Ungeahnte Möglichkeiten

Klartext
Foto: privat

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Anne-Kathrin Kruse. Sie ist Dekanin i.R. in Berlin.

Klatschende Bäume

Sonntag Sexagesimae, 12. Februar

Sucht den Herrn, jetzt ist er zu finden! Ruft zu ihm, jetzt ist er nahe! … Regen oder Schnee fällt vom Himmel und kehrt nicht dahin zurück, ohne die Erde zu befeuchten … So ist es auch mit dem Wort, das von mir ausgeht: Es kehrt nicht wirkungslos zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will. Berge und Hügel brechen in Jubel aus, wenn sie euch sehen. Die Bäume in der Steppe klatschen in die Hände. (Jesaja 55,6.10a.11.12b)

Die Kriegskatastrophe, die 587 vor Christus über die Israeliten hereinbrach, belastet die nach Babylon Deportierten schwer. Ihre Heimat mit dem Tempel in Jerusalem liegt in Trümmern. An den Nerven zerren die Sorgen des Alltags, dass sie genügend Nahrung und Wasser haben und gut durch den Winter kommen. Und fraglich geworden sind den Israeliten auch die Verheißungen Gottes, dass sich alles zum Guten wendet. Die Verschleppten beherrscht die Sehnsucht, von Gott gehört zu werden, nachdem die Grundfesten des Lebens ins Wanken geraten sind. Und umgekehrt empfindet Gott die Sehnsucht, dass die Menschen ihn wieder suchen und seine Weisungen zu einem Leben in Gerechtigkeit wichtig nehmen.

In manchem von dem können wir uns wiederfinden. Denn auch angesichts von Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe gilt plötzlich nicht mehr das, was anscheinend unverrückbar war. Auch wir, die in einem der reichsten Länder der Erde leben, bekommen die Folgen jahrzehntelanger Versäumnisse jetzt zu spüren. „Es muss sich doch etwas ändern!“, fordert die „Letzte Generation“. Und andere resignieren.

Wer im Februar in Israel durch die Wüste fährt, erlebt ein überwältigendes Naturschauspiel: Nach Regen oder Schnee grünt und blüht es gewaltig. Wo gestern noch eine graugelbe Steinwüste zu sehen war, leuchten auf einmal tausende Anemonen, Lilien und Krokusse. Und so gewiss wie Regen und Schnee vom Himmel fallen, überwindet Gottes Wort die unendliche Distanz zwischen ihm und dem Menschen. Er weicht verhärtete Herzen auf und macht sie lebendig. Er richtet auf, lässt aufatmen und macht Hoffnung auf ungeahnte Möglichkeiten. „Gott hält sein Wort mit Freuden, und was er spricht, geschicht“ (EG 302,4).

Eine tröstende Verheißung wie die Jesajas, dass Gott wirklich hört und sein Wort etwas bewirkt, ja zum Guten wendet, brauchen wir jetzt. Am 6. Februar feiern Jüdinnen und Juden das Neujahrsfest der Bäume. Mit dem Säen von Samen und Setzen junger Bäume wird an die Schönheit und Fruchtbarkeit der Schöpfung erinnert, aber auch daran, dass gut Ding Weile haben will. Lasst euch aufrichten von Gottes großen Gedanken und seinen unmöglichen Möglichkeiten. Wer hätte denn gedacht, dass Bäume vor Freude einmal in die Hände klatschen?

 

Wie ein guter Film

Estomihi, 19. Februar

Wenn ich … wüsste alle Geheim­nisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts … Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. (1. Korintherbrief 13,2)

Berlinale-Fieber: Rote Teppiche, ausverkaufte Kinos und Filme, die zeigen wie Menschen lustvoll und verzweifelt leben, sich nach Bedeutung und Anerkennung sehnen und in leidenschaftlicher Liebe preisgeben. Ja, die Liebe ist vielleicht das Wichtigste in dieser elend-schönen Welt. Aber was ist Liebe?

Das kleine bunte Pflaster, das uns jemand auf das blutende Knie klebt. Das Hand in Hand Gehen mit der oder dem Geliebten. Der Kuss nachts auf der Straße. Die Stunden am Krankenbett. Das Halten der faltigen Hand. Das Taschentuch für die bitteren Tränen, die jemand vergießt. Aber auch das klare Wort, das ich sonst nicht hören mag.

Kilometer weiser Literatur haben uns nicht befähigt, die Liebe präzise zu beschreiben. Sie erwischt uns und lässt uns nicht los. Selbst Paulus lässt sich zu einem leidenschaftlichen Liebeslied hinreißen, Poesie für die zerstrittene Gemeinde in Korinth. Eigentlich hat sie ein starkes Potenzial: festen Glauben, theologischen Scharfsinn und eine Spiritualität bis hin zur Ekstase. Aber statt diese Stärken in die Gemeinde einzubringen, erschöpfen sich die Mitglieder in Selbstinszenierung, Arroganz und Abgrenzung. Da schlägt Paulus andere Töne an: Ohne die Liebe wird aus dem befreienden Wort Gottes moralinsaures Gewäsch und aus der guten Tat eine Last, die Leidenschaft abtötet.

Ohne die Liebe zu den Menschen geht eine Gemeinde kaputt. Diese Erkenntnis ist nicht neu. So entfaltet der Jude Paulus nur, was von Gott schon immer bekannt war: Die Liebe ist die Erfüllung der Tora als guter Weisung Gottes, sowohl in der Liebe zu Gott als auch in der Liebe des Mitmenschen („denn er ist wie du“) bis hin zur Liebe des Fremden. Und diese Liebe ist mehr als ein diffuses Gefühl oder eine momentane Hochstimmung. Sie befähigt und ermutigt den Menschen vielmehr, über sich selbst hinauszuwachsen bis hin zur Liebe des Feindes. Das bedeutet nicht, Gewalttätern warmherzige Gefühle entgegenzubringen. Feindesliebe ruft vielmehr dazu auf, sich zu überwinden und Feinden ohne Hass und mit Versöhnungsbereitschaft zu begegnen.

Die Liebe tut etwas, packt mit an und – ist dabei erstaunlich vernünftig. Denn sie tritt auf die Füße, fragt nach, wo Lügen verbreitet werden, macht sich die Hände schmutzig, hält uns den Spiegel vor und zeigt, wozu wir fähig sind und wie dünn unsere zivilisatorische Decke ist.

Noch sind das alles nur Bruchstücke. Mein Leben bleibt Fragment, auch mein Glauben, Lieben und Hoffen. So ist der Weg der Liebe kein leichter. Denn ständig stoße ich an Grenzen. Deshalb brauche ich den liebenden Blick Gottes auf meine Unvollkommenheit, seine Geduld, seine Vergebung. Und – die Ahnung von etwas Vollkommenen. Dass dieses Leben im Hier und Jetzt nicht aufgeht. Dass es eine Bedeutung und eine Würde hat, die wir nicht selbst schaffen können.

Davon erzählen gute Filme. Und darüber schreibt Paulus: Nichts wären wir ohne die Liebe, die uns ins Leben rief und seitdem nicht mehr verlassen hat. 

 

Dein Wille geschehe?

Invokavit, 26. Februar

Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? (Hiob 2,10)

Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich unbeschreibliches Leid erlebt hätte wie viele Menschen in Kriegen. Auch Hiob hat auf einen Schlag alles verloren, was ihm lieb ist, seine Habe, seine Gesundheit und seine Familie. Dennoch hält er treu zu Gott. Ja, er verteidigt ihn noch. Freunde kommen und stehen ihm bei. Sieben Tage lang schweigen sie mit Hiob. Kein „Das wird schon! Es kommen wieder bessere Tage.“ Trost wird dann zur Lüge, wenn sie Klage und Trauer nicht zulässt. Trösten heißt eben nicht, das Leid zu beschönigen und Gott verteidigen zu müssen, sondern vielmehr einer trostlosen Welt standzuhalten, die einen um den Glauben und den Verstand bringt.

Der Gottesdienst am Sonntag Invokavit wird zwei Tage nach dem Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine gefeiert. Wer weiß, wie viele angesichts des Grauens ihren Glauben verloren – oder auch erst gefunden haben? An Gott zu glauben, sichert nicht unsere Versorgung, bietet keinen lebenslangen Schutz, verhindert aber ein „Wie ich dir, so du mir“. Hiob wendet sich nicht von Gott ab. Im Gegenteil! Er konfrontiert ihn mit einer rückhaltlosen Offenheit und Schärfe, die in der Bibel ihresgleichen sucht.

Und Gott? Er gibt Hiob recht, trotz dessen wütender Anklagen. In der Konfrontation hat Hiob zu Gott gefunden: „Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut“ (42,8). Gerade in der Not dieses Krieges hat Gott ein Ohr für die Opfer und ihr Schreien nach Gerechtigkeit.

 

Falsche Auslegung

Reminiszere, 5. März

Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr  denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Psalm 118,22–23): „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen“? (Markus 12,9–11)

Jesu Gleichnis von den „bösen Weingärtnern“ (Luther 2017) beginnt mit einem Idyll. Jemand legt einen Weinberg an – in der Bibel Sinnbild für Wohlstand und Frieden. Und sogleich zerbricht dieses Idyll an vielschichtigen Gewalterfahrungen. Durchaus realistisch wird die verzweifelte Situation von Kleinbauern in der römisch besetzten Provinz Judäa beschrieben, die sich als Pächter der Weinberge, die ihnen gehört hatten, hoffnungslos verschuldeten und verarmten.

Die Opfer ökonomischer Ungerechtigkeit und Gewalt werden selbst zu Mördern. Und auch die Wirkungsgeschichte dieses Textes hat eine Spur der Gewalt nach sich gezogen: Die antijüdische Tradition, dass Gottes Verheißung vom jüdischen Volk weggenommen und auf die Kirche von Heidenchristen übertragen worden sei, hat in diesem Gleichnis einen Ausgangspunkt. Geht man davon aus, dass sich das Christentum aus den Völkern erst nach der Entstehung des Neuen Testamentes herausgebildet hat, handelt es sich in der Auseinandersetzung Jesu mit den Hohenpriestern und Schriftgelehrten um eine Angelegenheit zwischen messiasgläubigen Juden und den Juden, die die Messianität Jesu ablehnen.

Der Psalm 118 aber lenkt den Blick weg von den Weingärtnern und hin zu Gott, der Israel als sein geliebtes Volk aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit führt. Mitten in Verschuldung und Gewalt leuchtet er als Hoffnungsstrahl auf. Und was hat das mit uns Christen zu tun? Wo sehen wir uns in diesem Gleichnis: Als Gärtner eines anvertrauten Landes? Als drangsalierte Pächter, die durch die geforderten Abgaben in ihrer Existenz bedroht sind? Oder als diejenigen, die sich im Recht sehen, obwohl sie von der strukturellen Ungerechtigkeit profitieren?

Klimagerechtigkeit ist mittlerweile in aller Munde. Aber während kaum eine Politikerin es wagt, das Wort „Verzicht“ in den Mund zu nehmen, steht dieser weiße Elefant schon lange im Raum. „Reminiszere“ heißt dieser Sonntag in der Passionszeit: „Gedenke, Gott, an deine Barmherzigkeit“ (Psalm 25,6). Mindestens so sehr, wie wir Gottes Barmherzigkeit brauchen, brauchen die Ärmsten der Armen unser verantwortliches gerechtes Handeln zum Überleben.

Und nicht zuletzt muss die christliche Bibelauslegung umkehren: Nicht zuerst den Splitter im jüdischen Auge suchen, bevor sie dem Balken im eigenen Auge auf die Spur gekommen ist.

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