Wenn mich nicht alles täuscht, lässt sich seit längerem ein Kulturwandel in der Wissenschaft beobachten. Als ich 1983 in München studierte, erschien zehn Minuten vor dem Professor – es handelte sich übrigens um den bekannten systematischen Theologen Wolfhart Pannenberg – im Seminarraum dessen (nebenbei bemerkt: sehr begabter) Assistent. Er entnahm aus einer schmalen Aktenmappe ein goldgelbes Staubtuch und wischte den Tisch, an dem sein Chef Platz zu nehmen pflegte. In Zeiten, in denen man noch mit Kreide an Tafeln schrieb, lag über allem, was sich in der Nähe der Wandtafeln befand (wie beispielsweise auf dem Tisch) eine dünne weiße Schicht Kreide, die sich insbesondere von dunklen Hosen unvorteilhaft abhob. Nachdem der Assistent mit dem goldgelben Staubtuch den Tisch und den davorstehenden Stuhl sorgfältig abgewischt hatte, legte er auf denselben noch die grüngebundene Textausgabe, die im Seminar diskutiert werden sollte und die Notizen des Professors. Dann verschloss er sorgfältig die schmale Ledermappe und stellte sie an die Seite. Etwas später erschien Pannenberg und nahm auf dem gründlich gereinigten Stuhl Platz. Und die Hose blieb kreidefrei.
Natürlich geht es mir bei der Anekdote nicht darum, etwas für einen einzelnen Professor oder einen Studienort Charakteristisches zu erzählen. Ich will vielmehr einen Kulturwandel illustrieren, denn ich kenne keinen einzigen Kollegen und auch keine Kollegin in einer der Berliner Universitäten, deren Assistent Tisch und Stuhl vor dem Beginn der Stunde im Seminarraum reinigt – selbst wenn weiter mit Kreide gearbeitet wird, die immer noch so herrlich staubt wie vor vierzig Jahren. Auch in Tübingen, wo ich später selbst als Assistent arbeitete, war es nicht sehr viel anders als in München, obwohl man die theologischen Gegensätze zwischen den beiden Orten durchaus kultivierte. Ich habe beispielsweise bei meiner seinerzeitigen Chefin der Kirchenhistorikerin Luise Abramowski, der ich bis heute tief dankbar für alles bin, was ich bei ihr lernen durfte, in ihrer privaten Wohnung die frisch gewaschenen Vorhänge aufgehängt und auf einer niedrigen Leiter mit ausgestreckten Armen die Reiter in die Führungsschiene zu bugsieren versucht. Bei Nachmittagseinladungen bin ich in ihrer Wohnung herumgegangen und habe den Professoren (und wenigen Professorinnen) Petit Fours zum Tee angeboten. Auch das kann man sich heutzutage schlecht als Dienstaufgabe für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorstellen.
Andere Entscheidungswege
Den Kulturwandel in der Wissenschaft kann man nicht nur in der gewandelten Arbeitsbeziehung zwischen Professoren und Assistenten beobachten. Man kann ihn auch in den Institutionen der Wissenschaftsförderung beobachten. Vor einiger Zeit durfte ich in den Akten nachverfolgen, wie vor über vierzig Jahren der Hamburger systematische Theologe Helmut Thielicke als Gutachter in einer großen Wissenschaftsstiftung agierte. Thielicke wischte beispielsweise den Antrag eines bis heute bekannten systematischen Kollegen mit zwei Zeilen vom Tisch – er verstehe den soziologischen Jargon des Antragstellers nicht und votiere daher für Ablehnung.
Auch hier hat sich die Entscheidungskultur stark gewandelt: Die Gutachten sind länger, es schauen immer mehrere Personen, Instanzen und Begutachtungsrunden auf den Antrag und selbstverständlich begutachtet niemand Anträge auf Tagungen, an denen er selbst beteiligt ist und bewilligt sich das Geld mal eben. Da ordnet die Verwaltung eine anonyme Fremdbegutachtung an. Auch hier hat sich die Kultur gewandelt: Ein systematisch-theologischer Antrag auf Förderung, der schon sprachlich interdisziplinäre Offenheit gegenüber der Soziologie dokumentiert, könnte in bestimmten Förderzusammenhängen sogar ein leichtes Prä bekommen gegenüber rein monodisziplinären Projekten. Aber auch nur in bestimmten Förderzusammenhängen und längst nicht in allen.
Professoren am Kopierer
Kulturwandel an vielen Stellen, die paar Beispiele reichen hoffentlich aus. Natürlich will ich damit nicht behaupten, dass dieser Kulturwandel flächendeckend alles verändert hat, was uns heute an überlieferten Universitäts- und Wissenschaftsstrukturen problematisch oder gar lächerlich erscheint. 2021 entstand die Grassroots-Initiative „#IchBinHanna“ (https://ichbinhanna.wordpress.com/) als Reaktion auf ein Video des Bundesforschungsministeriums, in dem am Beispiel einer Kunstfigur namens Hanna die Karriereschritte nach den engen Befristungszeiträumen erklärt wurden, die das Wissenschaftszeitvertragsgesetz gesetzlich normiert hatte. In den Stellungnahmen, Tweets und Veröffentlichungen der Initiative wurden verschiedenste prekäre Arbeitsverhältnisse herausragender junger Talente öffentlich. Der Vorwurf, hier würden unter dem Vorwand verlässlicher Karrierewege Dauerstellen für Minderbegabte gefordert, die sich im Kampf um die Professuren nicht durchsetzen können, trifft gewiss nicht zu: So hat beispielsweise eine der Protagonistinnen der Initiative, die Stuttgarter Philosophieprofessorin Amrei Bahr, eine kluge Untersuchung über die moralischen Rechte von Urheberinnen und Urhebern an ihren geistigen Schöpfungen veröffentlicht. Natürlich will ich auch nicht behaupten, dass jede Berufung, jede Förderentscheidung und jede Ablehnung eines Aufsatzes über alle Zweifel erhaben ist, weil sich da und dort die Kultur gewandelt hat. Aber man kann gegen Berufungsverfahren klagen, Förderanträge anderswo vorlegen und Aufsätze in einer weiteren Zeitschrift einreichen.
Ich blicke bald auf dreißig Jahre Tätigkeit als Professor in deutschen Universitäten zurück und beobachte den Kulturwandel natürlich auch an mir selbst. Wenn man einmal in den Vereinigten Staaten in einer Institution gesehen hat, dass dort überall Kopierer stehen, die für eine Kopie kein Entgelt von denen verlangen, die kopieren und da selbstverständlich auch die Professoren kopieren, kommt man sich plötzlich komisch vor, wenn man eine studentische Hilfskraft um Kopien bittet. Wenn man einmal das Glück hatte, durch den Zugang zu der digitalen Bibliothek einer großen englischen Universität alle wichtigen Zeitschriften und viele Bücher auf dem heimischen Bildschirm vorzufinden, mag man niemand mehr in die Bibliothek schicken. Mit besonderem Vergnügen erinnere mich an die Gespräche mit dem irischen Antike-Historiker Peter Brown, wenn wir in der Firestone Library der Princeton University nach den Plätzen der Signaturen der Bücher suchten, die wir jeweils entleihen wollten. Diesen wenig hierarchischen angelsächsischen Stil habe ich in den letzten Jahren mehr und mehr schätzen gelernt.
Departments statt Lehrstühle
Wenn mich nicht alles täuscht, wird der Kulturwandel weiter gehen. Es gibt ja nicht nur „#IchBinHanna“. Die Junge Akademie, eine gemeinsame Einrichtung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina, hat vor einiger Zeit gefragt, ob wir nicht anstelle des Lehrstuhlprinzips mit seinen Assistierenden besser auf Departements nach amerikanischen Vorbild setzen sollten, in denen jüngere Forschende schon sehr früh auf selbständige Stellen kommen und keinem Chef bzw. keiner Chefin mehr abhängig zuarbeiten müssen (https://www.diejungeakademie.de/de/publikationen/departments-statt-lehrstuhle-moderne-personalstruk). Das Konzept ist umstritten und eignet sich vielleicht auch nicht für jedes Fach und jede Universität. Aber mindestens das Philosophische Institut der Humboldt Universität zu Berlin war so begeistert davon, dass man gleich umsetzen wollte – die Professorinnen und Professoren wollten also freiwillig auf ihre Assistierenden verzichten. Wieder ein Zeichen eines Kulturwandels.
Und wie ist das nun in den Theologischen Fakultäten hierzulande? Als Beteiligter und Betroffener sollte man vorsichtig mit allzu überzeugten und gar noch generalisierenden Urteilen sein. Ich kenne, wie gesagt, niemanden, der mit dem Staubtuch die Tische für die jeweiligen Chefs wischen muss. Das spricht für allerlei Kulturwandel. Allerdings frage ich mich manchmal, warum bestimmte theologische Kontroversen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den letzten Jahren mit einer persönlichen Härte aufbrechen, die angesichts des geringen inhaltlichen Neuigkeitswertes wirklich nicht notwendig wäre. Das spricht gegen allzuviel Kulturwandel. Vielleicht kann man angesichts des vielspältigen Befundes – „vielspältig“ ist übrigens eine von Goethe verwendete, schöne Begriffsprägung, die der Münchner Systematiker Trutz Rendtorff erneut aufgegriffen hat – so schließen: Die anstehenden Umstrukturierungen der Theologischen Fakultäten und sonstigen Ausbildungseinrichtungen werden noch deutlicher erweisen, wie stark die Theologie an dem augenblicklichen Kulturwandel Anteil hat. Ich bin allerdings schon jetzt ziemlich überzeugt davon, dass ein Fach, dass sich diesem Kulturwandel entziehen wollte, wenig attraktiv für Forschende wie Studierende wäre.
Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.