Weltsprache

Über den Jazz

Wer Ordnungen übertreten will, muss sie lieben. Wer Theorien bilden kann, weist eine Praxis auf. Wer etwas Neues erschaffen soll, wird zuerst sehr fleißig hingehört haben. Zweifelt jemand daran, so lese er von Uwe Steinmetz Jazz in Worship and Worship in Jazz.

Ja, das Buch ist auch eine Dissertation, wie sie sich gehört: Sie ist in Göteborg eingereicht worden, auf Englisch, zumal die Weltsprache des Jazz seit hundert Jahren zu einer lingua franca gegenwärtiger Musik geworden ist. Auf 454 Seiten begegnen einem nicht nur ein Prelude, das Steinmetz bei George Russell in New England absolviert und das ihn geprägt hat und nicht nur drei große Kapitel zu Liturgical, Sacred und Spiritual Jazz. Diese sind, wie die Reprise unter dem Titel Imagine, stets gleich aufgebaut: zuerst Geschichte, dann Theoriebildung, schließlich eigene Kompositionspraxis, abschließend Folgerungen. Zudem gibt es neben der obligatorischen Bibliographie auch einen Vorspann, der hilft, 143 Grafiken, 22 Tabellen, 18 Fotos, 16 Audiofiles und sechs Videos gut zu finden. Eine beeindruckende Dokumentation, die Fleiß bezeugt und für das Losungswort steht, mit dem wie jede gute Musik auch das Buch beginnt: Listen.

Das Buch ist viel mehr als eine Doktorarbeit. Mit Listen beginnt, ob altchristlich oder postsäkular, auch jede wahre Religion. Immer wieder verlässt Steinmetz den hart gepflasterten Weg wissenschaftlicher Objektivität, weil er sich seinen Gegenstand nicht vom Leib halten kann. Die Lehrzeit bei Russell war ihm eine existentielle Initiation. So kann er die Entwicklung des Liturgical Jazz seit Louis Armstrong und Ed Summerlin (Aufnahme 1959), des Sacred Jazz seit Mary Lou Williams und Duke Ellington (Aufnahme 1965) und des Spiritual Jazz seit John Coltrane (Aufnahme 1964) nicht analysieren, ohne davon inspiriert zu sein und eigene Kompositionen folgen zu lassen. Was persönliche Sprache ist und anspricht, setzt auch eigene Sprache frei, und was Steinmetz passiert, geschieht allen, die wirklich hinhören und etwas vernehmen.

Seit Herder ab 1770 den Beweis führte, dass auch der dritte Stand kulturfähig ist, in der Lage, Kultur zu entwickeln und zu pflegen, ist sie kein Privileg mehr von Adel und Klerus. Seit 1960 gewinnen nichtkirchliche und nichtbürgerliche Kulturen in allen Sparten unaufhaltsam qualitätsorientierte Anerkennung. Um dennoch einen Primat zu wahren, unterscheidet das Bürgertum deshalb gern zwischen Hochkultur und Populärkultur. Parallel dazu wahren Kirchen den Primat ihrer Kirchenmusik, indem sie das Volk mit wenigen Ventilen für Popularmusik stillstellen. Was populär sei, gefalle und unterhalte zwar, trage aber selten Botschaften und könne Bachs soli Deo gloria nicht das Weihwasser reichen. Das Handbuch von Steinmetz straft derlei anachronistische Revieransprüche Lügen und hat deshalb auch hohe kirchenpolitische Relevanz.

Wie wohltuend, dass Interdisziplinarität selbstverständlich geübt wird: Grenzgängerei zwischen Musikologie und Neurologie, Philosophie, Theologie, Literatur erweist sich als kongenial mit dem Gegenstand, der ja selbst Ergebnis fortlaufender Grenzüberschreitung ist. Wie wohltuend, dass dem Vorurteil, Jazz sei das Ende musikalischer Ordnung, eindrückliche Grafiken entgegentreten. Mit gotischem Maßwerk und barocker Spiegelsymmetrie können sie spielend Schritt halten. Wie wohltuend für die Zunft der Theologie, dass der Gegenstand der Forschung einmal kein historisches Dokument ist, sondern etwas, das lebt und Leben schafft, sich ständig anverwandelt.

Bleibt zu hoffen, dass bald eine deutsche Fassung erscheint: für Jazz Ministry in zukunftsfähigen Gemeinden und Kirchen, ein Handbuch, das ohne den Ballast wissenschaftlicher Pflicht, dafür mit der Neugier weckenden Kraft engagierter Kür daherkommt, eine Quelle, die Kirchenleitende ermutigt und unterstützt, mit der lingua franca einer weltweiten Musiksprache die klerikalen Provinzen des 19. Jahrhunderts doch noch hinter sich zu lassen.

 

Information

Bestellt werden kann es zum Preis von 30 EURO inklusive Versand hier:

Liturgiewissenschaftliches Institut der VELKD

- Musik und Gottesdienst -
Beethovenstr. 25
04107 Leipzig
Telefon: 0341 9735-480
E-Mail:  liturgie@uni-leipzig.de

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