Gerechtigkeit für die Toten von Butscha

Warum und wie wir heute vom Jüngsten Gericht reden müssen
Das "Weltgerichtsportal" von Notre Dame in Paris
Steffen Hocker / pixelio.de
Das "Weltgerichtsportal" von Notre Dame in Paris.

Zum Ende des Kirchenjahres stehen große Fragen auf der liturgischen Agenda, etwa die nach dem jüngsten Gericht. Aber kann man überhaupt noch davon ausgehen, dass wir "alle offenbar werden vor dem Richtstuhl Christi", wie es der aktuelle Wochenspruch nahelegt? Gabriele und Peter  Scherle sind davon überzeugt und sehen das Gericht Gottes angesichts der schreienden Ungerechtigkeiten in der Welt als notwendiges Ferment der Transformation.

Am 17. Juli 2022 drohte Dmitri Medwedew, der ehemalige Präsident Russlands und Vizechef des russischen Sicherheitsrates: Sollte die Ukraine versuchen, die Krim zurückzuerobern, werde über sie „das Jüngste Gericht“ hereinbrechen, und zwar „sehr schnell und schwer“. Das ist selbst nach den Maßstäben des Kremls und des Patriarchen Kyrill verwegen. Dieser sieht sein Land mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine zwar in einem „metaphysischen Kampf“ gegen den gottlosen Westen, würde aber wohl das Jüngste Gericht immer noch Gott überlassen wollen. Aber vielleicht ist das eine zu optimistische Annahme, hat doch Kyrill am 25. September in einer Predigt den Heldentod russischer Soldaten zu einem „Opfer“ verklärt, „das alle Sünden abwäscht, die eine Person begangen hat“. Der verbrecherische Krieg Russlands hat spätestens angesichts des Vernichtungswillens, der in Butscha und Mariupol an den Tag gelegt wurde, die Fragen nach dem Recht, der Gerechtigkeit und dem göttlichen Gericht neu erweckt. Das vergossene Blut der Opfer schreit förmlich zum Himmel.

Erhört wurde der Schrei der Opfer zunächst von denen, die die Taten von Butscha vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen wollen.  Allerdings wissen wir auch, dass einzelne Urteile noch nicht dazu beitragen, den Durst der Opfer nach Gerechtigkeit zu stillen. Aber welche Gerechtigkeit sollte das sein? Reicht eine Gerechtigkeit, die wiederherstellt („restorative justice“)? Oder braucht es - angesichts all der Zerstörungen und der damit verbundenen Traumatisierungen - nicht eine schöpferische, transformative Gerechtigkeit („transformative justice“), die neue Perspektiven eröffnet?

Mehr noch: Für die Toten von Butscha kann es keine irdische Gerechtigkeit mehr geben. Es gibt nur noch die Hoffnung auf eine göttliche Gerechtigkeit, die selbst die Toten noch aufrichten kann. Zu diesem „Jüngsten Gericht“ gehört allerdings, dass es nicht nur die Opfer aufrichtet, sondern auch, dass die Taten verantwortet werden müssen und gerichtet werden. Diese Fragen stehen im Zentrum der Bibel mit ihrer Auslegungsgeschichte. Der Ruf nach der göttlichen Gerechtigkeit verbindet sich mit der Hoffnung, dass Gott diese Gerechtigkeit, wie sie das hebräische Wort „Zedakah“ zum Ausdruck bringt, um seiner Bundestreue und seiner Barmherzigkeit willen, endgültig durchsetzen wird – und zwar an dem Tag, dem keine Nacht mehr folgt, dem jüngsten Tag, an dem die Schöpfung verwandelt und geheilt wird.

Göttliche Zedakah statt Göttin Iustitia

Es kann nicht genug betont werden, wie sehr sich diese Vorstellung von Gerechtigkeit von der unterscheidet, die sich in Gestalt der Göttin Iustitia dem abendländischen Verständnis eingeprägt hat. Wir kennen sie in der Neuzeit als Frau mit verbundenen Augen, die in der linken Hand eine Waage und in der rechten ein Schwert hält. Die Gerechtigkeit ist nach dieser Vorstellung blind für die gesellschaftlichen und menschlichen Voraussetzungen der Rechtsprechung, sie ist „unparteilich“, d.h. „Gleiche Fälle sind gleich zu behandeln“. Sie urteilt allein dadurch, dass sie die Taten genau abwägt und für einen Ausgleich durch „Vergeltung“ für die Taten sucht. Das Schwert in der rechten Hand steht dafür, dass Iustitia die Urteile auch durchsetzt. Ihr Maßstab soll die verteilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) sein, die der große römische Jurist des 3. Jahrhunderts Ulpian so beschrieb: „Gerechtigkeit ist der beständige und fortdauernde Wille, jedem sein Recht zu gewähren“. In dieser Tradition haben sich die Richter an den vorgegebenen Maßstab zu halten, wie er im Recht kodifiziert ist. Ein gerechter Richter darf nicht nach eigenen Maßstäben handeln, sondern ist an das jeweilige Recht gebunden.

Aber gerade so dürfen wir uns das göttliche Richten nicht vorstellen. Der biblische Gott ist nicht an ein kosmisches Gesetz gebunden, sondern ist sich selber treu in seiner Bindung an seine Kreatur. Jan Assmann nennt das „konnektive Gerechtigkeit“. Diese göttliche Gerechtigkeit, will die Kreatur nicht verloren geben an die Macht des Bösen, des Todes, der Sünde. Gott ringt um das bedrängte Leben – dafür stehen die Witwen, die Waisen und die Armen. Gottes „krisis“, sein Entscheiden bzw. Richten, soll die Bedrängten vor den Bedrängern retten, und die Bedränger zurück auf den „Weg der Gerechtigkeit“ führen, in das bundesgemäße Leben..

Es kann und muss deshalb um mehr und anderes gehen, als eine Gerechtigkeit, die die Verhältnisse nur wiederherstellt, so dass allen das Gleiche zukommt oder jedem das Seine. Es muss sich – jedenfalls theologisch gedacht – um eine heilsame Gerechtigkeit handeln, wie sie dem Namen Gottes eingeschrieben ist, der – wie es bei der Eröffnung reformierter Gottesdienste heißt - „Himmel und Erde geschaffen hat, der Bund und Treue hält ewiglich und der nicht preisgibt das Werk seiner Hände“.

Das Jüngste Gericht als Form göttlicher Gerechtigkeit

Die Drohung Medwedews die russische Armee würde das Jüngste Gericht über die Ukraine bringen, darf aus christlicher Sicht als eine Form der Gotteslästerung verstanden werden, die in einer langen und unseligen Tradition steht. Diese Tradition ist eng mit dem christlichen Antijudaismus verbunden, geht es doch um den Anspruch, die Gerechtigkeit des biblischen Gottes selbst an Anderen vollstrecken zu wollen – bis hin zu einer Art geschichtlichen Endlösung. Dabei ging und geht es im Kern um den Anspruch, die Kirche sei an die Stelle Israels getreten und Gott habe sein Volk verworfen. Die Kirche fühlte sich ermächtigt, die göttliche Gerechtigkeit in die eigenen Hände zu nehmen.

Weil die bloße Existenz des jüdischen Volkes und die religiöse Praxis des rabbinischen Judentums diesem Anspruch zuwiderlief und -läuft, ist dieser christliche Antijudaismus existentiell bedrohlich. Bis heute sind Jüdinnen und Juden deshalb zurecht auf der Hut. Die antisemitischen Verschwörungserzählungen, die unter Rechts- und Linkspopulisten kursieren und sich in jeder Krise aktivieren lassen, speisen sich nach wie vor aus den Quellen des christlichen Antijudaismus. Wir haben also allen Grund, die göttliche Gerechtigkeit aus den Klauen eines theo-politischen Anspruches zu befreien, der anderen Menschen mit dem Jüngsten Gericht droht. Zumal das Bild von Gott als Richter, wie es gerne auch in der Erziehung eingesetzt wurde, zu einer „Gottesvergiftung“ (Tilman Moser) in den Seelen vieler Menschen geführt hat.

Allerdings hat die Befreiung vom Gericht als Drohkulisse zu einer Verharmlosung Gottes geführt, weil das Pendel – wohl nicht nur unter liberalen Protestant:innen - in die andere Richtung ausgeschlagen hat. Wenn überhaupt noch von Gott gesprochen wird, dann höchstens noch vom „lieben Gott“, der jedoch nicht mehr selbst in der Geschichte handelt, sondern in der menschlichen Anschauung oder im Prozess der Geschichte hervorgebracht wird. Nicht selten wird gerade dadurch das antijüdische Motiv stark gemacht, wonach sich die Liebe des Vaters Jesu Christi grundsätzlich vom zornigen Gott des Alten Testaments unterscheide.

Im Zweifel schlicht zynisch

Doch diese Rede vom „lieben Gott“ macht sprachlos , wenn Tod und Leid als gesellschaftliche Phänomene in unseren Alltag einbrechen. Angesichts der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit, die auf dem Planeten Erde herrscht, reicht es auch nicht vom mitleidenden Gott zu sprechen. Im Zweifel wirkt die Rede von Gott, der uns immer irgendwie und damit unterschiedslos nahe ist, schlicht zynisch. 

Es ist also notwendig, sich gegen das einseitige Gottesbild zu wehren, das entsteht, wenn die göttliche Gerechtigkeit und ihre Durchsetzung zugunsten der Gnade und Barmherzigkeit Gottes ausgeblendet werden. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind als zwei „Wesenszüge“ oder „Handlungsweisen“ Gottes zu verstehen (vgl. Jer. 9,23 und Hos. 2,21). Die Barmherzigkeit geht – den Heiligen Schriften folgend – der Gerechtigkeit voran und bestimmt sie inhaltlich als eine barmherzige Gerechtigkeit, die „das tut und vollbringt“, was des Bundesgottes „selbst würdig ist“. Die Barmherzigkeit zeigt sich darin, dass Gott Schuld vergibt, geduldig ist, gnädig und treu. Die Gerechtigkeit aber zeigt sich darin, dass Gott die Sünde und das Böse aufdeckt und richtet, um die Bundespartner:innen zu retten. Die Formel heißt also nicht „Gnade vor Recht“, sondern „Gnade durch Gericht“.

Angesichts des grausamen 20. Jahrhunderts, insbesondere der Shoah, wirft Friedrich-Wilhelm Marquardt die Frage auf, ob es nicht zu leichtfertig ist, von einer Art inneren Balance Gottes auszugehen. Muss nicht vielmehr von einer „inneren Zerrissenheit Gottes“ zwischen „seiner Gerechtigkeit und seiner Barmherzigkeit“ ausgegangen werden? Einer Zerrissenheit Gottes, die erst eschatologisch aufgehoben werden kann, wenn sich Gottes Gerechtigkeit in allem und ganz durchgesetzt haben wird – und Gott „alles in allem“ ist?

Weder Allversöhnung noch Prädestination

Auf diese Frage findet keine Antwort, wer in unserer Welt „voller Gewalttat“ (Gen 6,11) den Viktimisierten eine Lehre von der „Allversöhnung“ (der Wiederbringung aller Dinge) andienen will. Das ist nicht nur ignorant gegenüber dem Leid der Schwachen und der Macht des Bösen, es ist auch theologisch fahrlässig im Blick auf die innere Zerrissenheit Gottes, den der Riss in der Schöpfung bis ins Innerste trifft.

Aber auch die Alternative, von einer Prädestination auszugehen, die den doppelten Ausgang der menschlichen Geschichte unabhängig von der Lebendigkeit Gottes und der Menschen festgelegt habe, findet auf die gestellte Frage keine Antwort. Auch hier wird die Zerrissenheit Gottes preisgegeben, nunmehr allerdings durch die Aufteilung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit auf festgelegte Menschengruppen. Damit wird nicht nur jede Hoffnung der Menschen zerstört. Auch Gott würde darauf festgelegt, einen Teil seiner Schöpfung von vornherein verurteilt und dem Nichts (bzw. der „Hölle“) preisgegeben zu haben.

Beide theologischen Antworten der christlichen Tradition, die Allversöhnung und die doppelte Prädestination, sind also nicht tragfähig. Sie weisen jedoch darauf hin, dass es uns an Vorstellungskraft für jene Neuschöpfung mangelt, in der alle Kreatur auf-gerichtet und Gott nicht länger zerrissen ist. Als Metapher für diesen Übergang – der einem Prozess der Fermentierung gleicht – ist das Gericht unverzichtbar.

Billige Gnade

Die Rede vom Gericht ist heute besonders wichtig, um jener Gestalt einer „billigen Gnade“ (Dietrich Bonhoeffer) zu widerstehen, die inzwischen weit verbreitet ist: der Rede davon, dass wir immer schuldig werden, egal was wir tun – etwa im Blick auf die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg. Faktisch handelt es sich dabei um eine Form der Selbst-Entschul(dig)ung, die sich der Frage nach der Gerechtigkeit für die Viktimisierten entledigt. Dabei wird theologisch außerdem übersehen, dass sich das Gericht dadurch noch nicht erledigt hat, in dem wir unsere jeweilige Schuld verantworten müssen. Denn wir erwarten ja den, „der kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten“.  

Deshalb ist hier dem antijüdischen Argument zu widersprechen, wonach das Christentum den richtenden Gott des AT hinter sich gelassen habe. Christus, so wird im kirchlichen Kontext gerne gesagt, habe ja das Gericht und das Urteil schon auf sich genommen, so dass alle Sünder:innen – ja auch ein Hitler, Pol Pot oder Putin – sich der Erlösung gewiss sein dürften. Das blendet jedoch aus, dass im NT Christus als kommender Richter gesehen wird, der von den Täter:innen und den Zuschauer:innen (wie in Mt. 25) Rechenschaft fordert.

Wie sich dies vollzieht, dafür sind nicht unsere medial eingebrannten Bilder von Gerichtsverhandlungen maßgeblich, sondern die Fragen, die Gott uns allen von Anfang an stellt: „Adam, wo bist Du“, „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ und „Was hast Du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde“. Friedrich-Wilhelm Marquardt hat uns dieses Bild vom Gericht als konfrontativem, aufdeckendem Gespräch angeboten. Diese Vorstellung vom konfrontativen Gespräch darf auch so verstanden werden, dass Gott selbst in diesem Gespräch Rechenschaft ablegen muss. „Wo warst Du, Gott, als die russische Soldateska in Butscha wütete? Warum antwortest du nicht auf die Stimme des Blutes der Opfer?“ …

Gottes Gericht und das Geheimnis der Erlösung

Zur Gerechtigkeit Gottes gehört, dass im Gericht die Schöpfung von der Sünde, dem Bösen und dem Tod befreit wird, denn sonst würde die Ungerechtigkeit triumphieren. Dies stellen wir uns zurecht als einen schmerzhaften Prozess vor, indem die Täter:innen von ihren Taten erlöst werden müssen. Dazu gehört die Konfrontation der Täter:innen mit diesen Taten. Hier gilt der Satz: Das Geheimnis der Erlösung heißt für die Täter, sich erinnern müssen. Nur so wird der sekundären Viktimisierung, der Leugnung des Leids, ein Ende bereitet.

Dieser schmerzhafte Prozess für die Täter beginnt mit der Aufrichtung derer, die zu Opfern gemacht wurden. Ihre Wunden werden geheilt und ihr Leben gewinnt neuen Glanz. Die schöpferische Gerechtigkeit Gottes befreit sie von dem, was ihnen zugefügt wurde. Und Gott befreit sie von jener unaufhörlichen Viktimisierung, die dadurch entsteht, dass die Täter ihre Erinnerungen und Träume beherrschen. Für die Opfer gilt der Satz: Das Geheimnis der Erlösung heißt, vergessen zu dürfen. Ganz so wie es beim Propheten Jesaja zu lesen ist: „Denn vergessen sind die früheren Nöte und verschwunden vor meinen Augen. Denn siehe: ich schaffe neu den Himmel und die Erde. An das Frühere wird nicht mehr gedacht werden, und es wird nicht mehr zu Herzen gehen.“ (Jesaja 65,16b.17)

Das ist ein riskanter Gedanke, für den es aber einen Grund gibt: das (Ein)Gedenken Gottes. Dieses Gedenken ist kein einfaches Erinnern, es ist das erlösende Erinnern von dem Jesaja schreibt. Nichts geht Gott verloren, kein Leid der Geschichte von Menschen und Kreatur. Alles ist bei Gott aufgehoben. Mehr noch: die Traumatisierungen haben ein Ende. Darum geht es in dem, was als Jüngstes Gericht vorgestellt wird: Weil die Täter entblößt werden, wird ihnen die Macht genommen, die Erinnerung und die Träume der Opfer zu beherrschen. Das Gericht - so die Hoffnung - ist eben keine Re-Traumatisierung der Opfer, sondern es befreit die Traumatisierten von der Verbitterung und der Taubheit, die immer wieder in das eigene und das soziale Leben einbrechen kann.

Erlösendes Vergessen

Erlösendes Vergessen ist also eine Verheißung für die Viktimisierten, weil Gott die Täter nicht davonkommen lässt, sondern selbst der Taten gedenkt und sie vergilt. Mit den Worten, die Paulus an die Gemeinde in Rom gerichtet hat: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römer 12, 17-21)

Ja, Sie haben richtig gelesen, so steht es im Neuen Testament: Wir sollen dem Zorn Gottes Raum geben und auf Gottes Vergeltung hoffen. Wie könnte es anders sein, angesichts von Butscha, angesichts von Hiroshima und, und, und … - Die Täter:innen sollen nicht davon kommen, ihre Taten vergolten werden. Das gilt auch für Putin und Kyrill. Das Jüngste Gericht, das sie laut Medwedew über die Ukraine bringen wollen, wartet auf sie selbst. Ihnen darf ein „Vergelt’s Gott“ zugerufen werden.

Vergeltung meint hier nicht Bestrafung. Vielmehr geht es um Sühne, um eine Selbsterkenntnis, die nur gewonnen werden kann in der Konfrontation mit der Erkenntnis, den Lebenszusammenhang verfehlt zu haben, den Gott uns eröffnet hat. Das Ziel ist nicht die Vernichtung des Täters, sondern seine Wiedereingliederung in die von Gott konstituierte Schöpfungsgemeinschaft. Diese ist nur als vollständige Transformation vorstellbar. Nur wenn die Täter:innen so verwandelt sind, dass sie von den Opfern nicht mehr als solche erkannt werden können, ist die Schöpfungsgemeinschaft erneuert. Das Gericht gehört daher ganz auf die Seite der Neuschöpfung. Es ist das Ferment – der entscheidende Katalysator - der Transformation.

Unvollständige irdische Gerechtigkeit

Der schöpferischen Gerechtigkeit Gottes kann nur entsprochen werden, indem akzeptiert wird, dass jede irdische Gerechtigkeit unvollständig bleibt und bleiben muss. Hier berühren wir nun einen ganz wunden Punkt der gegenwärtigen christlichen Ethik. Religiöse Menschen und Organisationen neigen dazu, das Ziel ihrer Verantwortung für die Besserung der Welt zu überdehnen. Dies lässt sich besonders gut an der ökumenischen Formel erkennen, das Ziel des gesellschaftlichen Engagements seien „Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“. Hier wird der Horizont menschlicher Möglichkeiten überschätzt. „Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“ sind – theologisch betrachtet – Gaben Gottes, von denen her wir leben können. Worte wie „Geh in Frieden!“ bringen das zum Ausdruck.

Wir können von diesen Gaben Gottes herkommend, unsere Verantwortung in Freiheit wahrnehmen. Aber diese Verantwortung und unsere Macht sind begrenzt. Das menschliche „Mitwirken“ am Schöpfungswerk Gottes, dient nur der „Besserung“ der Welt, nicht aber ihrer Rettung oder Erlösung. Wir können lediglich versuchen, die Ungerechtigkeit und Not, die Friedlosigkeit und Gewalt, die Umweltzerstörung und Unsicherheit zu minimieren. Es ist und bleibt in der unerlösten Welt, jenseits von Eden und diesseits des neuen Himmels und der neuen Erde, ein Kampf. Und das worum wir kämpfen, kann dann noch mit anderen Kämpfen in Konflikt geraten. Wer stattdessen die Vorstellung vom moralisch reinen Handeln pflegt, der leugnet diese konflikthafte Bedingung menschlichen Handelns. Das ist etwa der Fall, wenn die militärische Selbstverteidigung der Ukrainer:innen - die ja der Minimierung von Not, Unfreiheit und Gewalt dient - mittels der moralischen Forderung, prinzipiell auf Gewalt zu verzichten, delegitimiert werden soll.

Ohne Recht kein Frieden

Hinter solchen Forderungen und dem Leitbild vom „gerechten Frieden“ steht ein grundlegendes Missverständnis über den Charakter des Rechts, auch des Rechts in den internationalen Beziehungen. Denn der Ukraine wird durch die Charta der UN das Recht zugestanden, gegen den russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg militärisch Widerstand zu leisten und dabei von anderen Staaten unterstützt zu werden. Das Recht ist von der Moral strikt zu unterscheiden und dient nicht dazu, Gerechtigkeit oder Frieden zu schaffen. Das Recht ersetzt auch nicht politisches Handeln, das Konflikte über Interessen machtförmig austrägt. Das Recht ist vielmehr ein Regelsystem, das dazu dient die Gewalt einzuhegen und zu begrenzen. In diesem Fall durch rechtserhaltende, rechtserzwingende Gewalt.

Wer das Recht bricht, muss deshalb mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Rechtlich gibt es kein „Jüngstes Gericht“, wohl aber Instanzen wie den Internationalen Strafgerichtshof, die im Rahmen des Rechts die Kriegsverbrechen russischer Verantwortlicher verurteilen können. Wie auch immer Gott den Putins, Kyrills und Medwedews (und natürlich: uns allen!) im Jüngsten Gericht begegnen wird, es ist die Verantwortung der Staatengemeinschaft, das geltende Völkerrecht durchzusetzen. So, wie es schon die Pazifistin Bartha von Suttner gefordert hat: Ohne die Durchsetzung des Rechts kann es keinen Frieden geben.

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Foto: privat

Peter Scherle

Peter Scherle, Jhg. 1956, ist Pfarrer i.R. der EKHN. Er war bis 2020  Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar Herborn und Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Irish School of Ecumenics (Trinity College Dublin).

Foto: epd

Gabriele Scherle

Gabriele Scherle war Pröpstin für Rhein-Main der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt und Mitglied im Vorstand der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.


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