Nächstenliebe mit Nachschlag

Die gemeinsame Aktion „Wärmewinter“ von EKD und Diakonie erwärmt im thüringischen Saalfeld die Herzen
#wärmewinter
Foto: André Kranert

Die Energiekosten steigen – und die Armen müssen frieren? Dieser Entwicklung treten die Evangelische Kirche in Deutschland und die Diakonie unter dem Hashtag #wärmewinter entgegen. Es geht um gelebte Solidarität, finanziell und zwischenmenschlich, wie Matthias Thüsing und André Kranert in Thüringen festgestellt haben.

Zuletzt legt Thomas Zullinger die große Bockwurst behutsam auf den tiefen Teller in die dampfende Kartoffelsuppe. Es soll ja nichts überschwappen. Dann reicht er ihn über den behelfsmäßig aufgebauten Tresen aus Konferenztischen. Der Gast des Diakonieladens in der Saalfelder Innenstadt bestellt noch einen heißen Tee und setzt sich dann mit seinem warmen Mittagessen an die lange Tafel. Schweigend löffelt er die Suppe. Insgesamt drei Gäste haben sich für ein spätes Mittagessen an diesem Mittwochnachmittag gegen 14 Uhr noch eingefunden. Gut eine Stunde zuvor sei hier deutlich mehr Betrieb gewesen, so Zullinger.

#wärmewinter
Foto: André Kranert
 

„Die Arbeit fühlt sich gut an“, sagt er. Er habe in seinem Berufsleben schon so einiges gemacht – Textilbranche, Altenpflege, Feinmechanik. „Aber hier stimmt die Arbeit, ich komme gut mit den Menschen klar, ich kann anderen helfen und werde selbst gebraucht.“ Schon die Altenpflege habe ihm gefallen. Aber als nicht mehr ganz junger Mann habe er es irgendwann körperlich nicht mehr geschafft. Nun also ist er ins Soziale zurückgekehrt, seit etwa einem halben Jahr arbeitet Zullinger im Diakonieladen „Geben und Nehmen“ in der Saalfelder Brudergasse.

Der #wärmewinter ist mehr als nur ein kostenloses Mittagessen.
Foto: André Kranert

 Der #wärmewinter ist mehr als nur ein kostenloses Mittagessen. Ilona Grundler (links) und Bettina Schmidt (Foto unten) nutzen die gesamte Logistik der Diakonie Weimar Bad Lobenstein, um ihren Gästen angenehme Stunden mit Geselligkeit und guten Gesprächen zu ermöglichen.

 

In dem großen, zur Straßenseite hin grau und zur Gartenseite fröhlich gelb gestrichenen Gebäudekomplex hat die Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein viele Angebote unter einem Dach zusammengefasst: Eine Wohnstätte, eine Kleider- und Gebrauchtwarenkammer, ein Begegnungszentrum und ein Laden mit Produkten aus den Werkstätten Christopherushof in Altengesees finden sich hier. Dazu das Café Waage mit Preisen, die jedermann den Besuch erlauben. Geöffnet hat es täglich.

Herausforderung Einsamkeit

„Neu ist seit Anfang Dezember das kostenlose Mittagessen im Rahmen der Aktion #wärmewinter an jedem Mittwoch“, sagt Bettina Schmidt, Geschäftsbereichsleiterin Arbeit, Flüchtlinge, offene Hilfen der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein. Schmidt spricht schnell und meist in kurzen Sätzen. Zeit ist ein knappes Gut für die Sozialmanagerin, ist sie doch für rund 600 Menschen mit den verschiedenen Formen einer Benachteiligung verantwortlich, die in den diakonischen Einrichtungen an mehreren Standorten in Ostthüringen arbeiten.

Ilona Grundler (links) und Bettina Schmidt nutzen die gesamte Logistik der Diakonie Weimar Bad Lobenstein, um ihren Gästen angenehme Stunden mit Geselligkeit und guten Gesprächen zu ermöglichen.
Foto: André Kranert

 

Das wöchentliche Essensangebot in Saalfeld sowie in den nahe gelegenen Thüringer Landstädtchen Bad Blankenburg und Pößneck ist da buchstäblich nur ein Zusatzangebot. Und doch ist es ein emotional wichtiger Baustein für die Diakonie. „Es geht um gelebte Nächstenliebe, es geht nicht nur um ein warmes Essen für diejenigen, die es sich vielleicht nicht leisten können. Sondern es geht um Gespräche. Und um Zeit, die wir uns nehmen, um mit unseren Gästen über das Leben, aber auch über ihre Sorgen zu sprechen.“ Nähe und Gesellschaft der Gäste seien dabei wenigstens genauso wichtig wie der finanzielle Aspekt des Angebots.

Die Angebote von Sozialcafé über Küche, Bäckerei bis hin zu den diakonieeigenen Werkstätten, greifen nahtlos ineinander.
Foto: André Kranert

 Die Angebote von Sozialcafé über Küche, Bäckerei bis hin zu den diakonieeigenen Werkstätten, greifen nahtlos ineinander.

„Einsamkeit“, sagt auch der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), Friedrich Kramer, „ist eine gesellschaftliche Krise, ähnlich wie die Klimaerwärmung oder die Leiden, die Corona den Menschen angetan hat. Doch viel zu oft bleibt sie unentdeckt.“ Wer nicht von sich aus komme, werde von der Gesellschaft oft übersehen. Kramer sitzt am Besprechungstisch in seinem Erfurter Büro des Landeskirchenamtes. Die moderne Möblierung steht in bewusstem Kon­trast zum weiß verputzen Mauerwerk aus Jahrhunderte alten Bruchsteinen. Hier im ehemaligen Collegium Maius der Erfurter Universität, ist vor mehr als 500 Jahren schon der Student Martin Luther ein und aus gegangen. Diese große Tradition bewahrend, sucht die EKM stets nach modernen Formen zeitgemäßer kirchlicher Angebote. „Seelsorgerisch ist der Kampf gegen die Einsamkeit eine der größten Herausforderungen für die Kirche in den kommenden Jahren“, sagt Kramer. Die Gesellschaft auch im Osten altere, Partner würden sterben, Kinder zögen fort. Vereinsamung komme schnell, gerade wenn nicht viel Geld vorhanden sei. „Darum muss sich Kirche kümmern“, sagt der Landesbischof. Er denke heute schon über eine Verstetigung vieler Angebote der Aktion #wärmewinter nach – auch über 2023 hinaus. Wenn es sich nur irgendwie finanzieren lässt.

#wärmewinter
Foto: André Kranert

 

Denn das Geld für die Fortführung des Angebots müsste schon im kommenden Jahr aus anderen Töpfen fließen.  Das Programm „Hilfe vor Ort“ der Diakonie Mitteldeutschland und damit die gesamte Wärmewinter-Aktion speist sich aus den einmaligen zusätzlichen Kirchensteuereinnahmen, die auf die nur im Oktober 2022 gezahlte Energiepreispauschale zurückzuführen sind. Nach einem Beschluss des Kollegiums des Landeskirchenamtes wollte die EKM nicht von der Energiekrise profitieren und reichte die Extra-Einnahmen an die Diakonie Mitteldeutschland weiter. Zum Jahresende waren bereits 250 000 Euro für soziale Projekte zwischen Altmark und Thüringer Wald bewilligt worden.

Bis zu zwanzig Mittagessen, Getränke und Nachtisch gehen in Saalfeld jeden Mittwoch über den Tresen.
Foto: André Kranert

 Bis zu zwanzig Mittagessen, Getränke und Nachtisch gehen in Saalfeld jeden Mittwoch über den Tresen.

„Das ging alles unglaublich unbürokratisch“, schwärmt die Projektverantwortliche der Diakonieläden in Saalfeld und Bad Lobenstein, Ilona Grundler. Von der Beantragung der Gelder bis zur Zusage habe es keinen Monat gedauert. „Es war herrlich einfach“, sagt sie. Gerade spricht sie mit ihrem Küchenteam noch einmal den Tag in der Diakonie-Küche in der Saalfelder Industriestraße durch. Das Mittagessen in den Diakonieläden wird hier im ehemaligen Zentrallager vom Konsumgenossenschaftsverband Saalfeld gekocht. Im Gebäude sind mehr als ein halbes Dutzend Unternehmen der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein untergebracht. Die Küche im ersten Obergeschoss des denkmalgeschützten Industriebaus dient den Mitarbeitern und Beschäftigten als Kantine. Es riecht noch leicht nach gebratenem Geflügel im Speisesaal. Ilona Grundler setzt sich für einen Kaffee zu den Mitarbeitern an einen der Tische.

Das Team von Thomas Zullinger, Jana Weidlich und Raphaela Rosario ist Gastgeber und Ansprechpartner im Diakonie-Café Waage. Ihr Ziel: Sie wollen eine Wohlfühlatmosphäre schaffen.
Foto: André Kranert

 Das Team von Thomas Zullinger, Jana Weidlich und Raphaela Rosario ist Gastgeber und Ansprechpartner im Diakonie-Café Waage. Ihr Ziel: Sie wollen eine Wohlfühlatmosphäre schaffen.

Das kostenlose Mittagessen war ihre Idee – und sie kam gut an: Bereits zum Start der Aktion in Bad Blankenburg Anfang Dezember ging die bereitgestellte heiße Suppe so gut weg, dass die zehn Portionen ein wenig gestreckt werden mussten. „Es war ja Adventszeit. Da konnten wir mit einem Extra-Stück Stollen unseren Gästen eine Freude machen. Hungrig musste niemand unser Café verlassen.“ Etwa zwanzig Portionen würden seitdem pro Aktionstag gekocht und abgenommen. Denn viele Menschen hätten angesichts gestiegener Kosten nur noch ein sehr knappes Budget für Lebensmittel, sagt Grundler.

Ein Extrastück Stollen

Der Stollen kommt, ebenso wie die Backwaren, die auch jetzt wieder auf dem Tisch stehen, von der Christo-Bäckerei der Diakoniestiftung aus dem gut dreißig Kilometer entfernten Altengesees. Es sei dieses Ineinandergreifen der verschiedenen Diakonie-Firmen und Angebote, die die Aktion #wärmewinter zunächst in Saalfeld, Blankenburg und seit 6. Januar in Pößneck habe so reibungslos anlaufen lassen. Infrastruktur und Personal seien in der Diakonie ausreichend vorhanden. Die Zusammenarbeit mit der örtlichen Kirchgemeinde beschränke sich bei diesem Projekt daher nur auf gelegentliche Unterstützung und Hilfen, überall dort, wo sich einmal eine Lücke auftue oder Not am Mann sei.

Silvio Rasch kocht für das Haus in der Saalfelder Brudergasse und zwei weitere #wärmewinter- Standorte in Ostthüringen.
Foto: André Kranert

 Silvio Rasch kocht für das Haus in der Saalfelder Brudergasse und zwei weitere #wärmewinter-Standorte in Ostthüringen.

 

Konkurrenz bestehe nicht, bestätigt auch das Büro der Saalfelder Kirchgemeinde, im Gegenteil: Die Diakonie habe das Personal, die Logistik und über ihre vielen Werkstätten auch die Möglichkeiten, den #wärmewinter ohne einen großen Mehraufwand in ihr Angebot zu integrieren. Die Kirchgemeinde habe diese Möglichkeiten nicht, heißt es von dort. Die Gemeinde sei ja eher klein. Und über die Finanzierung einiger Angebote im Haus in der Brudergasse sei die Zusammenarbeit mit der Diakonie ohnehin eng.

Die Suppe im Diakonieladen haben die drei Gäste längst aufgegessen. Ans Aufstehen denkt das Trio trotzdem noch nicht. Inzwischen sind die Gespräche in Gang gekommen. Untereinander, aber auch mit Herrn Zullinger über die Essens-Ausgabe hinweg, der nebenbei seinen Küchenbereich säubert. Nächste Woche gibt es Nachschlag – jeden Mittwoch in Saalfeld, geplant zunächst einmal bis Ende März. 

Haus
Foto: André Kranert

 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

57,60 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"