Christus und die Schöpfung

Im Kolosserbrief gibt es eine Ethik für die Mitwelt zu entdecken
Brief des Paulus an die Kolosser – aus der „Historia Scholastica“ des Petrus Comestor, Pergament, Frankreich, 14. Jahrhundert.
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Brief des Paulus an die Kolosser – aus der „Historia Scholastica“ des Petrus Comestor, Pergament, Frankreich, 14. Jahrhundert.

Natürlich waren unsere Sorgen um den Klimawandel und die sogenannte Bewahrung der Schöpfung noch nicht im Horizont der  Bibel. Aber im Kolosserbrief gibt es eine Menge in Sachen Mitweltschutz zu entdecken, meint der Neutestamentler Ulrich Heckel, der das Dezernat „Theologie, Gemeinde und weltweite Kirche“ der württembergischen Landeskirche leitet.

Klimaschutz und Bewahrung der Schöpfung gehören zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. „Ich will, dass ihr handelt, als wenn euer Haus brennt, denn das tut es, sagte Greta Thunberg 2019 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. „Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.“

Die Sorge um das Klima treibt auch uns um. Doch unser Ansatz als Kirche ist ein anderer, nicht die Panik. Wer etwas für die Umwelt tun will, muss nicht von der Schöpfung sprechen, sondern könnte auch von der Welt, dem Kosmos oder der Natur reden – etsi deus non daretur (als ob es Gott nicht gäbe). Wer aber von der Schöpfung spricht, setzt voraus, dass es einen Schöpfer gibt. Aber die Welt ist keine heile Welt. Auch Paulus spürt, dass nicht nur der Mensch nach der Erlösung des Leibes seufzt (Römer 3,24; 7,24; 8,23), sondern die ganze Schöpfung mitseufzt (8,19–23).

Einer der stärksten Schöpfungstexte der Bibel ist der Christushymnus aus dem Kolosserbrief (Kolosser 1,15–20). Er lobt Christus als „Erstgeborenen vor aller Schöpfung“, „in dem“, „durch den“ und „auf den hin“ die ganze Welt erschaffen wurde. Und er preist ihn als „Erstgeborenen von den Toten“, der alles versöhnt hat durch seinen Tod am Kreuz. Damit sind vielerlei Fragen aufgeworfen: Was hat Christus mit der Schöpfung zu tun? Wie hängen Schöpfung und Erlösung zusammen? Warum soll der Mensch Verantwortung tragen für die Bewahrung der Schöpfung, wenn Gott doch deren Schöpfer und Vollender ist?

Der Kolosserbrief warnt vor Irrlehrern, die andere durch eine neue „Philosophie“ von den „Elementen der Welt“ „einfangen” wollen, die sie als göttliche Engelwesen oder – wie heutige Horoskope – als Schicksalsmächte verehren. Entscheidend bleibt die Antwort, dass die Gläubigen durch die Taufe mit Christus diesen Weltelementen gestorben sind (1,12.20), weil Christus als Haupt allen Mächten und Gewalten dieser Welt überlegen ist (1,13.16; 2,10.15). Deshalb muss der Kolosserbrief die Frage beantworten, was Christus mit den Elementen der Welt zu tun hat. Dazu zitiert er den Hymnus auf die göttliche Macht Christi, der allen Schicksalsmächten überlegen ist von der Erschaffung des Weltalls bis zur Vollendung.

Die Charakterisierung als „Erstgeborener der ganzen Schöpfung“ besagt nicht, dass Christus das erste Geschöpf war, sondern dass er „vor allem“ (1,17) existierte, also bereits vor der Erschaffung der Welt. War Christus schon vor aller Schöpfung bei Gott, so hat er bei der Erschaffung der Welt mitgewirkt: „denn in ihm wurde alles erschaffen“ (1,16). Vorbereitet wurde die Vorstellung von der Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft Christi durch die jüdische Weisheitstheologie. Hier gilt die Weisheit zunächst als göttliche Eigenschaft. Gott ist es, „der die Erde mit Weisheit gegründet und nach seiner Einsicht die Himmel bereitet (hat)“ (Sprüche 3,19). Zunehmend wird die Weisheit personalisiert und personifiziert als Beisitzerin auf Gottes Thron, die schon bei der Erschaffung der Welt zugegen war.

Wie die Weisheit bereits vor der Erschaffung der Welt bei Gott existierte, so ist auch Christus Ebenbild des unsichtbaren Gottes und Erstgeborener vor aller Schöpfung. Nun heißt es nicht mehr „in ihm wurde alles erschaffen“ (1,16a), sondern: „Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen“ (1,16). Das göttliche Schöpfungshandeln beschränkt sich also nicht auf die Erschaffung zu Beginn der Welt, sondern dauert in der Gegenwart an: „Was unser Gott geschaffen hat, das will er auch erhalten“ (Evangelisches Gesangbuch 326,3). „Er trägt alle Dinge“ (Hebräer 1,3).

Diese Vorstellung mag heute fremd erscheinen, ist aus Weihnachtsliedern aber durchaus geläufig: „… er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein“, dichtete Martin Luther (EG 23,5), „… die Krippe, Windelein so schlecht, da findet ihr das Kind gelegt, das alle Welt erhält und trägt“ (EG 24,5). Atemberaubend, was da beim weihnachtlichen Singen über die Lippen geht!

Mit der Rede von Christus als „Haupt des Leibes der Kirche“ leitet der Hymnus im zweiten Teil zur Erlösungstat Christi über. Mit ihm sind die Gläubigen in der Taufe den Weltelementen gestorben (2,20) und mitauferweckt (2,12f; 3,1.3), aus der Macht der Finsternis errettet und in das Reich des Sohnes versetzt (1,13). Dass ihnen die Schicksalsmächte nichts mehr anhaben können, ist die Antwort auf die kolossische Philosophie.

Lebenschaffendes Wirken Gottes

Als „Haupt des Leibes der Kirche“ ist Christus zugleich der „Anfang“ (Kolosser 1,18), nicht nur der „Erstgeborene vor aller Schöpfung“, sondern auch der „Erstgeborene von den Toten“. Der Hymnus entfaltet das Bekenntnis zu Gott, „der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ruft, dass es sei“ (Römer 4,17). Schöpfung und Erlösung zeugen in gleicher Weise vom lebensbejahenden, lebenschaffenden, lebendig machenden Wirken Gottes in Christus.

Die Erlösung ist auf „das All“ ausgerichtet, das ganze Universum, die gesamte Schöpfung. Im Reich Christi kommt die Schöpfung zur Vollendung als einem Reich der Versöhnung und des Friedens (1,13.20.22). Damit wird die Welt nicht nur als Schöpfung gesehen, sondern auch als versöhnungsbedürftiger Kosmos, die Erfahrung von Unfrieden und Feindschaft im Widerstreit der Mächte, das Stöhnen und Seufzen der Kreatur nach Erlösung (so in Römer 8,19–23). Das Friedenstiften zielt auf einen kosmischen Zustand des Schalom, des biblisch verheißenen Friedens in Erfüllung, Heilsein und Ganzsein. Im Hintergrund stehen die großartigen alttestamentlichen Verheißungen der Advents- und Passionszeit vom Friede-Fürst und seinem Friedensreich.

Schöpfung und Erlösung dürfen also nicht auseinandergerissen werden, wie es in der Kirchengeschichte häufig der Fall war. Beides hängt zusammen, weil Christus als Haupt der Kirche zugleich der Herr der Welt ist von der Erschaffung bis zu ihrer Vollendung bei Christus: „auf ihn hin“ (1,16). Das heißt zugleich: Der Schöpfungsglaube ist nicht rückwärtsgewandt auf Weltentstehungstheorien fixiert, sondern auf die Zukunft ausgerichtet.

Der Kolosserbrief reagiert aber nicht nur auf die kolossische Philosophie. Er zieht aus dem gnädigen Handeln Gottes auch Folgerungen für die praktische Lebensführung. Christliche Ethik ist eine Ethik der Dankbarkeit. Darum werden den bösen Werken (1,21) positiv Taten der Dankbarkeit gegenübergestellt (3,17).

Was mit bösen Taten gemeint ist, wird in einem Lasterkatalog ausgeführt, der von böser Begierde und Habsucht spricht (3,5). Das mag heute altmodisch und moralisierend klingen, beschreibt aber eine Grundhaltung, die auch einer Konsumgesellschaft nicht ganz fremd ist. Das griechische Wort für die Habsucht (pleonexía) heißt wörtlich übersetzt „Mehr-haben-Wollen“. Es meint jede Form von Sucht, Gier und Geiz, Ehrgeiz und Raffgier, Geltungsbedürfnis und Gewinnsucht, eine Gesinnung, die geradezu zum Motto unserer Konsumgesellschaft geworden ist: Geiz ist geil. Dazu kann der Kolosserbrief nur sagen: „So tötet nun … schändliche Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht, die Götzendienst ist“ (3,5), weil sie die Dinge des täglichen Bedarfs verabsolutiert, über den Gaben aber den Schöpfer vergisst, als ob es Gott nicht gäbe, irdischen Gütern und Werten nachjagt, als ginge es um letzte Dinge.

Die Aufforderung zum Anziehen des neuen Menschen (3,9–11) betrifft nicht nur individualethisch die persönliche Haltung (3,1–11), binnenkirchlich das Zusammenleben der Gemeinde (3,12–17) und gesellschaftlich das soziale Verhalten im Haus als kleinster ökonomischer Lebenseinheit (3,18–4,1). Sie müsste nach den All-Aussagen des Hymnus (1,15–20) kosmologisch-ökologisch auf die ganze Schöpfung ausgeweitet werden. Dieser Gedanke wird im Kolosserbrief aber nicht weiterverfolgt, da für ihn die Herausforderung in der kolossischen Philosophie von den Weltelementen besteht, noch nicht in der Bedrohung der Schöpfung durch die Umweltzerstörung. Eine neuzeitlich angezeigte Schöpfungstheologie und Schöpfungsethik ließe sich aber daraus gut entwickeln.

Seufzen und Stöhnen

Dass der Mensch nach dem Ebenbild Christi erneuert wird (3,10), erklärt Christus zum Maßstab der Lebensführung, der als Gottes Ebenbild, Schöpfer und Erlöser die Welt erneuern und in Frieden vollenden wird. Darum wird an die Vaterunserbitte erinnert: „Wie der Herr euch vergeben hat, so (vergebt) auch ihr!“

Dieser Erfahrung der Gnade korrespondiert einerseits doxologisch die Antwort im Lob und Dank an Gott: „seid dankbar“ (3,15), „dankt Gott, dem Vater, durch ihn“ (3,17) – nicht nur für die Erlösung, sondern für die ganze Schöpfung (1,15f) samt Speise und Trank (2,16). Solch dankbares Singen schließt Seufzen und Stöhnen keineswegs aus, sondern bringt auch diese in Klagepsalmen flehentlich vor Gott.

Aus dieser Erfahrung der Gnade erwächst andererseits ethisch die Verantwortung in einer Ethik der Dankbarkeit: „Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus“ (3,17). Die Haltung der Dankbarkeit hat praktische Konsequenzen in einem entsprechenden Verhalten. Wer dem Schöpfer dankbar ist, wird sensibler für seine Schöpfung, sanftmütiger mit seinen Gaben, demütiger mit seiner Kreatur, sorgsamer mit seinen Ressourcen umgehen. Solche Verantwortung aus Dankbarkeit ist das positive Gegenstück zur Gier des Mehr-haben-Wollens. Statt unnötig zu zerstören, sollen die Gläubigen schonen und schützen, was Gott in Christus, durch ihn und auf ihn hin erschaffen hat.

Behüten und bewahren

Im konziliaren Prozess wird die Bewahrung der Schöpfung heute aus dem Auftrag für den Menschen im Garten Eden abgeleitet, „dass er ihn bebaute und bewahrte“ (Genesis 2,15). Hier ist die Bewahrung der Schöpfung nicht mehr wie im Kolosserhymnus Gottes Werk in Christus, sondern Gottes Auftrag an den Menschen. Damit ist die Bewahrung der Schöpfung nicht mehr wie in der klassischen Dogmatik in der Gotteslehre verortet, sondern in die Ethik gewandert, sie hat sich also von einem Gegenstand des Glaubens an den Schöpfer in eine Frage menschlichen Handelns verwandelt. Das eigentlich handelnde Subjekt des Behütens und Bewahrens ist in der Bibel aber nicht der Mensch, sondern Gott, wie das Wortfeld des Behütens und Bewahrens in Segensworten zeigt (zum Beispiel Numeri 6,24). Dabei geht das göttliche Behüten, Bewachen und Aufbewahren über in das Achten, Befolgen und Erfüllen von göttlichen Worten und Geboten durch den Menschen (Deuteronomium 4,2; Psalm 119).

Zudem darf der Garten Eden nicht mit der ganzen Schöpfung identifiziert werden, da er nicht Himmel und Erde insgesamt umfasst, vielmehr handelt es sich inmitten einer Steppenlandschaft um eine Oase, die Gott dem Menschen als Lebensraum zuweist. Gemeint ist nicht die unberührte Natur eines Bannwalds, sondern ein Garten, dessen Erdboden bebaut und bearbeitet, gehegt und gepflegt sein will, also eine Kulturlandschaft (von lateinisch cultus = Pflege, Bearbeitung, Anbau).

So soll der Mensch den Garten bestellen, aber im Blick auf die ganze Schöpfung bleibt Gott das handelnde Subjekt in Christus, in dem alles Bestand hat (Kolosser 1,17). Darum lebt der Auftrag zur Bewahrung des menschlichen Lebensraums von Gottes Handeln, bleibt umfangen, begleitet und getragen vom Wunsch, dass er behüte und bewahre, wie er es in der Urgeschichte nach der Sintflut zugesagt hat: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Genesis 8,22). Die Bewahrung der Schöpfung durch Gott geht einher mit dem Auftrag an den Menschen, dass er den zugewiesenen Lebensraum auch seinerseits hege und pflege, hüte und schütze, erhalte und bewahre. Auf den Hymnus folgt darum die Paränese, auf den Lobpreis die Ermahnung.

Zur Zeit des Kolosserbriefs gab es noch keine Konsumgesellschaft und noch keinen Raubbau an Rohstoffen wie heute. Aber das Mehr-haben-Wollen ist eine Macht, die durch die heutigen Möglichkeiten ungleich mächtiger geworden ist und damit umso bedrohlicher für alle Kreatur. Der Glaube an die Schöpfung und Bewahrung, Erlösung und Vollendung durch Gott in Christus lässt nicht träge werden, sondern führt zum aktiven Abtöten alter Gewohnheiten, zum Anziehen des neuen Menschen, zur Erneuerung des Lebensstils, zu einer veränderten Lebenspraxis aus dem Bewusstsein der Dankbarkeit.

Dazu wäre es lohnend, das Bild des Leibes nicht auf die Kirche (1,18), sondern im Anschluss an den Hymnus neu auf die ganze Schöpfung zu beziehen: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit“ (1. Korinther 12,26). Das Leibmotiv nun auch kosmologisch-ökologisch für das Zusammenleben aller Kreatur fruchtbar zu machen, wäre ein Gedanke, den der Kolosserbrief so nicht ausführt, der sich vom Organismusgedanken her jedoch nahelegt. Das alles sollte aber nicht in apokalyptischer Panikmache geschehen, sondern mit Freuden versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes (Kolosser 1,11–13): „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ Ja, so soll es geschehen. 

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Foto: Evangelische Landeskirche in Württemberg

Ulrich Heckel

Dr. Ulrich Heckel ist Oberkirchenrat und Leiter des Dezernats Theologie, Gemeinde und weltweite Kirche der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen.


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