Anna Mayr kennt die Armut. In der Schule gehörte sie zu denen, die kein angesagtes Sportzeug hatten und nicht am Schüleraustausch teilnehmen konnten. Ihre Eltern waren arbeitslos. Sie selbst hat dann als Journalistin schnell Karriere gemacht. Das hat sie in ein Milieu geführt, in dem „die Arbeitslosen“ in den „Problemvierteln“ mit einer Mischung aus Mitleid und Schaudern nur von sehr fern wahrgenommen werden und auch schon mal vom „Hartz-IV-Nazi“ die Rede ist. Immer wieder wütend über die „dicke Wand von Vorurteilen“, der sie begegnet, will sie mit ihrem Buch nun nicht nur Empathie für das Elend der Menschen ohne Arbeit wecken, sondern vor allem aufzeigen, dass es das gesellschaftliche System ist, das dieses Elend mit Absicht produziert: Es soll diese Gruppe der Ausgegrenzten geben, damit alle andern vor lauter Abstiegsangst auch die schlechtesten Arbeitsbedingungen noch akzeptieren. Dagegen fordert sie eine neue Großzügigkeit ein, eine Gesellschaft, in der es eine „beschissene Kindheit“ wie die ihre nicht gibt.
Zunächst geht es ihr um die ideologischen Voraussetzungen: Dazu skizziert sie die Geschichte der Arbeitsethik von der Reformation bis zur Gegenwart und kommt zu dem bedenkenswerten Schluss, dass es unter dem Vorzeichen der Säkularisierung die Arbeit ist, durch die Menschen sich definieren, die ihre Identität bestimmt und ihrem Leben Sinn gibt. Die Arbeitslosen erscheinen darum als diejenigen, denen es an Identität und Sinn mangelt – eine bedrohliche Vorstellung, die dazu führt, die Betroffenen nur umso heftiger auszugrenzen.
Aber, so fährt Anna Mayr fort, da Arbeit ja keineswegs immer sinnstiftend ist, gehört zur Selbstverwirklichung in der Gegenwart auch der Konsum, die Möglichkeit, sich Wünsche zu erfüllen. Auch davon sind die in Armut Gehaltenen ausgeschlossen. Sie dürfen sich nichts anderes wünschen als Arbeit. Obendrein werden sie stigmatisiert als diejenigen, die ungesund essen und in verwerflichen Billigklamotten rumlaufen, kurz: falsch leben – ein Bild, das in zahllosen TV-Serien immer noch verstärkt wird.
Im zweiten Teil rechnet Anna Mayr dann mit dem deutschen Sozialsystem und seinen Hilfeplänen ab. Die Sozialarbeit, so ihre These, ist nur dazu da, die an den Rand Gedrängten zu „tätscheln“ und in die Anpassung an bürgerliche Normen zu zwingen. Sie fragt, ob es nicht heilsamer wäre, das viele Geld, das etwa für die Jugendhilfe gebraucht wird, einfach den betroffenen Familien zur Verfügung zu stellen. Überhaupt insistiert sie darauf, dass gegen Armut nur Geld helfen kann, und misstraut darum auch allen Bemühungen, durch Bildung mehr Chancengleichheit zu ermöglichen.
Schließlich beschreibt sie das Zustandekommen der Agenda 2010 als eine Geschichte aufkommender gesellschaftlicher Ängste und parteipolitischer Machtkämpfe mit dem Ziel, „die Arbeitslosen zu schikanieren“. Ihre Vision ist eine angstfreie Gesellschaft, in der sich vor Arbeitslosigkeit niemand mehr fürchten muss, weil der abstrakte Begriff der Arbeit nicht mehr so hoch gehängt und niemand mehr von Jobcentern drangsaliert wird. Sie stellt sich vor, dass es mit Erbschafts- und Vermögenssteuer möglich wäre, die Hartz-IV-Sätze auskömmlich zu gestalten, allen Jugendlichen aus armen Familien ein Startkapital zur Verfügung zu stellen und prekäre Arbeitsverhältnisse überhaupt abzuschaffen. Oft erscheint ihre Argumentation allzu schnellfertig, polemisch und unterkomplex. Aber etwas erreicht Anna Mayr mit einer kühnen Mischung aus weitgreifender Theorie und kleinteiliger persönlicher Erfahrung jedenfalls: Sie gibt zu denken, bricht die dicke Wand der Vorurteile auf, stellt die herrschenden gesellschaftlichen Übereinkünfte in Frage. Zu Recht.
Angelika Obert
Angelika Obert ist Pfarrerin im Ruhestand in Berlin. Sie war bis 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).