Vergötzung

Die Gesundheitsgesellschaft

Den Einstieg markiert der Ludwigsburger Theologe Martin Wendte mit zwei Episoden: Als Pfarrer trifft er bei einem Geburtstagsbesuch auf zwei fitnessbegeisterte Senioren, die alles für ihren Körper tun und die Zeitschriften Men’s Health und Runner’s World auf dem Couchtisch liegen haben. Als Pfarrer begleitet er ebenso einen alten Mann, der friedlich stirbt.

Diese pfarralltägliche Spannung bildet die Ouvertüre zu einem weltanschaulichen Kampf von „Gesundheitsgesellschaft“ und „Gottesgesundheit“. Erstere umfasst für Wendte eine biomedizinisch-ökonomische Prägung des Gesundheitssystems sowie ein Gesundheitsverständnis, das den fitten Körper „vergötzt“, Letztere verortet er in der für ihn wichtigsten, der sozialen und religiösen Dimension von Gesundheit. Die Kirchen sieht er in der Pflicht, „den Gesundheitsbegriff der Gesundheitsgesellschaft zu brechen“. Denn Gemeinschaften wie sie hätten die Kraft dafür, so seine „kommunitaristisch angehauchte Hoffnung“.

Wendte schreibt einen systematisch-theologischen Essay. Soziologische und philosophische Gewährsleute sind etwa der Soziologe Hartmut Rosa und der Philosoph Martin Heidegger. Gewährsmann für Gottesgesundheit ist Jesus, wie er uns im Evangelium nach Markus begegnet. Wendte schreibt an gegen ein Primat der Ökonomie, gegen Vernutzung und Selbst­optimierung. Er tut dies im Namen einer Ganzheitlichkeit, die als „umfassende Gottesgesundheit“ letztlich bei und in Jesus zu finden ist.

Seine Kulturkritik kombiniert er so mit einem Überbietungsgestus, der außerhalb der Theologie und eines bestimmten Frömmigkeitsstils kaum verständlich sein dürfte. Auf diese Weise werden wichtige und lesenswerte Einsichten zu Jesus als Heiland, Befreier, Heiler und Leidender überformt. Auch die berechtigte Kritik an einem Gesundheitsverständnis, „das eine chronische Krankheit (nur) bedauert oder bekämpft und nicht auch gut tragen kann und in dem das Sterben (nur) als Niederlage angesehen wird“, wird überschattet.

Die ersten beiden Teile des Buches sind vor Corona geschrieben und in überarbeiteter Form abgedruckt worden. In den letzten beiden Teilen ändert sich unter dem Eindruck der Pandemie der Blickwinkel. Die Biomedizin kommt besser weg. Wendte bekennt: „Ja, auch ich bin #TeamDrosten.“ Vor allem aber geht er dem Wirken Gottes in der Pandemie nach. Anders als etwa der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm beschreibt er sie als „Heimsuchung“ Gottes, die zu „Umkehr“ und „Buße“ treibt. Mit Martin Luther gelangt er vom verborgenen zum offenbaren Gott. Dabei sieht er Gott zunächst nicht nur „in verschiedener Weise ins Böse involviert“ . Dieser mache durch die Pandemie neben anderen „Problemlagen“ auch „sichtbar, wie wenig hinreichend Deutschland digitalisiert ist“.

Die Gesundheitsgesellschaft beschreibt Wendte ebenfalls als gewandelte. Die Akzeptanz großer Einschränkungen nennt er einen „Akt kollektiver Nächstenliebe zum Schutz älterer und vorerkrankter Menschen“. In ihr realisiere sich „ein zentraler Aspekt jesuanischer Ethik“. Jedoch bemängelt er, dass trotz vieler Toter keine gesellschaftliche Debatte darüber geführt werde, „ob der Tod seinen letzten Schrecken verlieren kann“.

Das Buch muss und will nicht in einem Zug gelesen werden. Immer wieder verweist der promovierte Theologe auf Teile, wie etwa stärker fachwissenschaftliche, die bei mangelndem Interesse übersprungen werden können. Wiederholt werden Zusammenfassungen angeboten.

Bisweilen blitzt der trockene Humor des Autors durch. So etwa in der Beschreibung von Jesus als Heiler: „Jesus schient keine gebrochenen Beine, heilt keine Schlangenbisse und zieht keine eiternden Zähne. Vielmehr ist Jesus Spezialist für schwierige Fälle.“

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