Am 1. Februar 1923, vor genau einhundert Jahren, starb der Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch in Berlin. Friedrich Wilhelm Graf, der vor kurzem eine umfangreiche Biografie Troeltschs vorgelegt hat, beschreibt in seinem Gedenkbeitrag, wie er von Troeltsch als Theologe geprägt wurde und worin bis heute seine Bedeutung liegt.
Eine autobiografische Vorbemerkung sei ausnahmsweise erlaubt: Wenn ich, so der Wunsch der Redaktion, über die aktuelle theologische Bedeutung Ernst Troeltschs etwas sagen soll, kann ich nur meine sehr subjektive Sicht seiner möglichen Gegenwartsrelevanz skizzieren. Ich bin einst zufällig zur Lektüre seiner Texte gekommen und habe dann bald eine detektivisch aufregende Suche nach verschütteten Quellen zu Werk und Leben begonnen.
Mein intellektuelles Verhältnis zu Troeltsch ist allerdings gebrochen. Sehr viel stärker als jeder andere deutschsprachige protestantische Theologe des vergangenen Jahrhunderts war Troeltsch ein Denker des Pluralismus, der religiöse Vielfalt und theologische Ideenkonkurrenz als legitim und unhintergehbar erachtete. Aber er war immer auch auf der Suche nach Synthese und kultureller Integration. Sein Denken changierte fortwährend zwischen liberalem Freiheitspathos und strukturell konservativem Beharren auf Bindung an überindividuelle Kulturwerte. Gerade in den inneren Spannungen seines Denkens liegt dessen Reiz und bleibende Anregungskraft. Adolf von Harnack hatte recht, als er den Freund 1929 zu den wenigen wirklich genialen Geistern der modernen protestantischen Theologie zählte.
Die erste systematisch-theologische Lehrveranstaltung, die ich besuchte, war im Wintersemester 1969/70 ein von Christof Gestrich in Tübingen gehaltenes Proseminar über „Die Anfänge der dialektischen Theologie“. Durch die beiden Quellenbände, die Jürgen Moltmann 1962 in der „Theologischen Bücherei“ des Christian Kaiser Verlags veröffentlicht hatte, nahm ich das von Karl Barth und mehr noch seinen Barthianern entworfene herrschende Geschichtsbild zur Kenntnis. Es war irritierend übersichtlich und politisch simpel. Juvenil starke, helle Lichtgestalten hatten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs alte, senile theologische Wilhelminer in die Wüste des berechtigten Vergessens gejagt. Die sogenannten liberalen Theologen des Kaiserreichs waren hier bourgeois, kulturfromm und nationalistisch. Mit ihrem historistischen Denkstil hatten sie nur Relativismus gepredigt und Glaubenssubstanz in seichte Beliebigkeit aufgelöst. Auch galten sie als Individualisten, die weder fromme Gemeinschaft denken noch starke kirchliche Autorität hatten begründen können. Dass man ihnen eine apologetische Nähe zum modernen Kapitalismus attestierte, kam in den späten 1960er-Jahren als ein für uns studentenbewegt kritische Jüngere vernichtendes Urteil hinzu.
Vernichtendes Urteil
Gegen diese so wunderbar eindeutige Erzählung, die in ihren Vorlesungen und Seminaren neben Jürgen Moltmann auch Hans Küng und der alte Hermann Diem verkündeten, erhob sich in Tübingen allerdings auch Protest. Der rhetorisch brillante Kirchenhistoriker Klaus Scholder, der sich, für uns Leser von Marx’ „Grundrissen“ und anderen linken Quellen unfassbar, in der FDP engagierte, hatte 1963 in der linksbarthianischen Zeitschrift Evangelische Theologie einen Aufsatz „Neuere deutsche Geschichte und protestantische Theologie“ veröffentlicht, in dem er mit Blick auf die schnell als klassisch geltenden Studien Kurt Sontheimers und Christian Graf von Krockows über den antidemokratischen Dezisionismus eines Heidegger, Jünger, Schmitt und diverser anderer Vordenker der „konservativen Revolution“ die Nähe der antiliberalen Theologen der „Frontgeneration“ zur im protestantischen Deutschland weit verbreiteten Kritik der parlamentarischen Demokratie nachzeichnete.
Die Lektüre von Scholders Moltmann-Kritik machte mich nachdenklich, weil sie in Gestrichs Proseminar gar nicht erst zur Kenntnis genommen worden war. Wie war es zu erklären, dass ein Vordenker der neuen „Politischen Theologie“ wie Moltmann jede zeithistorische Kontextualisierung des Aufbruchs der „Dialektischen Theologie“ ablehnte und behauptete, Barth und andere hätten damals nur eine überzeitlich gültige, aber verdrängte Offenbarungswahrheit neu entdeckt? Da ich nun einmal Geschichte, Theologie, Philosophie und auch sehr viel Soziologie studierte, suchte ich das bei den Theologen Vernommene irgendwie mit dem bei den Anderen Gehörten zu vermitteln. Troeltschs Zentralbegriff „Zusammenbestehbarkeit“ kannte ich damals noch nicht. Ich wollte kognitive Dissonanzen zwischen meinen theologischen Interessen und meinen soziologisch informierten gesellschaftsgeschichtlichen Neigungen bearbeiten. Das Problem: Sieht man von Eberhard Jüngel und Dietrich Rössler ab, waren die Tübinger Philosophen wie insbesondere Walter Schulz und auch ein unorthodoxer Marxist wie Rolf Denker intellektuell sehr viel attraktiver als die oft sehr herrisch und autoritär auftretenden Großordinarien der beiden Theologischen Fakultäten.
1969 gab Trutz Rendtorff Ernst Troeltschs Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte als „Siebenstern-Taschenbuch“ neu heraus. Im Jahr darauf erinnerte Hans-Ulrich Wehler in seinen Krisenherden des Kaiserreichs an „das nüchterne Eingeständnis und Autoritätsurteil von Ernst Troeltsch“, „die ganze marxistische Fragestellung“ sei mit ihrer Unterscheidung von materieller Basis und ideologischem Überbau eine „wirkliche Entdeckung“. Rendtorff und Wehler: der Erste ein liberal-konservativer lutherischer Ethiker aus Mecklenburg, der Zweite ein sehr frommer sozialdemokratischer Calvinist aus dem Bergischen Land – dass diese beiden entschieden Troeltsch-Lektüre empfahlen, machte mich in den Widersprüchen meiner Studienfächer neugierig.
Diese Neugier wurde durch die intensive Lektüre von Texten Max Webers verstärkt, entdeckte ich doch bald, dass die beiden Heidelberger Ordinarien seit den späten 1890er-Jahren „Fachmenschenfreunde“ mit dichtem Austausch über die protestantische Ethik und die moderne Welt gewesen waren. Webers Kampf für trennscharfe Begriffe verstärkte aber auch meine innere Distanz gegenüber der dogmatischen Wolkenkuckucksheimrhetorik der Theologen.
Revision elementarer Annahmen
Aus dem frühen Troeltsch-Interesse wurde eher zufällig eine jahrzehntelange editorische Arbeit. 1978 waren gut 200 Briefe bekannt. Nun sind in den fünf Briefbänden der Kritischen Gesamtausgabe der Werke, Briefe und Vorlesungen Ernst Troeltschs 1227 Briefe von Troeltsch und 542 an ihn gerichtete Schreiben zugänglich. Über keinen anderen deutschsprachigen Theologen des Kaiserreichs wissen wir inzwischen so viel wie über Troeltsch.
Die Veränderung des Blicks auf Troeltsch bedeutet auch eine kritische Revision elementarer Annahmen über den theologischen Diskurs der 1920er- und 1930er-Jahre: Man muss nur einmal seine vernichtende Rezension von Emanuel Hirschs „Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens“ aus dem Jahr 1921 lesen, um zu sehen, dass er politisch sehr viel hellsichtiger war als die meisten antiliberalen Theologen der Zwischenkriegszeit. Er hatte ein außergewöhnliches, vielleicht einzigartiges Gespür für die fundamentalpolitischen Implikationen theologischer Ideen. Im Falle Hirschs sah er jedenfalls klar, dass hier im Namen des deutschen Luthertums nur antiwestliche Ideologieproduktion in republikfeindlicher Absicht betrieben wurde.
Von Karl Barth fortgeschrieben
Bleibend relevant ist Troeltschs Kritik der politischen Ethik des Neuluthertums, dem er Staatsfrömmigkeit, Autoritätskult und vermeintlich apolitischen Quietismus vorwarf – mit der Folge, dass er in der englischsprachigen, dominant calvinistischen Welt zustimmend rezipiert, aber von den Kirchenhistorikern der deutschen „Lutherrenaissance“ vehement abgelehnt wurde. Seine Figuren der Unterscheidung von reformierter und lutherischer Ethik wurden dann aber, paradox genug, von einem seiner schärfsten Kritiker fortgeschrieben: Der Reformierte Karl Barth konfrontierte seit den ausgehenden 1920er-Jahren antidemokratische Lutheraner wie Paul Althaus, Friedrich Gogarten, Werner Elert und Emanuel Hirsch mit genau jenen Einwänden gegen die neulutherische Ordnungsethik, die Troeltsch, unterstützt von Max Weber, seit der Jahrhundertwende mit wachsender Aggressivität vorgetragen hatte. Wer sich einen nüchternen, realistischen Blick auf das in den deutschen Kirchen weit verbreitete Moralgeschwätz bewahren will, kann aus den „Soziallehren“ noch immer viel lernen.
Gern wurde und wird Troeltsch als ein „Kulturprotestant“ bezeichnet. Aber er selbst hat sich niemals so gesehen. Den Begriff verwendet er nur ein einziges Mal, mit analytischer Distanz. In Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit attestiert er dem „Kulturprotestantismus“ eine „sehr bunte Mischung“ heterogener Motive: „antikatholischer Protest, ethische Gewissensreligion, ein allgemeiner blasser Idealismus, Sympathie und Verehrung für die Persönlichkeit Luthers, historische Einsicht in den Zusammenhang der modernen Kultur mit dem Protestantismus, sozial-idealistische Bestrebungen, absoluter independenter Individualismus, Gefühl für die Unentbehrlichkeit einer religiösen Grundlage der Gesamtkultur, liberale und demokratische Christlichkeit, schließlich eine mehr oder minder ernstliche Modernisierung der christlichen Ideenwelt“. Aber er fügt kritisch sofort hinzu: „Daß ein derartiges Gemisch schlechterdings keinen Sinn für den Protestantismus als Kirche und für die Religion als persönliche Beteiligung an der religiösen Gemeinschaft hat, liegt auf der Hand.“ Troeltsch spricht von einer „gefährlichen Schwäche“ dieses kulturellen „Protestantismus der prinzipiellen Weltanschauung“, der „mit immer demselben naiven Erstaunen“ „die Mächte der Orthodoxie, des Pietismus und Katholizismus aus den von ihm ignorierten Volksschichten und Volkskreisen aufsteigen“ sieht und erkennen muss, wie sie „die liberale Welt erschüttern und dezimieren“.
Für Troeltsch ist der „Kulturprotestantismus“ eine allzu affirmative, einseitig individualistische Bürgerreligion, die die alles Gegebene transzendierenden, überschießenden Sinngehalte des Religiösen weginterpretiert hat. „Die Größe der Religion besteht gerade in ihrem Kulturgegensatz“, schreibt Troeltsch 1911, und das ist nun wahrlich das genaue Gegenteil jener „Kulturseligkeit“, die den Kulturprotestanten oft nachgesagt wurde. „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits“, hat Troeltsch den konstitutiven Transzendenzbezug des Religiösen bündig zusammengefasst. Im Wissen darum, dass religiöser Glaube mehr und anderes als nur Moral ist. Nebenbei bemerkt: Der Begriff „Gewissensreligion“ ist nicht, wie jedoch in Hunderten von gelehrten Aufsätzen und Monografien zu lesen ist, von Karl Holl, sondern von Troeltsch in den theologischen Begriffshaushalt eingeführt worden.
Der Berliner Kultur- und Geschichtsphilosoph hat darauf verzichtet, alte Heidelberger Pläne zur Veröffentlichung einer „Glaubenslehre“ und einer „Christlichen Ethik“ weiterzuverfolgen. Doch trotz der Bedenken, die man aus editionsphilologischen Gründen gegen Gertrud von le Forts postume Edition von Troeltschs „Glaubenslehre“-Vorlesung erheben kann, tut man gut daran, neben den zahlreichen religionsphilosophischen Texten auch die im engeren Sinne dogmatischen Veröffentlichungen des „Dogmatikers der Religionsgeschichtlichen Schule“ ernst zu nehmen. Auch wenn er sich selbst in die Tradition Schleiermachers stellte, wich Troeltsch in seiner Konzeption der „Glaubenslehre“ doch signifikant von dem verehrten Berliner idealistischen Meisterdenker ab. Glaubenslehre könne keinerlei kirchliches Normal- oder Allgemeinbewusstsein mehr darstellen, sondern sei nur die Explikation der religiösen Bewusstseinszustände des individuellen Dogmatikers.
Radikal subjektiviert
Glaubenslehre wird von Troeltsch radikal subjektiviert, wodurch der Pluralismus der theologischen Entwürfe und Ansätze verstärkt wird. Troeltsch zieht die seit dem Aufklärungstheologen Johann Salomo Semler (1725 – 1791) etablierte liberaltheologische Unterscheidung von Religion und Theologie (als der Reflexionsinstanz des religiös vorstellenden Bewusstseins) der Tendenz nach oder momentan ein. Er kennt nur noch konkurrierende Privatdogmatiken der diversen Glaubenslehrer. Selbst wer mit dem Anspruch auftritt, „Kirchliche Dogmatik“ oder eine überindividuell verbindliche systematische Sicht des „Wesens des Christentums“ entfalten zu können, bietet für Troeltsch nur seine je eigene Sicht der christlichen Symbole.
Troeltsch war ein Grenzgänger und notorischer Unruhestifter. Für den Fachbetrieb der wilhelminischen Universitätstheologie hatte er oft nur Verachtung übrig. Er warf der großen Mehrheit seiner Kollegen Realitätsverweigerung, Ghettomentalität und bornierte Starrsinnigkeit vor. Er verachtete die Nationalisierung des Religiösen und die Perversion des Christlichen zu einer „Kriegervereinsreligion“.
Sein eigenes Denken war seit den Göttinger Anfängen fortwährend im Fluss. Dank seiner ungeheuren Konsumtionskraft und der Bereitschaft, sich Einsichten aus ganz unterschiedlichen Diskursen zu eigen zu machen, war er zu selbstkritischer Revisionsfähigkeit imstande. So entwickelte er einen ganz eigenen dialogischen Denkstil, für den Skepsis, Selbstbegrenzung und die Anerkennung unaufhebbarer elementarer Verschiedenheit konstitutiv waren. Die Wirklichkeit gehe niemals in irgendeinem abschließenden Begriff auf, lautete sein auch an Kant geschultes philosophisches Credo.
Position korrigiert
In seinen durchaus konfliktreichen, von ernsthaften Seelenkämpfen geprägten theologischen wie philosophischen Lernprozessen gelangte Troeltsch schließlich zu der Einsicht, dass seine 1902 vertretene Position, das Christentum sei zwar keine absolute Religion, doch als Persönlichkeitsreligion die bisher höchste, unüberbotene Realisierungsgestalt des Religiösen, nicht haltbar sei. Als Religion Europas (dem Troeltsch auch Nordamerika zurechnete) sei es nur „für uns“, nicht aber für die in ganz anderen Welten lebenden Frommen der lebensdienlich sinnbringende Glaube. Kein Zufall, dass Troeltsch damit zum wichtigsten Referenzautor (und bisweilen auch Heiligen) der pluralistischen Religionstheologen wurde. Troeltsch war hier aber sehr viel vorsichtiger als viele der auf ihn sich Berufenden. Er wusste, dass wir anderes oft nicht oder nur partiell verstehen, und pflegte mit Blick auf fremde Glaubenswelten einen Gestus kognitiver Bescheidenheit. Die Grenzen des eigenen Erkennenkönnens waren ihm schmerzlich bewusst. Genau darin liegt seine bleibende Relevanz, jedenfalls für mich.
Literatur
Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologie im Welthorizont. C. H. Beck Verlag, München 2022, 550 Seiten, Euro 38,–.
Friedrich Wilhelm Graf
Dr. D. Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik. Er lebt in München.