Schwebender Engel

Cave In: Heavy Pendulum

Gleisarbeiten ist ein harmloses Wort, aber man frage mal Anwohner einer Bahn-Strecke, die neue Schienen bekommt. Allein das tiefe sonore Diesellok-Pluckern beim Schottern: Kurz nur fährt sie an, das Bremsenquietschen der Trichterwagen folgt im Chor, scharf prasseln die Steine. Und wieder ein Stück weiter, bis in die Nacht. Doch auch darin liegt – Poesie! Es hat Rhythmus, Motive, Melodien, eine Aussage, obwohl sich das nicht sofort erschließen mag. Bei schwerem Metal ist das ähnlich. Das reife, facettenreiche Album „Heavy Pendulum“ der Ostküsten-Metalcore-Band Cave In, die hier bereits mit den Townes-Van-Zandt-Songs begegnete (vergleiche zz 10/2022), macht den Zustieg leicht – 71 Minuten insgesamt mit zwölf Songs und zwei Zwischenspielen wie dem düster-sphärischen Ambient-Track „Days of Nothing“, der dem dicht folgenden Gitarren-Intro von „Waiting for Love“ ein perfekter Schanzentisch ist.

Die Spanne reicht von dem brachialen Sludge- und Grunge-befeuerten Opener „New Reality“ und einem Space-Rock antäuschenden „Blood Spiller“ bis zum 12-minütigen „Wavering Angel“ („have you ever loved somebody too much“) am Ende. Ein Juwel, das man wegen der apokalyptisch geprägten Bildwelt zunächst mit einem Trudeln oder Schwanken zu übersetzen neigt, doch dieser Engel ist ein „Schwebender“, und Barlach-Assoziationen sind so willkommen wie angemessen. Es geht um Liebe, die loslässt und darum erst Liebe ist. Anklänge an ihren Bassisten Caleb Scofield, der 2018 bei einem Autounfall verbrannte, dürfen unterstellt werden. Bass spielt jetzt Nate Newton von den Bostoner Kollegen Converge, der auch das Shouting und gutturales Geschrei übernimmt. Converge-Gitarrist Kurt Ballou produzierte und mischte das Album. Eine gute Wahl!

Meist singt Stephen Brodsky, mitunter der andere Gitarrist Adam McGrath. Wie sie zwischen Soli und Griff-Spiel wechseln, ist eine Wucht. „Untenrum“ macht es Drummer John-Robert Conners neben Newton schlagend dicht, gefühlvoll, wo das sein soll, sonst mit gehöriger Wucht und Präzision. Trocken, treibend oder exaltiert, Tendenz: schwer. Denn, so die Haltung hier, immer geht es ums Eingemachte, wird das Leben vom Tod her gedacht und empfunden. Denn Metalcore – so wüst wie zu ihren Anfängen 1995 tobt er hier indes nie – ist ein Exitenzialisten-Genre. „Der Schwebende“ beginnt folkig-akustisch („have you ever loved somebody too much“) wie einer der Led-Zeppelin-Geniestreiche (an die dachten wir schon zuvor bei „The Reckoning“, also der Abrechnung), bevor er heavier wird und Soli-satt Fahrt aufnimmt. Gefühl und Poesie in unvertrauter Verpackung – so changiert „Heavy Pendulum“ begeisternd zwischen Core-Furor und ProgRock. Wie wir das im Schweben und Taumeln manchmal nötig haben.

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