganzen Gottesdienst im Berliner Dom. Denn es ist ein Bild dafür, wie sich die Kirchen in ihrer Geschichte, ähnlich Kain, mindestens mit Schweigen von den Verbrechen gegen die Sinti und Roma abgewandt haben, den Massenmord an ihnen erst geschehen ließen und dann verdrängt haben. Die Kirchen haben in ihnen eben nicht ihre Geschwister gesehen, deren Hüter sie nach Gottes Willen hätten sein müssen. Schätzungen zufolge sind im Holocaust um die 500.000 „Zigeuner“, wie ihr Schmähwort hieß, von den Nazis ermordet worden. Und die Kirchen schwiegen dazu, obwohl die Sinti und Roma nicht nur Mitmenschen, sondern in der Regel auch Christinnen und Christen waren.

„Schweigen, wo Reden notwendig wäre, das ist das Wesen des Todes“, sagt Prälatin Gidion in ihrer Predigt. „Viel zu lange haben die Kirchen, haben Christinnen und Christen geschwiegen zu dem, was Sinti und Roma an schrecklicher Gewalt angetan wurde. Spät ringen unsere Erklärungen um Sprechbares und versuchen, der Sprachlosigkeit Worte entgegenzusetzen. Der Blick in die Vergangenheit – endlich wird das Schweigen aufgehoben.“ Und weiter: „Die Kirche war keine Schwester für die Verfolgten und Gedemütigten, keine Hüterin.“

„Antiziganistische Stereotypen unreflektiert weitergetragen“

Die Theologin zitiert auf der Kanzel im Dom zentrale Aussagen der Erklärung „Gemeinsam Antiziganismus bekämpfen“ vom Rat der EKD in „Zusammenarbeit mit Sinti und Roma“. Darin heißt es unter anderem: „Die Abwertung und Ausgrenzung von Angehörigen der Sinti und Roma hat eine Geschichte, die sehr lange zurückreicht. Und nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus und des Völkermordes an Sinti und Roma war die Evangelische Kirche daran beteiligt, Menschen zu verraten und der Verfolgung und Vernichtung auszuliefern. Die Schuldgeschichte erstreckt sich auch über die Jahrzehnte danach, indem begangenes Unrecht und das Leid der Opfer und ihrer Nachkommen nicht wahrgenommen wurden.“ Und die Erklärung fährt fort: „Stattdessen wurden auch in der Kirche antiziganistische Stereotypen unreflektiert weitergetragen und Menschen dadurch erneut und fortwährend in ihrer Würde verletzt.“

Zu den eindrücklichsten Momenten des Gedenkgottesdienstes gehört das schlichte Entzünden und Aufstellen von weißen Kerzen im Altarraum – für jede verfolgte, aber auch im Nachhinein lange verdrängte Opfergruppe des NS-Regimes eine, aufgereiht in eine lange Reihe. Dabei geht es unter anderem um die „ernsten Bibelforscher*innen“, um „Pazifist*innen“ und Deserteure, um die „als homosexuell Verfolgten“, die „Schwulen, Lesben und queeren Menschen“: Am Altar und im Kirchenrund wird gebetet: „Wir haben viel versäumt. Herr, erbarme Dich.“

Nach dem Gottesdienst ergreift bei der Gedenkfeier für die Sinti und Roma im Kirchenschiff der Zentralratspräsident Romani Rose das Wort. Er erinnert daran, „wie langlebig und tiefsitzend Vorurteile und Hass gegenüber unserer Minderheit sind“. So zeigten die einschlägigen Untersuchungen zu den Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma „ein erschreckend hohes Maß an Ablehnung: über 50 Prozent der Bevölkerung lehnen demnach Sinti und Roma als Nachbarn und Arbeitskollegen ab“.

„Beitrag der Kirchen muss weiter erforscht werden“

Rose ergänzt: „Auch unsere Kirchen stehen mit ihrer Geschichte in einer besonderen Verantwortung. Der Beitrag der protestantischen wie auch der katholischen Kirche zu den Maßnahmen des NS-Regimes, nämlich der Ausgrenzung, Erfassung und Deportation bis hin zur Vernichtung unserer Menschen, muss weiter erforscht werden.“ Der Zentralratspräsident betont: „Wir Sinti und Roma in Deutschland waren schon immer Christen, aber unsere christlichen Kirchen haben uns im Stich gelassen und jeglichen Schutz verweigert, als SS und Gestapo Sinti und Roma abholten und in die Vernichtungslager deportierten.“ Wie man heute wisse, öffneten Kirchenvertreter den Nationalsozialisten ihre Kirchenbücher und machten Tauf- und Eheurkunden zur Erstellung von Rassegutachten für die Rassenhygienische Forschungsstelle zugänglich. „Dies trug dazu bei, unsere Menschen als sogenannte ‚Zigeuner‘ oder ‚Zigeunermischlinge‘ rassenbiologisch zu erfassen, was für die meisten Menschen einem Todesurteil gleichkam.“

Gleichwohl bedankte sich Rose mehrmals und ausdrücklich bei der EKD und allen Anwesenden dafür, dass mit der Gemeinsamen Erklärung nun ein grundsätzlich neuer Ansatz im Kampf gegen Antiziganismus ganz offiziell etabliert worden sei: „Es ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen, wenn ich es als ‚historisch‘ bezeichne, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland heute anlässlich des Internationalen Holocaust Gedenktages diese Erklärung zur Ächtung von Antiziganismus und zur Zusammenarbeit mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma abgibt.“ Der Blick in die Geschichte an diesem Sonntagabend war so nicht nur ein Grauen über die vergangene Schuld. Sondern auch ein Versprechen, aus der Geschichte zu lernen.

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