Selbsterkundung für die Zukunft

Die neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) hat begonnen
Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU)
Foto: picture alliance

Alle zehn Jahre seit 1972 führt die EKD eine große repräsentative Befragung des Kirchenvolks durch. Derzeit läuft die sechste Befragung unter 5 000 Personen, die bis Jahresende 500 Fragen aus dem Themenfeld Religion und Kirche zu beantworten haben. Erstmals beteiligt sich auch die katholische Kirche an dem Projekt. Edgar Wunder vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD koordiniert die aktuelle KMU und beschreibt die Hintergründe.

Wer die Daten der ersten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) aus dem Jahr 1972 heute sichtet, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie grundlegend sich unsere Gesellschaft in fünfzig Jahren verändert hat! Nach dem Sinn der Taufe befragt, war unter den damals 2 000 Interviewten nicht eine einzige Person, die eine Antwort verweigerte! Heute undenkbar. Nur drei Prozent der repräsentativ Ausgewählten hatten das Abitur abgelegt. Es gab nicht eine einzige Stadt, die mehrheitlich durch Konfessionslosigkeit geprägt war. Ganz selbstverständlich war im Fragebogen unter Missachtung von Männern noch von „Hausfrauen“ die Rede, und die EKD interessierte in der ersten KMU auch die Nutzung von Fernsehgeräten, die in den meisten Haushalten erst kurz zuvor als technische Neuerung Einzug gehalten hatten. Was und wie damals gefragt wurde, erscheint aus heutiger Zeit teilweise recht merkwürdig. Es vermittelt einen Eindruck von der Tiefe der historischen Veränderungen, die auch den „religiösen Sektor“ nicht ausgespart haben.

Deshalb können die alle zehn Jahre durchgeführten KMUs auch nicht eine Wiederholung des immer Gleichen sein. Ihre Fragestellungen haben sich stetig und grundlegend weiterentwickelt. Es geht darum, die heute für die zukünftige Entwicklung der Kirche wichtigen Fragen zu identifizieren und dazu Einstellungen, Praktiken und Erwartungshaltungen in der Bevölkerung systematisch zu erkunden. Nicht in dem Sinne, dass aus diesen Befunden unmittelbar ein kirchliches Handlungsprogramm abgeleitet werden könnte. Allerdings tragen Handlungsprogramme, die von empirisch unzutreffenden Prämissen ausgehen, bereits eine Ursache ihres Scheiterns in sich. Deshalb sind empirisch fundierte Vergewisserungen wie die KMU für die Kirche so wichtig, damit Reformprozesse besser gelingen können.

Ein Team aus namhaften Theolog:­innen und Sozialwissenschaftler:innen hat im zurückliegenden Jahr zunächst alle Fragestellungen früherer KMUs sowie anderer bedeutsamer religionssoziologischer Studien kritisch gesichtet und um zahlreiche neue, innovative Forschungsfragen ergänzt. Heraus kam ein Pool mit etwa 4 000 potenziellen Fragen für die 6. KMU. Das ist natürlich viel zu viel für ein etwa einstündiges Interview. Über ein Jahr lang hat der Beirat aus diesem großen Pool die spannendsten und ertragreichsten Untersuchungsfragen zur heutigen Lage der Kirchen ausgewählt. Übrig blieben am Ende immerhin etwa 500 Interviewfragen, die teilweise nur bestimmten Befragtengruppen gestellt werden. Im Ergebnis kann das Programm der 6. KMU als thematisch äußerst vielfältig bezeichnet werden. Es folgt nicht einer einheitlichen „Erzählung“ oder Theorie, sondern will in seiner Pluralität und Breite möglichst viele spannende Aspekte abdecken, die Kirche heute bewegen oder ihr Zukunftschancen eröffnen. Am Ende wird es dennoch unvermeidlich heißen: „Warum habt ihr nicht auch die wichtige Frage nach XY gestellt?“. Schweren Herzens mussten wir manche interessante Frage auf spätere KMUs verschieben. Der Kürzungsdruck, die Befragungszeit nicht ins Unzumutbare anwachsen zu lassen, forderte seinen Tribut.

Die repräsentativen Befragungen begannen im Oktober und laufen noch bis Dezember 2022. Das erste Halbjahr 2023 benötigen wir für eine systematische und gründliche Auswertung. Im zweiten Halbjahr 2023 ist mit der Mitteilung erster ausgewählter Ergebnisse zu rechnen, die bei mehreren themenfokussierten Symposien diskutiert werden können. Der umfassende Auswertungsband soll 2024 erscheinen. Die thematische Vielfalt der Analysemöglichkeiten und Befunde wird so groß sein, dass mit Sicherheit nicht alles auf einmal veröffentlicht werden kann, sondern thematisch portioniert.

Religiöse Landschaft

Frühere KMUs wurden von manchen als ein „Stresstest“ für die Kirche empfunden – der zuweilen mit Befunden konfrontierte, die den Erwartungen widersprachen oder unangenehm waren. Das provozierte teilweise sogar Abwehrhaltungen. Durch die KMUs immer wieder auf die sinkenden Mitgliederzahlen und die schrumpfende Reichweite der Kirche hingewiesen zu werden, sei eine fatale und demotivierende Erzählung. Bloße Mitgliederstatistik war jedoch noch nie ein Gegenstand der KMU, denn diese Zahlen kennen wir bereits aus den kirchlichen Meldedaten und können sie auch gut prognostizieren. Beispielsweise ist schon jetzt extrapolierbar, dass gegen Ende der Befragungszeit noch 23 Prozent der Bevölkerung in Deutschland den Landeskirchen der EKD angehören werden, 25,5 Prozent der katholischen Kirche, drei Prozent anderen christlichen und 5,5 Prozent nicht-christlichen Religionsgemeinschaften sowie dass 43 Prozent konfessionslos sein werden. Um das zu wissen, brauchen wir keine KMU.

Diese dient vielmehr dazu, die im Hintergrund dieses Wandels der religiösen Landschaft ablaufenden Prozesse besser verstehen zu lernen. Nicht im Sinne einer eindimensionalen Erzählung. Für eine solche wären empirische Daten auch belanglos. Fragwürdig wäre es, mit großem Aufwand Daten zu produzieren, ohne diese wirklich ernst nehmen zu wollen und sie stattdessen nur als Anlass für die Reproduktion einer schon feststehenden Erzählung instrumentalisieren zu wollen. Alle empirischen Befunde – auch die der KMU – sollten immer das Potenzial haben, schon gewohnte Erzählungen erschüttern zu können, etablierte Denkmuster zu irritieren. Sonst sind sie nichts wert.

Das Themenspektrum der 6. KMU ist so vielfältig, dass sich ganz sicher nicht alle Befunde auf den gemeinsamen Nenner einer einzigen Erzählung bringen oder in einem einzigen Satz zusammenfassen lassen. Aber es ist so zu hoffen, dass die Befunde irritieren können, kontroverse Diskussionen auslösen, Impulse anregen, was getan oder unterlassen werden sollte. In dieser Hinsicht waren alle KMUs höchst produktiv.

Systematische Vergleiche

Welche thematischen Schwerpunkte setzt die 6. KMU? Da erstmals bei einer KMU auch Mitglieder der katholischen Kirche befragt werden, ist die Untersuchung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten bei Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen hinsichtlich ihrer Orientierungs- und Handlungsmuster ein Kerninteresse. Nur durch solche systematischen Vergleiche kann herausgefunden werden, welche Problemlagen spezifisch evangelisch, spezifisch katholisch, allgemein kirchlich oder gesellschaftlich bedingt sind und warum. Das ist ein großer Mehrwert im Vergleich zu früheren KMUs. Zudem wird der Blick nicht nur auf Kirchenaustritte verengt. Auch komplexe konfessionelle Biogrfien werden untersucht, etwa Übertritte von einer Konfession in eine andere. Die für die KMU neue Kooperation mit der Deutschen Bischofskonferenz und die hervorragende Zusammenarbeit mit den katholischen Kolleginnen und Kollegen im Beirat der KMU haben diese Erweiterung der Perspektive möglich gemacht.

Ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der KMUs ist auch, dass nun erstmals den Kirchen vorliegende Meldedaten und Daten aus Kirchenbüchern in einer Sonderauswertung räumlich hochdifferenziert analysiert und mit den KMU-Daten verknüpft werden. Als Mehrwert aus der Verbindung beider Datenquellen entsteht ein räumlich hochauflösendes Bild bis hinunter zur Gemeindeebene, aus dem rekonstruiert werden kann, inwiefern und warum sich religiöser Wandel in manchen Regionen anders oder schneller vollzieht als an anderen Orten.

Im Fokus der neuen KMU steht auch die Frage nach der Relevanz von Religiosität und Kirche für die gesellschaftspolitischen Top-Themen unserer Zeit. Beispielsweise für Einstellungen zum Klimawandel, zur Demokratie und zu populistisch-autoritären Tendenzen, zu Geschlechterrollen oder anderen grundlegenden Werthaltungen. In welcher Weise verschiedenartige Formen von Religion und kirchlicher Orientierung hier „wirken“, kann mit der bevorstehenden KMU sehr differenziert untersucht werden.

„Religion ohne Entscheidung“ hieß eine 1959 von Hans-Otto Wölber veröffentlichte Studie. Es ging um die Frage, welchen religiös-biografischen Dynamiken heute eigentlich noch Entscheidungen zugrunde liegen oder ob es sich lediglich um bloße Einpassungen in vorhandene Gelegenheitsstrukturen oder einen labilen Konformismus handelt. Nicht nur in der repräsentativen Bevölkerungsumfrage der 6. KMU wird dieses Problem jetzt wieder aufgegriffen und vertieft. Auch ein umfangreiches ethnografisches Begleitprojekt, das von Kristin Merle koordiniert wird, trägt den Titel „Religion als Option – Entscheiden über Zugehörigkeit und Partizipation als sozialer Prozess“. Weitere Begleitprojekte werden von David Käbisch (Partizipation und Relevanz von Kirche in der Perspektive unterschiedlicher Wertorientierungen und Welterschließungsperspektiven), Uta Pohl-Patalong (Religionsunterricht und Formen der Kommunikation des Evangeliums), Daniel Hörsch (Gemeindefusionen und -kooperationen) und Christian Fuhrmann (Bedeutung von Kirchenmusik für kirchliche Bindung) verantwortet.

Tiefer gebohrt als in früheren KMUs wird diesmal auch zur Rolle von Sozialisationserfahrungen in der Kindheit als prägend für das spätere Verhältnis zu Religion und Kirche. Auf welche Faktoren genau kommt es dabei an, wie wirken sie sich aus und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Beispielsweise der Typus der Herkunftsfamilie, Gespräche über Religion in der Familie, das Erleben konfessioneller oder weltanschaulicher Pluralität, Kontakte zu kirchlichen Institutionen, der Besuch eines Kindergartens in kirchlicher Trägerschaft oder des Religionsunterrichts. Diesem komplexen Geflecht relevanter Sozialisationsfaktoren wird in der 6. KMU eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Reformen bewerten

Für spannende Diskussionen wird sicher auch die Auswertung zu jenem Teil des Fragebogens sorgen, der sich auf Reformerwartungen der Kirchenmitglieder an ihre jeweilige Kirche bezieht: Wie wollen sie ihre Kirche als Institution gestaltet sehen, worauf sollte ihrer Ansicht nach der Schwerpunkt kirchlichen Engagements gelegt werden, welche laufenden Reformprozesse werden wahrgenommen und wie bewertet?

All diesen Fragen wird in der 6. KMU differenziert nach sozialen Milieus nachgegangen. Dazu enthält der Fragebogen ein recht umfangreiches Inventar zur Bestimmung der sozialen Lage. Denn in einer Gesellschaft, die massiven Pluralisierungs- und Fragmentierungsschüben ausgesetzt ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich religiöser Wandel überall in gleicher Weise vollzieht. 

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