Ein Zeugnis des Überlebens und Dankes

Wie das Tagebuch von Eva Neufeldová gefunden wurde und was es vom Holocaust berichtet
Mit 18 Jahren begann Eva Neufeldová im August 1940 ihr Tagebuch, in dem sie die Verfolgung slowakischer Juden schildert.
Foto: Tanja Lamprecht/Vladimir Roth
Mit 18 Jahren begann Eva Neufeldová im August 1940 ihr Tagebuch, in dem sie die Verfolgung slowakischer Juden schildert.

Vor wenigen Jahren fanden erwachsene Kinder der Jüdin Eva Neufeldová das Tagebuch ihrer Mutter aus der faschistischen Slowakei im Zweiten Weltkrieg. Die Auseinandersetzung mit dem Dokument führt nach Ohio und ins Rheinland, aber auch zu Einsichten über Familie und Geschichte. Der Journalist Andreas Mink erzählt sie.

Hoffentlich können wir bis zum Kriegsende überleben!“ Mit diesem Eintrag am 23. Juli 1942 endet das Tagebuch einer slowakischen Jüdin namens Eva Neufeldová. Kurz zuvor waren die damals 20-Jährige und ihre engsten Angehörigen in der Kleinstadt Ružomberok denkbar knapp der Deportation nach Auschwitz entkommen. Ihr verzweifelter Wunsch sollte für Neufeldová, ihre beiden Geschwister und die Eltern in Erfüllung gehen. Doch bis Kriegsende sollte Hitler-Deutschland mithilfe des klerikal-faschistischen Regimes der damaligen Slowakei noch die Mehrzahl ihrer Verwandtschaft und drei Viertel der rund 90 000 slowakischen Juden ermorden.

Das Tagebuch setzt im August 1940 ein und dokumentiert die immer brutalere Verfolgung der jüdischen Gemeinschaft bis hin zu den im März 1942 anlaufenden Deportationen auf eindringliche und anrührende Weise. Aber Neufeldová hat ihren Angehörigen nie von dem Schriftstück erzählt. Erst 2019 und damit lange nach ihrem Tod im Jahr 2003 hat die in Frankenthal lebende Tochter Tanja Lamprecht das Schulheft mit den Einträgen unter anderen Papieren entdeckt, die sie aus dem elterlichen Haus in Ružomberok mitgebracht hatte.

Geheimste Gedanken

Der Fund wurde schließlich in der Juli-Ausgabe des Aufbau dokumentiert und erläutert (https://www.aufbau.eu/epaper/aufbau/08-august-2022-89-jahrgang-ausgabe-04). 1934 von deutsch-jüdischen Nazi-Flüchtlingen in Manhattan gegründet, erscheint die Publikation seit 2005 bei der JM Jüdische Medien AG in Zürich. Ich bin US-Korrespondent des Verlags. Anfang des Jahres über einen Freund in Connecticut auf das Tagebuch aufmerksam geworden, habe ich die Nachkommen von Neufeldová kontaktiert: die bereits erwähnte Tanja Lamprecht und den in Akron, Ohio, lebenden Sohn Vladimir Roth. Im Folgenden soll es um das Tagebuch, aber auch die Zusammenarbeit mit den Nachkommen für die Aufbau-Ausgabe gehen.

Wie der Berliner Historiker Wolf Kaiser erklärt, liegt der Wert von „Holocaust-Tagebüchern“ in den unmittelbaren, persönlichen Schilderungen. Diese konfrontieren heutige Leser mit den Erlebnissen und geheimsten Gedanken europäischer Juden, denen zum Zeitpunkt ihres Schreibens bestenfalls die von Neufeldová ausgedrückte Hoffnung blieb. Kaiser hat dazu jüngst die Anthologie „Der papierene Freund. Holocaust-Tagebücher jüdischer Kinder und Jugendlicher“ herausgegeben. Dass ein acht Jahrzehnte altes Zeugnis auch einem Fachmann wie Kaiser direkt ans Herz greift, erklärt die Bedeutung von „Holocaust-Tagebüchern“ bereits ein Stück weit. Gerade weil die Aufzeichnungen von Neufeldová keinen „redaktionellen“ Prozess durchlaufen haben, wie das berühmte Tagebuch der Anne Frank, stellt die Rührung bei heutigen Lesern einen Beleg für eine geteilte Menschlichkeit über Generationen und Kulturen hinweg dar. Damit sind die viel diskutierten „Lektionen“ aus dem Holocaust angesprochen, aber auch aktuelle Debatten über die Instrumentalisierung der Nazi-Verbrechen beim Streit um Antisemitismus-Definitionen oder Covid-Mandate. Nach Besuchen bei den Nachkommen und monatelanger Auseinandersetzung mit dem Fund aus Ružomberok fallen mir persönlich als „Lehren“ nur ein: Bescheidenheit und Respekt.

Tagebuch auf Russisch

Dies fordern bereits die sehr spezifischen Umstände auch dieses Schicksals. So wurde in der Familie Neufeldovás wie in den meisten slowakisch-jüdischen Haushalten Deutsch gesprochen. Aber sie hat ihr Tagebuch auf Russisch und in kyrillischer Schrift geführt. Denn der Vater Ludevit Neufeld war Bauingenieur und zudem überzeugter Kommunist. So hat er die Familie während der großen Depression vom Herbst 1932 bis November 1938 in das ukrainische Kamjanske gebracht und dort den Bau von Industrieanlagen geleitet.

Die UdSSR hat unter Stalin mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der erbarmungslosen Beschlagnahmung von Getreideernten in der Ukraine zwischen 1931 und 1933 eine heute als „Holodomor“ bekannte Hungerkatastrophe ausgelöst. In einer Enklave für Ausländer und Spezialisten gut versorgt, wurde die junge Eva davon nicht spürbar berührt. Sie hatte die sechs Jahre in Kamjanske im Tagebuch und nach dem Krieg als die schönsten ihres Lebens bezeichnet, war sich später aber der Hungersnot bewusst. Die Getreideexporte finanzierten Stalins Industrialisierung des Sowjetreiches mit, die wiederum ein Jahrzehnt später den Sieg der Roten Armee gegen Hitler-Deutschland ermöglichen sollte. Dies soll keine Rechtfertigung darstellen, gehört aber zum größeren Zusammenhang.

Die Neufelds kehrten nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 in ihre Heimat zurück, als die Slowakei zu einem unabhängigen, dem Dritten Reich jedoch eng verbundenen Staat wurde. Bald darauf nahm das von dem Priester Jozef Tiso geführte Regime die Verfolgung von Juden auf, die 1942 in den Deportationen gipfeln sollte. Das Tagebuch dokumentiert Evas Schwanken zwischen Panik und Hoffnungen, Einsamkeit und Verbundenheit mit Verwandten, aber auch jüdischen Organisationen. Diese suchten, die Gemeinschaft zusammenzuhalten, und organisierten landwirtschaftliche Schulungen für die Auswanderung nach Palästina, an denen auch Eva teilnahm.

Drei Monate nach Ende des Tagebuchs stoppte das Tiso-Regime die Deportationen im Oktober 1942 aus bis heute nicht ganz geklärten Gründen. Interventionen der katholischen Kirche dürften eine Rolle gespielt haben. Im Herbst 1944 setzte mit dem Einmarsch deutscher Truppen zur Niederschlagung des Volksaufstandes gegen die faschistische Regierung eine zweite brutale Verfolgungswelle gegen die noch verbliebenen Juden ein. Über das Schicksal ihrer Vorfahren dabei gaben Vladimir Roth und Tanja Lamprecht Auskunft.

Aus komplizierten Geschichten wie dieser große, simple Schlüsse herauszudestillieren, stellt vermutlich auch eine Art Schlussstrich dar – um eine alte Debatte aus der Bundesrepublik zu zitieren: Die Nazis waren furchtbar, die Verbrechen schrecklich – aber wir haben ja unsere „Lehren aus dem Holocaust“ gezogen und können damit nach eigenem Gutdünken Agenden betreiben. Doch wenn gerade diese Geschichte zum Arsenal für heutige Anliegen wird, dann kann dabei eigentlich jedermann mittun. Damit seien keine Denk- oder Redegebote in Sachen Holocaust gefordert. Aber eben doch Vorsicht und Nachdenklichkeit.

Dies wird einerseits durch Einsichten belohnt, wie sie Lamprecht und Roth auch aus eigener Erfahrung teilen: Das Überleben der Mutter und damit die eigene Existenz waren immer wieder persönlichen Interventionen christlicher Slowaken zu verdanken. So stellte ein Architekt dem Vater Evas eine Bescheinigung als „essenzielle Arbeitskraft“ aus und verhinderte damit in letzter Minute die Deportation der Familie.

Anfang 1944 konnte der katholische Priester Jozef Dado die junge Frau in Ružomberok zum Konvertieren überreden, um Evas Überlebenschancen zu heben. Bald danach traute Vater Dado sie mit dem ebenfalls konvertierten Karol Roth. Eva hat den Priester später als „sehr braven, guten Mann“ charakterisiert, der zudem etliche Juden versteckt habe, darunter ihre Schwester Giza und deren Mann. Im harten Winter 1944/5 nahmen slowakische Bergbauern die vor Waffen-SS und Wehrmacht flüchtende Familie Evas auf. Als das kommunistische Regime nach dem Krieg erneut Juden verfolgte, verhalf ein mutiger Beamter Neufeldová zu einer Bürostelle und den Kindern zu Studiengenehmigungen.

So konnten beide nach dem Einmarsch der Roten Armee beim „Prager Frühling“ von 1968 ins Ausland fliehen und dort – weit getrennt voneinander – erfolgreich Karrieren als Ingenieure in der Reifenindustrie und bei der BASF machen. Hier wird eine zweite Einsicht greifbar: Geschichte hört nicht an irgendwelchen Daten auf. Menschen tragen das Schicksal von Vorfahren mehr oder weniger vermittelt weiter, werden davon geprägt und teilen es auf vielfältige Weise.

Dies wurde Ende Mai bei der Begegnung mit Vladimir Roth deutlich. Schlank, fit und auf seine Gesundheit bedacht, lebt der 74-Jährige in einem geräumigen Bungalow mit großem Garten am nördlichen Stadtrand von Akron in Ohio. Der pensionierte Naturwissenschaftler und Ingenieur erschien als disziplinierter, analytischer Kopf. Roth war über Jahrzehnte in der Forschungsabteilung eines der Reifenkonzerne tätig, die Akron zu dem Beinamen „Rubber Capital of the World“ verholfen haben.

Sein Wohnzimmer hat Roth in ein Familienmuseum verwandelt. Wenn er am Durchgang zur Küche Gymnastik macht, schaut er auf das Anfang des 20. Jahrhunderts fotografierte Portrait einer hübschen, jungen Frau mit dunklen Augen und Haaren – seine Großmutter Margita, die Mutter Evas. Margitas Blick trifft vor ihr stehende Betrachter.

Roth sagt: „Wenn ich hier auf den Zehen auf und ab wippe, sage ich ‚Hallo‘ zu ihr. Und sie lächelt mir zu.“ Daneben hat er auf der langen Wand weitere Familienbilder platziert, darunter Aufnahmen von Opfern der Nazis und ihrer slowakischen Verbündeten. Gegenüber hängt eine kleine Berglandschaft in Öl: „Die Höhen liegen westlich von Ružomberok. Dort haben unsere Eltern Ende 1944 Zuflucht gefunden.“ Roth setzt hinzu: „Wir lieben die Berge“ und meint mit „Wir“ die weitere Familie. Deren Geschichte spürt er seit der Pensionierung mit großer Leidenschaft und einem für Details und Zusammenhänge geschulten Verstand nach.

Da er in der Schule Russisch gelernt hatte, hat Roth das Tagebuch im Dialog mit Tanja ins Englische übersetzt und um Hintergrundinformationen erweitert. Zum Holocaust-Gedenktag 2021 gab er dazu eine Zoom-Präsentation für die jüdische Gemeinde von Akron, die auf YouTube zu finden ist – und schließlich Anstoß zu der Aufbau-Ausgabe über das Tagebuch gab. Dabei haben er und Tanja die Übersetzung ins Deutsche, die Bildauswahl und Details zur slowakischen Geschichte und der Familie mit starkem Engagement begleitet und beharrlich Fehler oder Unklarheiten ausgeräumt. Auch Tanja und deren Mann Josef Lamprecht haben sich im Ruhestand in die Erforschung ihrer Familiengeschichte vertieft. Der Physiker Lamprecht war Leiter einer Abteilung für Qualitätskontrolle bei BASF im nahegelegenen Ludwigshafen. Tanja war im IT-Bereich des Chemie-Konzerns tätig.

Das Tagebuch hat den Geschwistern neue Seiten der Mutter offenbart und damit eine Nähe geschaffen, die durch den Tod Evas 2003 eine schmerzliche Seite hat. Denn obwohl Eva in den 1990er-Jahren Interviews mit Josef Lamprecht und der Shoah Foundation von Steven Spielberg geführt hat, die Ereignisse aus dem Tagebuch erwähnen, sind den Kindern die Träume der Mutter als junge Frau nie klargeworden, so Tanja: „Sie hat im Tagebuch geschrieben, dass sie Lehrerin werden wollte. Aber daraus wurde wegen der Verfolgung durch die Kommunisten nie etwas, und sie musste sich mit einer Bürostelle in einer Handelsschule begnügen.“ Die Mutter sei wohl nie über diese Enttäuschung hinweggekommen. Doch darüber könnten sie nun natürlich nicht mehr mit ihr sprechen, bedauert Tanja. So haben der Schmerz und das Leid, die hinter dem Zusammenhalt der Überlebenden und deren Nachkommen stehen, eine weitere Facette gewonnen. Tanja erinnert sich an eine Kindheit in bescheidenen Umständen, aber menschlicher Wärme: „Wir haben immer irgendwie gespürt, dass wir von allen Verwandten geliebt werden.“ Später sei ihr und dem Bruder aufgegangen, wie wichtig beider Geburt für die älteren Angehörigen war: „Sie hatten gerade den Krieg überstanden. Und so kurz danach haben wir als Neugeborene den Überlebenden gezeigt, dass es weitergeht.“ Dieser Zusammenhalt hält an, sagt Tanja und erzählt vom engen Kontakt mit Cousins und Cousinen von Bratislava, Prag bis Zürich und Holland. Auch die jüngere Generation der Roths und Neufelds würde die Erinnerung an die Ermordung so vieler Angehöriger in der faschistischen Slowakei hochhalten.

Bemerkenswert ist aber auch, dass beide zwar bereitwillig Fragen beantworteten und großzügig mit ihrer Zeit waren. Aber der Umgang mit der Presse war Roth und Lamprecht auch etwas unbehaglich. Dies wohl aus der Befürchtung heraus, dass die komplizierte und schmerzhafte Familiengeschichte in fremden Händen ein Eigenleben gewinnt, vereinfacht und zu unerwünschten Zwecken missbraucht wird. Sie haben daher gewisse Details als „zu persönlich“ aus den Hintergrund-Beiträgen zum Tagebuch gestrichen. Für mich als Journalisten war dies nicht immer nachvollziehbar. Aber Mitgefühl und Wissensdurst schlagen eben leicht um in Aufdringlichkeit. Von daher auch die Lektion von Respekt und Bescheidenheit. Dennoch wünschen beide Nachkommen, dass das Tagebuch ihrer Mutter bekannt wird. Vladimir Roth sagt dazu: „Es soll ein Zeugnis unseres Überlebens und unseres Dankes dafür sein, dass die bösartige Philosophie des Nazi-Regimes gescheitert ist. Indem sie überlebten, gaben unsere Eltern mir und Tanja Leben – und damit auch unseren Kindern Martin, Marga, Daniel und Gabriel sowie den Enkelkindern Valentin, Gabriel, Helena, Leon, Valentina und jüngst der kleinen Ida.“ 

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