Let’s talk about sex!
Was können und sollten Predigten als Ausdrucksform evangelischer Theologie zum Thema Sexualität beitragen? Und inwiefern ist gerade in der homiletischen Vielstimmigkeit ein angemessener Raum zum Annähern an das Thema Sexualität gegeben? Das erforscht Hanna Henke in ihrer theologischen Dissertation.
Sexualität in all ihren Facetten ist eines der Themen, das unsere Gesellschaft beschäftigt. In der Evangelischen Kirche in Deutschland fehlt es jedoch in Sachen Sexualethik weitgehend an „offiziellen“ Orientierungen, an denen man sich abarbeiten könnte, um sein eigenes Profil zu schärfen. Das letzte offizielle Dokument der EKD zur Sexualethik ist die Denkschrift zweiter Klasse aus dem Jahr 1971. Ein weiterer Versuch für eine Sexualethik mithilfe einer Kommission um Peter Dabrock 2014 wurde vom Rat der EKD letztlich gestoppt. Dies zeigt die große Brisanz und Meinungsverschiedenheit in Bezug auf das Thema in der Kirche, demgegenüber immer wieder ein Konsens über die Sexualfreundlichkeit der Evangelischen Kirche behauptet wird.
Was können und sollten Predigten als Ausdrucksform evangelischer Theologie zu diesem Thema beitragen? Und inwiefern ist gerade in der homiletischen Vielstimmigkeit ein angemessener Raum zum Annähern an das Thema Sexualität gegeben? Das untersuche ich mithilfe meines Doktorvaters Alexander Deeg in meiner Doktorarbeit anhand der Analyse evangelischer Predigten der vergangenen Jahre und im interdisziplinären Austausch mit den Sexualwissenschaften.
Ein wesentlicher Ausgangspunkt meiner Arbeit ist die Gegenstandsbestimmung der Sexualpädagogik, nach der das Querschnittsthema Sexualität nicht auf Genitalität beschränkt ist, sondern auch Aspekte der Identität, Lust, Beziehung und Fruchtbarkeit berührt. Dabei bin ich überzeugt davon, dass die Existenz des Menschen eine leibliche und deshalb auch sexuelle ist, was bedeutet, dass Sexualität keine Randnotiz der Persönlichkeit darstellt, die beim Gottesdienstbesuch ausgeklammert werden könnte. Darüber hinaus ließe sich etwa mit Manfred Josuttis und Michael Nowak fragen, ob der Erlebnishorizont der Sexualität nicht gerade geeignet wäre, Gotteserfahrungen zu beschreiben.
Über Identität, Beziehung und Freude wird oft gepredigt. Auch über die Grenzen der eigenen Freiheit. Nur eben, ohne den Aspekt der Sexualität zu benennen. Dies führt – so meine Einschätzung – zu einem Missverständnis beziehungsweise einer Schräglage, wenn unbenannt bleibt, dass auch das Ausleben der Sexualität für viele zu einem erfüllten Leben gehört.
Denn während sexualethische Einschätzungen vergangener Zeiten schnell gefunden sind, da beispielsweise die gesamte sexualpädagogische Literatur in Deutschland bis in die 1960er-Jahre hinein einen konfessionellen Hintergrund hatte, sind heutige Einschätzungen – außerhalb des evangelikalen Frömmigkeitsspektrums – selten anzutreffen.
Das Schweigen kann allerdings dazu führen, einen Status quo (etwa der Heteronormativität oder einer binären Geschlechterzuordnung) zu stabilisieren, wie es bei Untersuchungen zum Prinzip „Frage nicht, erzähle nichts!“ (Don’t ask, don’t tell) an anderen Orten deutlich wurde. Denn wir sagen etwas, wenn wir nichts sagen – über uns selbst und über Andere. Wir können Aspekte des Menschlichen und Menschen in unserem Sprechen unsichtbar machen oder zu Wort kommen lassen. Im Kontext des gesellschaftlichen Sichtbarwerdens der vielfältigen sexuellen Lebens- und Identitätsformen wäre es deshalb wichtig, diese Pluralität auch in Predigten abzubilden.
In meiner bisherigen Auseinandersetzung hat sich gezeigt, dass die in kirchlichen Stellungnahmen behauptete Vorrangstellung von Sexualität in der Ehe vor außerehelicher Sexualität auch in einem Großteil der Predigten wiederzufinden ist. Das führt zu einer impliziten Defizitbehauptung: Was ist mit Menschen, die einen Teil ihres Lebens oder auch ihr ganzes Leben Sexualität nicht in einer Partnerschaft erleben können? Man denke hier an Menschen, die auf Sexualassistenz oder Solosexualität angewiesen sind. Sie kommen in den allerwenigsten Predigten vor, die mir bisher zu Analyse vorliegen.
Das Thema Sexarbeit/Prostitution ist hingegen regelmäßiger anzutreffen. In den seltensten Fällen werden Sexarbeiter_innen dabei zitiert. Meist geht es um eine moralische Einordnung der Sexarbeit, wobei zwischen der Arbeit als solcher und den Arbeitsbedingungen nicht unterschieden wird. Eine Ausnahme bilden hier die seit fast zwanzig Jahren in Bochum beziehungsweise in Wuppertal stattfindenden Gottesdienste am sogenannten Internationalen Hurentag, mit denen ich mich in meiner Arbeit intensiver beschäftige. Sexarbeiterinnen kommen hier selbst zu Wort, wodurch das Stereotyp gebrochen wird, dass Sexarbeit Menschen zu Objekten mache. Hier nutzen die Initiator_innen Anknüpfungspunkte der Bibel, so etwa die Geschichte von Rahab (Josua 2).
Auch die Sexualität in späteren Lebensjahren gehört zu den gesellschaftlich und homiletisch ausgeklammerten Themen. Dabei finden sich auch hierfür in der Bibel interessante Impulse – man denke etwa an Sara und Abraham. Ein prinzipielles Desinteresse oder gar eine Ablehnung des Themas Sexualität vonseiten älterer Menschen ist sicher nicht zu erwarten. Bei den Gottesdiensten in Bochum waren die älteren Gottesdienst-Besucherinnen sehr offen für das Thema und konnten ihre Erfahrungen der Nachkriegszeit mithilfe der Erfahrungen der Sexarbeiterinnen aufarbeiten.
Was für ältere Menschen gilt, gilt auch für Kinder und Jugendliche: Reden hilft. In der Sexualpädagogik wird immer wieder die Sprachfähigkeit zur eigenen Sexualität als wichtiger Baustein in der Prävention sexueller Gewalt genannt. Im Gegenüber zu Heranwachsenden ist das Thema der Scham besonders relevant, dem ich einen großen Teil meiner Arbeit widme. Das Austarieren von Nähe und Distanz – immer ein heikles homiletisches Thema – spielt beim Predigen über Sexualität eine besondere Bedeutung.
Denn das Ziel einer homiletischen Bearbeitung des Themas Sexualität sollte nicht das Beschämen, sondern eine Bestärkung der Gottesdienstbesucher_innen sein, ihre eigene Sexualität auszuleben. Die Ent-Tabuisierung verschiedener Lebens- und Liebesformen durch die Abbildung in der Predigt könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein. Die Bibel bietet hier viele Anknüpfungspunkte, die die Spirale des Schweigens durchbrechen helfen, ohne den nötigen Abstand zwischen Prediger_in und Gemeinde vermissen zu lassen.
Aufgezeichnet von Philipp Gessler
Hanna Henke
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.