„Ballast über Bord werfen“

Gespräch mit dem Münchner Theologen Jörg Lauster über die dringende Reformbedürftigkeit des deutschen Theologiestudiums und die nötige Annahme des Bologna-Prozesses
Jörg Lauster, Jahrgang 1966, ist seit 2015 Professor für Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene an der LMU München. Zuvor war er seit 2006 Professor für Systematische Theologie in Marburg. 2014 veröffentlichte er eine großangelegte „Kulturgeschichte des Christentums“ unter dem Titel „Die Verzauberung der Welt“, die 2021 in der 6. Auflage erschien. 2017 folgte sein Essay „Der ewige Protest. Reformation als Prinzip“. 2021 erschien „Der heilige Geist. Eine Biografie“ und zuletzt 2022 als Taschenbuch „Das C
Foto: Barbara Donaubauer

Ist das Theologiestudium an staatlichen Fakultäten noch auf der Höhe der Zeit? Nein, meint Jörg Lauster, Professor für Dogmatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er mahnt im zeitzeichen-Gespräch dringend Reformen an und wirbt dafür, dass sich die akademische Theologie in Deutschland nicht länger in Don-Quichotte-Manier dem universitären Bologna-Prozess verschließen möge.

zeitzeichen: Herr Professor Lauster, vor einigen Wochen haben Sie sich in der Süddeutschen Zeitung sehr kritisch zum Zustand der akademischen theologischen Ausbildung in Deutschland geäußert. Was sind Ihre Hauptkritikpunkte?

JÖRG LAUSTER: Wir arbeiten uns in der theologischen Ausbildung an einer Studienstruktur ab, die aus dem 19. Jahrhundert stammt. Sie verdankt sich der großen historischen Auf­klärung. Die Welt hat sich inzwischen jedoch weiter gedreht. Der stark historisch ausgerichtete Fächerkanon und bei einigen auch noch die Attitüden eines deutschen Professors aus dem Kaiserreich – das alles ist heute hoffnungslos aus der Zeit gefallen. Damit können wir die gegenwärtigen Herausforderungen an die theologische Ausbildung nicht mehr meistern.

Das Erste, was meistens in diesem Zusammenhang zur Sprache kommt, ist die Tatsache, dass man im Theologiestudium Griechisch, Hebräisch und Latein lernen muss. Sollte man das ermäßigen?

JÖRG LAUSTER: Die Sprachenfrage steht nicht im Zentrum einer notwendigen Studienreform. Als hinge alles in der Theologie an diesen drei Sprachen. Theologie ist nicht Altphilologie. Die große Mehrheit unserer Studierenden kommt heute ohne altsprachliche Kenntnisse an die Universität. Darum sollten wir sie nicht mehr fünf bis sechs Semester durch Sprachkurse jagen. Es reicht vollkommen, auf funktionale Sprach­kenntnisse umzustellen. Die Studierenden sollten ein Gespür für die jeweilige Sprache bekommen und in der Lage sein, am Originaltext Übersetzungen zu verifizieren. Wir haben hervorragende Sprachlehrer an unseren Fakultäten, die diese Um­stellung und Abkürzung der Sprachausbildung gewiss mit Bravour meistern könnten.

Wie sollte denn generell das Verhältnis zwischen theologischer Theorie und kirchlicher Praxis, also zwischen Studium und Vikariat aussehen?

JÖRG LAUSTER: Als ich in den 1990er-Jahren mein Vikariat machte, da wurde uns im Predigerseminar gesagt: „Alles, was ihr an der Universität gelernt habt, müsst ihr jetzt vergessen!“ Das war Unfug, in der Mediziner-, Juristen- oder Lehrerausbildung wäre so etwas undenkbar. Erfreulicherweise hat sich hier inzwischen einiges verbessert, die Ausbildungsabschnitte werden stärker verzahnt. Uns muss klar sein, dass Theologie und Kirche aufeinander angewiesen sind. Ohne akademische Theologie, die durch ihre universitäre Einbindung mit den Wissenschaften im Dialog steht, wird die Volkskirche zu einer Sekte, ohne den Rückhalt der Kirchen und ihrem Auftrag für das Gemeinwesen wird die akademische Theologie zu einem Orchideenfach. Kirche und Theologie muss darum daran gelegen sein, das Studium der Theologie attraktiver zu machen.

Wie könnte das geschehen?

JÖRG LAUSTER: Wir müssen historischen und philologischen Ballast über Bord werfen, damit wir in der Gegenwart ankommen können. Damit man mich hier nicht missversteht: Ich teile voll und ganz das schöne Wort von Adolf von Harnack – übrigens einer dieser großen Professoren des Kaiserreichs. „Was wir sind und haben – im höheren Sinn –, haben wir aus der Geschichte und an der Geschichte.“ Aufgabe eines theologischen Studiums ist es, in diese Geschichte einzuführen – mit Maß und Ziel. Die Lehrenden müssen sehr gute Reiseführer sein, die den Studierenden in dem riesigen Kontinent der Christentumsgeschichte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten des christlichen Denkens und Lebens zeigen. Das setzt voraus, aus dem Material exemplarisch auszuwählen und die Studierenden anzuregen, neugierig zu machen, statt sie mit Wissen zu überhäufen. Wer zu viel historisches Wissen verfüttert, darf sich nicht wundern, wenn er am Ende eines Studiums von den Examenskandidaten Unvergorenes vor die Füße erbrochen bekommt. Appetitlicher formuliert: Die hochschuldidaktischen Ansprüche an die Lehre sind heute immens gestiegen. Darüber kann man sich in Wissenssoziologie und Pädagogik rasch kundig machen. Wir können in den komplexen Rahmenbedingungen einer digitalen Wissensgesellschaft nicht einfach nur Wissen weitergeben, wir müssen Kompetenzen ausbilden, wie mit diesen Kenntnissen im Blick auf die Gegenwart umzugehen ist. Es geht darum, Studierende zur Vermittlung religiöser Inhalte zu bilden. Das fordert auch uns Lehrende. Wir müssen uns didaktisch weiterqualifizieren, um die Lehre den gestiegenen Herausforderungen anzupassen.

Was meinen Sie genau, wenn Sie von Vermittlungskompetenz sprechen?

JÖRG LAUSTER : Die Theologie mit ihrer heutigen Stellung an den Universitäten ist eine – wie es in der Sprache des 19. Jahrhunderts hieß – positive Wissenschaft. Sie dient der Ausbildung zur Bewältigung einer späteren beruflichen Aufgabe, so wie es im Medizin- und Jurastudium auch geschieht. Wir bilden Studierende aus, die künftig als Pfarrer und Lehrerinnen an der Weitergabe und Vermittlung der zentralen Motive des Christentums arbeiten werden. Aufgabe des Studiums ist es, diese zentralen Motive aus ihrer jeweiligen Zeit heraus zu verstehen und in die Gegenwart hinein zu übersetzen, um Menschen mit dem Schatz unserer Tradition zu religiöser Reflexion und Nachdenklichkeit anregen zu können. Diese Vermittlungskraft muss man trainieren. Das kommt in der jetzigen Gestalt des Studiums zu kurz.

Wo sehen Sie denn da im Moment die größten Defizite?

JÖRG LAUSTER : Wir ertrinken im Historischen und Philologischen und kommen nicht in der Gegenwart an. Bei aller berechtigten historischen Methodik können wir bei den biblischen und dogmatischen Texten nicht immerfort die Frage ausblenden, was wir heute damit anfangen sollen. Diese Vermittlungsaufgabe kann nicht einfach an die Praktische Theologie oder gar in das Vikariat abgeschoben werden. Jede Disziplin muss sich selbst darum kümmern.

Sie halten es also für notwendig, dass solche Einsichten auch in den exegetischen Wissenschaften selbst besser aufbereitet werden, damit sie für die gesamte Theologie etwas austragen?

JÖRG LAUSTER: Ja, das wäre absolut notwendig. Im Nachdenken, wie wir das Theologiestudium zeitgemäßer machen können, macht mir die Exegese tatsächlich Sorgen. Mein Kummer ist vermutlich nichts anderes als enttäuschte Liebe, denn ich habe seit meiner Studienzeit bis zu heutigen gemeinsamen Lehrveranstaltungen wirklich viel von exegetischen Kolleginnen und Kollegen gelernt. Sie pflegen mit den biblischen Texten das – um es mit den Worten Ulrich Barths zu sagen – „symbolische Kapital des Christentums“. Wenn ich aber in eine Vielzahl von exegetischen Veröffentlichungen und vor allem in die Qualifikationsschriften hineinschaue, ist davon wenig übrig. Die sind historisch und vor allem philologisch oftmals so überzüchtet, dass kein religiöser Gedanke mehr darin zu finden ist. Dies ist eine Fehlentwicklung und führt theologisch in eine Sackgasse. Es ist außerdem eine vertane Chance. Von Robert Bellah bis Jürgen Habermas interessieren sich Soziologen und Philosophen für die Genese unserer christlich-jüdischen Tradition, und die, die es von uns am besten wissen müssten, schweigen zu diesen Debatten. Wir wissen nicht mehr, was Theologie als Ganzes sein soll. Das war einmal anders. Von Schleiermacher über Karl Barth bis in die Gegenwart gibt es theologische Enzyklopädien. Es ist also gewiss nicht so, dass wir die Enzyklopädie neu erfinden müssten. Aber im Moment hat unser theologisches Arbeiten keinen Fluchtpunkt, auf den wir uns gemeinsam beziehen.

Sind Wünsche nach einer Enzyklopädie eines Faches im absoluten Pluralismus des 21. Jahrhunderts vielleicht vermessen?

JÖRG LAUSTER: Gerade wegen dieser rasanten Pluralisierung sind sie nötiger denn je! Natürlich hat die Theologie Anteil an der voranschreitenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften. Auch in der Medizin werden ein Chirurg und eine Augenärztin in dem, was sie an Spezialforschungen konsumieren müssen, um ihren Beruf auszuüben, kaum viele Gemeinsamkeiten haben. Aber am Ende wissen und vertrauen beide darauf, dass das, was der andere macht, demselben Zweck dient, nämlich der Herstellung und Ermöglichung von Gesundheit. Ein solches gemeinsames Ziel ist uns in der Theologie abhandengekommen. Darum fragen wir uns bei Arbeiten aus anderen Disziplinen immer häufiger: Was ist an dieser Arbeit theologisch?

Was wäre denn Ihrer Ansicht nach „das Theologische“ an der Theologie?

JÖRG LAUSTER: Wenig überraschend schließe ich mich hier der liberal-kulturprotestantischen Linie an. Alles, was wir in der Theologie treiben, hat letztlich mit Religion, mit religiösen Erfahrungen in ihrer Entstehung und in ihrer Weitergabe im Kontext des Christentums zu tun. Die biblischen Fächer erhellen die Entstehung dieser Erfahrungen, Kirchen- und Dogmengeschichte erläutern, wie sie als Ideen und Lebensformen weitergegeben und dabei transformiert wurden, Systematische und Praktische Theologie entfalten, wie wir diese Motive, Ideen und Lebensformen in unsere heute Lebensführung übertragen können. Was nicht mit dem Glutkern der Religion zu tun hat, ist historisch vielleicht manchmal interessant, theologisch aber belanglos.

Sie kritisieren die Weigerung vieler theologischer Fakultäten, sich mit dem seit Jahrzehnten bestehenden Reformprozesses des europäischen Universitätswesens, dem sogenannten Bologna-Prozess, einzulassen. Was sollte sich denn diesbezüglich im deutschen Theologiestudium ändern?

JÖRG LAUSTER: Eine Debatte über den Bologna-Prozess wollte ich gewiss nicht initiieren, denn darüber gibt es nichts mehr zu diskutieren. Er ist seit über einem Jahrzehnt an den Universitäten der EU umgesetzt. Vieles an Bologna ist verbesserungsbedürftig – man bräuchte zum Beispiel etwas mehr freien Gestaltungsspielraum im Studienablauf –, vieles ist jedoch weit besser als der Ruf. Die Bologna-Reform folgt der richtigen und schönen Idee, eine Vergleich-barkeit akademischer Ausbildungen in allen europäischen Ländern zu ermöglichen und darum Studien­inhalte zu strukturieren.

Halten Sie denn das Bologna-Prinzip mit spezifischem Blick auf das Theologiestudium in Deutschland für sinnvoll und umsetzbar?

JÖRG LAUSTER: Ja natürlich. Es spricht überhaupt nichts dagegen, das Theologiestudium vollständig auf Bachelor- und Masterabschlüsse umzustellen. Der berufsqualifizierende Abschluss ist der Master.

Aber wäre dann ein Jörg Lauster , wenn er so hätte studieren müssen, der geworden, der er jetzt ist? Hätte er dann später mal eine 700-seitige Kulturgeschichte des Christentums schreiben können?

JÖRG LAUSTER: Wir sollten das Studium auch nicht überschätzen. Es ist der Anfang, nicht das Ende eines theologischen Bildungswegs. Gerade darum muss es wieder zeitgemäßer, belangvoller und anregender werden, damit nicht nur künftige Professorinnen, sondern auch Pfarrer und Lehrerinnen ein Leben lang Freude daran haben, sich theologisch weiterzubilden und eigene Themen zu verfolgen.

Wie waren die Reaktionen auf Ihren Beitrag in der Süddeutschen? Sehen es viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Theologie ähnlich, oder sind Sie ein einsamer Rufer in der Wüste?

JÖRG LAUSTER: Wie überall in unserer Gesellschaft prallen Fronten auf­einander. Es gibt Vertreterinnen und Vertreter in der Theologie, die wie ich meinen, dass wir das Theologie­studium grundlegend reformieren müssen. Es gibt andere, die an der jetzigen Theologie hängen und alles, wie es jetzt ist, für heilig erklären. Manchmal bezweifle ich, ob unser System in Anbetracht dieser Antagonismen noch reformierbar ist. Aber überwiegend bin ich optimistisch und meine, dass wir alles daransetzen sollten, dieses wunderbare Studienfach neu aufzustellen.

Das ist sicher wünschenswert. Aber konkret gefragt, wer müsste dafür auf diesem Feld als nächstes was tun? Was müsste konkret geschehen?

JÖRG LAUSTER: Mit Schönheits­reparaturen und einer kleinen Änderung hier oder da ist es nicht mehr getan. Wir sollten bei der Neuordnung an einen Neubau denken. Was muss Theologie heute leisten? Ihr Vermittlungsauftrag wird uns auch dazu nötigen, die Fächer neu aufzustellen. In der konkreten Durchführung gibt es eingespielte Mechanismen. Die Gemischte Kommission bietet eine professionelle Basis, sie könnte zu einer Arbeitsgruppe erweitert werden, zu der Vertreter der bisherigen theologischen Disziplinen, aber auch Wissenschaftliche Mitarbeiter und Studierende eingeladen werden. Warum nicht auch Pfarrerinnen und Lehrer, die aus ihrer Berufspraxis beisteuern, was sie an ihrer akademischen Ausbildung vermisst haben? Die Arbeitsgruppe könnte in einem Jahr eine Rahmenordnung für das Studium vorlegen, die dann in einem weiteren Jahr durch die Gremien geht. Partikularismen und Sondervorlieben von Fächern, Fakultäten und Menschen müssten sich einer Mehrheitsentscheidung beugen.

Halten Sie es für realistisch, dass nach Jahrzehnten relativen Stillstands die Verantwortlichen in Kirchen und Fakultäten so einen Reformeifer und so ein Tempo an den Tag legen?

JÖRG LAUSTER: Olaf Scholz sprach bei der Eröffnung des LNG-Terminals vor Wilhelmshaven von der neuen „Deutschland-Geschwindigkeit“. Als Bundeskanzler weiß er natürlich, dass dies nichts mit der Wirklichkeit in einem von Reformstaus geplagten Land zu tun hat, sondern eine grandiose Selbstermunterung ist. Wir können, wenn wir nur wollen – und die Zeiten, in denen wir leben, verlangen das von uns. Das gilt auch für Theologie und Kirche.

 

Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 15. Dezember in München.

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