Zeit zur Weichenstellung

Wie Gesundheitspolitik nach der Pandemie gestaltet werden sollte
Die Grundfragen lauten: Wie stark kann die Krankenhausversorgung zentralisiert werden und welche Angebote müssen nah und direkt erreichbar sein?
Foto: dpa
Die Grundfragen lauten: Wie stark kann die Krankenhausversorgung zentralisiert werden und welche Angebote müssen nah und direkt erreichbar sein?

Eine andere Krankenhausversorgung und ein neues Präventionsgesetz – diese beiden Aufgaben hat sich die Bundesregierung vorgenommen. Die Pandemie hat die Vorzeichen dafür noch einmal geändert. Bewältigt werden diese Herausforderungen aber nur, wenn sich alle an der Suche nach der besten Lösung beteiligen, meint Peter Bartmann, evangelischer Theologe und Leiter des Zentrums Gesundheit, Rehabilitation und Pflege der Diakonie Deutschland.

Die Corona-Pandemie hat in Deutschland lange gepflegte Überzeugungen über Gesundheitspolitik erschüttert. Bis zur Pandemie war die Auffassung verbreitet, dass Deutschland ein im Wesentlichen von den Krankenkassen getragenes Gesundheitssystem habe, das der Bevölkerung die Sorge um die Gesundheit im Wesentlichen abnehme. Die Mehrzahl der Akteure im Gesundheitswesen war der Meinung, dass der Bund vor allem für die Finanzierung dieses Systems zuständig sei, das teils als Markt, teils als Verhandlungssystem organisiert sein müsse und so leistungsfähig sei, dass Länder und Kommunen ihre Aktivitäten auf ein Minimum beschränken könnten.

„Ermöglichende Gesundheitspolitik“ hat man dies genannt: Der Sozialstaat auf Bundesebene beschränkt sich im Wesentlichen auf die Bereitstellung der finanziellen Mittel und überlässt die Gestaltungsaufgaben den Akteuren, die in diesem Sektor tätig sind. Dabei gab es schon länger kritische Signale: Das große Thema der Prävention, der Vermeidung von Erkrankungen und Beeinträchtigungen, passt nicht in die Logik der Sozialversicherung und wurde weitgehend vertagt – trotz der Beschwörungen, wie viel man denn durch Gesundheitsförderung „sparen“ könnte. Auch Krankenhäuser und Arztpraxen sind nicht unbedingt da, wo man sie braucht, und ihre betrieblichen Strukturen passen nicht mehr genau zum Bedarf der Bevölkerung.

Mit Covid-19 war auf einmal vieles anders: Die Bilder von überfüllten Intensivstationen, in denen Patienten starben, von Pflegeheimen, die nicht besucht werden konnten, später auch von leeren, frei gehaltenen Klinikbetten zeigten ein Gesundheitssystem, das selbst schutzbedürftig war. Schutz versprachen nun Verhaltensvorschriften für die Bevölkerung, die die Verbreitung des Virus eindämmen sollten. Auch in der Gesundheitspolitik war vieles anders. An die Stelle der ermöglichenden Gesundheitspolitik war direktes politisches Handeln getreten – auf allen Ebenen des föderalen Staates: Das Bundesgesundheitsministerium beschaffte Impfstoffe, die Ministerpräsidentenrunde im Kanzleramt vereinbarte im Vier-Wochen-Rhythmus, wie sich die Bevölkerung zu verhalten habe. Und auf einmal standen die Gesundheitsämter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – kleine Abteilungen der Kommunalverwaltung, deren Aufgaben zuvor kaum Beachtung gefunden hatten.

Das direkte politische Handeln war seitens der politisch Verantwortlichen erklärtermaßen von Versuch und Irrtum geprägt, von Zuständigkeitsfragen und begleitet von breitester gesellschaftlicher Kritik von allen Seiten. Nicht nur über die Impfung wurde gestritten, sondern auch über ihren Ort und Zeitpunkt, die Beschaffung und Zuteilung von Impfstoff, über das Tragen von Masken, aber auch darüber, wer es wo anordnen darf, über die Grenzen der persönlichen Freiheit und die wirtschaftlichen Folgen des Gesundheitsschutzes. Die Diskussionsbeiträge waren leidenschaftlich, oft auch unbeholfen, vielen Diskussionsteilnehmern war anzumerken, dass sie sich auf unbekanntem Terrain bewegten. In der Vielfalt der Meinungen fehlte nur eine, nämlich die früher verbreitete Auffassung, dass ein gut finanziertes, von den Krankenkassen getragenes „Gesundheitssystem“ das Maß aller Dinge sei. Vielmehr war man sich bei allem Streit einig, dass der Staat handeln müsse.

Unbeholfene Diskussionen

Mit der Neuordnung der Krankenhausversorgung und der Novellierung des Präventionsgesetzes stehen im Koalitionsvertrag der Bundesregierung zwei Gestaltungsaufgaben, die schon vor der Pandemie erkennbar waren, nun aber unter anderen Vorzeichen vorangetrieben werden müssen. In beiden Fällen geht es nicht nur um die Finanzierung von Gesundheitsleistungen, sondern um die gesundheitliche und soziale Infrastruktur. Für diese sind originär Bundesländer und Kommunen zuständig, der Bund kann hier nur einen Rahmen setzen und Finanzierungswege festlegen. Die beiden Gestaltungsaufgaben können im föderalen Staat nur gelöst werden, wenn Bund, Länder und Kommunen zusammenwirken.

Im Bereich der Krankenhäuser geht es um die Notfallversorgung, aber auch grundsätzlicher um die heute notwendige Form der stationären Behandlung und die Verteilung der Kranken­hausstandorte. Auf der einen Seite ist das Krankenhaus nach wie vor das Rückgrat der Krankenversorgung im Notfall wie auch bei komplexeren Erkrankungen, auf der anderen Seite können viele, auch schwere, Erkrankungen überwiegend ambulant behandelt werden. Die Grundfragen einer umfassenden Krankenhausreform lauten: Wie stark kann die Krankenhausversorgung zentralisiert werden und welche Angebote müssen nah und direkt erreichbar sein?

Bei der Prävention geht es darum, dass die Potenziale zur Vermeidung von Erkrankungen und Beeinträchtigungen systematisch genutzt werden. Seit langem ist bekannt, dass viele Krankheitstage, ja auch Lebensjahre mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf Bewegungsmangel, Fehlernährung, Suchtmittelkonsum, aber auch Verkehrslärm, Feinstaub und andere Umweltbelastungen zurückzuführen sind. Zahlreiche Studien und „Leuchtturmprojekte“ zeigen die Richtung auf, die eine stringente Präventionspolitik nehmen müsste. Insofern könnte mit der Novellierung des Präventionsgesetzes ein großer Schritt nach vorne getan werden.

Regionale Gesundheitszentren

Apropos Krankenhäuser: Am grünen Tisch würde man vermutlich an vielen Orten, an denen heute Krankenhäuser stehen, regionale Gesundheitszentren mit abgestimmten fachärztlichen Angeboten und einer kleinen Pflegestation einrichten. Auf der grünen Wiese stünden an sehr viel weniger Standorten zentrale größere Krankenhäuser sowie Spezialkliniken, in denen sich Spezialisten auf die komplexeren Behandlungen konzentrieren würden. Der Rettungswagen würde die größeren Krankenhäuser ansteuern. Auch viele Kinder würden dort geboren, direkt neben einer Kinderstation für den Fall der Fälle. Um vom grünen Tisch in die Realität zu gelangen, müsste ein regionales Gesundheitszentrum gesetzlich verankert werden. Es hätte einen anderen Versorgungsauftrag als ein heutiges Krankenhaus, das teils durch die Notaufnahme, teils wegen der am Krankenhaus entwickelten medizinischen und pflegerischen Expertise in Anspruch genommen wird. Einem Teil der Krankenhäuser, die zwanzig Jahre lang auf einen anderen Pfad gesetzt wurden, müssten fachliche und wirtschaftliche Übergangsperspektiven geboten werden – und die fachärztliche Versorgung müsste vom zerstreuten Einzelunternehmertum in eine kooperative Struktur überführt werden. Der Weg vom grünen Tisch in die Praxis ist also weit. Aber die Versorgungsstrukturen werden sich nicht von selbst bereinigen – nicht durch Personalengpässe, Praxisschließungen oder Krankenhausinsolvenzen.

Die Diakonie – und damit auch die evangelische Kirche – sitzt bei den anstehenden Strukturveränderungen nicht etwa mit am grünen Tisch, sondern ist Teil der gewachsenen Strukturen. Die Standorte evangelischer Krankenhäuser wurden vor Jahrzehnten bestimmt, ihr Leistungsspektrum ist stark von dem Quasi-Wettbewerb geprägt, der in den späten 1990er-Jahren in Gang gesetzt wurde. In diesem Wettbewerb zählt ein der prospektiven Vergütung folgendes Leistungsangebot. In diesem Wettbewerb haben sich die evangelischen wie katholischen Krankenhäuser erstaunlich gut behauptet. Nach den Jahrzehnten des gelenkten Wettbewerbs schlägt nun das Pendel möglicherweise zurück zur direkten staatlichen Steuerung. Dann stellt sich allerdings auch die Frage, warum es weiterhin kirchliche Krankenhäuser geben soll. Hilfreich wäre es, wenn die Verantwortlichen und Aktiven in der Kirche die herausfordernde Situation der evangelischen Krankenhäuser wahrnähmen und sich am jeweils eigenen Ort für sie einsetzten. Eine ganze Reihe evangelischer Krankenhäuser hat große Expertise in besonderen Versorgungsbereichen; sie würden bei einer simplen Zentralisierung untergehen. Ein großes Anliegen kirchlicher Krankenhäuser ist auch die Ausbildung von Pflegekräften wie auch die klinische Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten. Auch hier würde ein schematisches Vorgehen bewährte Strukturen zerstören. Da die konkrete Ausgestaltung der Versorgungsstrukturen Ländersache ist, wird es darum gehen, regional zu denken und Veränderungen mit Augenmaß zu gestalten.

Im Bereich der Prävention ist es in der Pandemie zu einem abrupten Themenwechsel gekommen: Während in den vergangenen Jahrzehnten nicht-übertragbare Erkrankungen im Mittelpunkt gestanden hatten, musste nun die Verbreitung einer Infektionskrankheit eingedämmt werden. Maßnahmen der Aufklärung, Bewusstseinsbildung, direkte Verhaltensappelle mussten in kürzester Zeit kommuniziert werden. Die letzte vergleichbare Kampagne – zum Umgang mit HIV/Aids – lag Jahrzehnte zurück. Das breite Spektrum der Reaktionen in den vergangenen beiden Jahren zeigte, dass es nicht trivial ist, Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten und Lebenslagen zu erreichen und zu Verhaltensänderungen zu bewegen. Beim Infektionsschutz geht es niemals nur um die je eigene Gesundheit, sondern auch um die Gesundheit der anderen. Zum Schlagwort sind in der Pandemie die vulnerablen Gruppen geworden, die besonderen Schutzes bedürfen. Mit ambivalenter Wirkung: Zunächst hieß es, alle müssten ihr Verhalten ändern, um sehr alte oder chronisch kranke Menschen vor der Erkrankung zu schützen. Mit zunehmender Dauer scheint es akzeptabel, die besonders schutzbedürftigen Gruppen durch besondere Regeln vor dem Virus – und dem gesellschaftlichen Leben – abzuschirmen. Dass der Schutz vor dem Virus Isolation, Quarantäne, den Rückzug aus dem sozialen Leben erforderte, durchkreuzte die Logik sozialer Gesundheitsförderung, für die die Vereinsamung das größte Übel ist.

Vereinsamung als größtes Übel

Moderne Primärprävention und Gesundheitsförderung setzt darauf, dass Menschen ihre Lebens- und Arbeitswelt gemeinsam gesundheitsförderlich gestalten. Das Rauchverbot in öffentlichen Räumen, das Speisenangebot in Kantinen, die gute Erreichbarkeit von Spielplätzen und Parks erleichtern allen, die diese Räume nutzen, ein gesünderes Leben. Natürlich haben auch die materiellen Rahmbedingungen, das verfügbare Einkommen und die Wohnverhältnisse, großen Einfluss auf die Gesundheit. In der Präventionspolitik wird dieser Komplexität mit dem Health-in-all-Policies-Ansatz Rechnung getragen: Alle Gesetze müssen darauf hin überprüft werden, welche Folgen sie im Blick auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Neben dieser umfassenden Aufgabe geht es in der Präventionspolitik darum, finanzielle Mittel dafür bereitzustellen, dass Menschen ihre konkrete Lebenswelt gesundheitsförderlich gestalten. Das ist das Thema des Präventionsgesetzes. Große Erfolge sind hier in Betrieben, Schulen und Kindertageseinrichtungen erzielt worden. Mit allen Beteiligten werden konkrete Veränderungen vereinbart, die bessere Arbeits- und Lernbedingungen, den Abbau von Belastungen, gesunde Ernährung und Bewegung erleichtern. Weniger übersichtlich sind das Wohnquartier, das Dorf, der Stadtteil, also die teils öffentlichen, teils privaten Räume, in denen Menschen einen großen Teil ihres Lebens verbringen. Während im Betrieb und in der Schule die Verantwortlichkeiten klar verteilt sind und Veränderungen verbindlich gemacht werden können, muss im Wohnquartier ausgehandelt werden, wie Kommune und Bürgerschaft gemeinsam ins Handeln kommen. Am grünen Tisch würde man eine Kommune konzipieren, die die Infrastruktur eines gesunden Lebens zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern entwickelt und finanziert. Auch hier ist der Weg weit vom grünen Tisch in die Wirklichkeit. Es gibt Kommunen und Bürgerschaften, die vorbildlich tätig sind, aber auch große Zurückhaltung, nicht nur auf der Seite der Politik.

Akute Krisenhilfe

Mit der geplanten Novellierung des Präventionsgesetzes ändert sich nichts an der Zuständigkeit der Länder und Kommunen und auch nichts an der Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger, das eigene Lebensumfeld persönlich und politisch mitzugestalten. Die Bundesregierung sollte allerdings die mit dem Gesetz bereitgestellten finanziellen Mittel an Bedingungen knüpfen, die die Akteure vor Ort zum Zusammenwirken und zur Fortführung wirksamer Präventionsprojekte verpflichten. Damit sind zwei Defizite gegenwärtiger Präventionspolitik angesprochen: Wirksame Maßnahmen werden als „Leuchtturmprojekte“ gefeiert, stehen jedoch unverbunden nebeneinander – und werden nach dem Ende der Projektförderung häufig eingestellt.

Aus der Sicht der Diakonie stellt sich beim Präventionsthema eine besondere Herausforderung: Viele ihrer sozialen Dienste sind darauf ausgerichtet, in akuten Krisen zu helfen, nämlich bei Suchtproblemen oder Schulden, Familienkonflikten oder plötzlich eintretender Pflegebedürftigkeit. Die Chancen der Prävention und Gesundheitsförderung scheinen in der akuten Krise oft schon vergeben. Das ist natürlich nicht wahr. Begleitung in der Krise macht Menschen stärker. Doch ist auch wahr, dass die Dienste für präventive Arbeit jenseits akuter Krisen zu wenig Zeit haben. Das Präventionsgesetz könnte hier Abhilfe schaffen.

Moderne Krankenhausversorgung und Prävention – beide Aufgaben werden nur gelöst werden, wenn die Ebenen des föderalen Staates konsequent zusammenwirken und die Gesellschaft an der Suche nach der besten Lösung beteiligen. Um zu einem modernen Gesundheitswesen beizutragen, muss sich auch die öffentliche Debatte weiterentwickeln. Wichtiger als die temperamentvolle Verteidigung persönlicher Meinungen und Therapievorstellungen ist gemeinsames Nachdenken über die gesundheitliche und soziale Infrastruktur in der eigenen Region. Für solche Debatten könnten die Kirchen sorgen. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: privat

Peter Bartmann

Dr. Peter Bartmann ist Leiter des  Zentrums Gesundheit, Rehabilitation und Pflege der Diakonie Deutschland / Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. IN Berlin.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"