Heidelberger Thesen – ein Mythos?

Warum sich seit 1959 viele Parameter geändert haben
Mehr als 300.000 Gegner der atomaren Aufrüstung kamen am 10.10.1981 in den Bonner Hofgarten, um gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren.
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Mehr als 300.000 Gegner der atomaren Aufrüstung kamen am 10.10.1981 in den Bonner Hofgarten, um gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren.

Kürzlich behauptete der Wiener Systematische Theologe Ulrich H.J. Körtner auf zeitzeichen.net, dass die EKD ihre Position zur atomaren Abschreckung ändern müsse und verwies auf die sogenannten Heidelberger Thesen von 1959. Der ehemalige EKD-Friedensbeauftragte und Bremer Theologe Renke Brahms widerspricht ihm und setzt andere Akzente.

In der friedensethischen Diskussion um die Nuklearwaffen haben sich die Heidelberger Thesen von 1959 immer mehr zu einem „Mythos“ entwickelt, der beansprucht wird, auch heute noch in unveränderter Form gültig zu sein. Dabei haben sich seit 1959 viele Parameter geändert, auf die auch die Friedensethik eine neue Antwort finden musste und muss. Waren die Thesen mit ihrer aus der Physik stammenden Komplementaritätsformel insofern hilfreich, als dass sie einen erbitterten innerkirchlichen Streit um die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik einigermaßen befrieden konnten, so wurden sie im Laufe der Jahre immer wieder kritisch angefragt, neu interpretiert oder moduliert.

Die Handreichung für die Seelsorge an Wehrpflichtigen des Evangelischen Kirchenbundes in der DDR aus dem Jahr 1965 markierte im Kontext der Situation in der DDR einen deutlich anderen Akzent, indem sie von einem „deutlicheren Zeichen“ sprachen, dass die Verweigerer der Militärdienstes setzten. Auf dem Höhepunkt der Debatte über den NATO Doppelbeschluss zu atomaren Aufrüstung bestätigte die EKD die Intention der Heidelberger Thesen in der Denkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“ (1981), verband sie aber mit einem „nur“, denn den Frieden in Freiheit zu sichern sei nur vertretbar, wenn alle Anstrengungen darauf gerichtet seien, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen.

Die Denkschrift aus dem Jahr 2007 „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ ging einen Schritt weiter, in dem sie ausdrücklich von den Heidelberger Thesen abwich und die Drohung mit Atomwaffen „nicht mehr“ als legitime Mittel der Selbstverteidigung bezeichnete, aber offenließ, ob dies eine völlige Abrüstung zur Folge haben oder die Abschreckung nach wie vor Gültigkeit behalten musste. Diese Entwicklungen ziehen ihre Berechtigung aus den Heidelberger Thesen selbst. Diese waren nie symmetrisch im Sinne einer Gleichwertigkeit oder Gleichrangigkeit formuliert. Vielmehr gab es in ihnen schon immer eine tendenzielle Asymmetrie.

„Rasch vorübergehender Zustand“

Die Asymmetrie geht schon aus dem „noch“ hervor, mit dem eine christliche Haltung beschrieben wird, die eine Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern (These 8) eben nur als „vorläufig“ (Erläuterung zu These 7) oder als „rasch vorübergehenden Zustand“ (Erläuterungen zu These 11) anerkennt.

Außerdem deutet sich schon in den Erläuterungen zu These 7 ein Komparativ an – in der Frage, ob nicht derjenige, der sich aus Gewissengründen für einen Verzicht auf Atomwaffen entscheidet, „mehr im Sinne des Evangeliums“ (Erläuterungen zu These 7) handelt. Tendenziell im Sinne einer Tendenz oder Richtung sind die Heidelberger Thesen, weil sie trotz der widerstreitenden Meinungen es als kirchliche Aufgabe und als Ziel beschreiben, den atomar gerüsteten Staaten die Notwendigkeit einer Friedensordnung nahezubringen und den nicht atomar gerüsteten zu raten, diese Rüstung nicht anzustreben. Es hat sich in den Jahren nach 1959 und gerade in den ersten Jahren nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ ja auch gezeigt, dass eine vertraglich vereinbarte nukleare Abrüstung in großem Maße möglich war.

In dieser Logik liegt auch die Kundgebung der EKD-Synode von 2019, die in Vorsicht und Klarheit formuliert, dass die Einsicht unausweichlich erscheint, dass nur eine völkerrechtliche Ächtung und das Verbot von Atomwaffen den notwendigen Druck aufbaut, diese Waffen gänzlich aus der Welt zu verbannen. Diese Einsicht wird mit konkreten Erwartungen an die Bundesregierung verbunden, u.a. mit dem sehr realistischen Hinweis, den Atomwaffenverbotsvertrag im Hinblick auf die Überprüfungsmechanismen weiterzuentwickeln. Die Teilnahme Deutschlands als Gast an den Konferenzen zum Atomwaffenverbotsvertrag ist ein wichtiger Schritt, dem weitere folgen sollten.

Momentum nicht gegeben

Nun ist der Moment für Verhandlungen mit Putins Russland, das einen schrecklich brutalen, völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine führt und mit Atomwaffen droht, nicht gegeben. Das gehört zu den aktuellen Parametern. Ein Verhandlungsangebot würde im Moment von russischer Seite nur als Schwäche gedeutet werden. Dennoch gilt es, schon jetzt über das „Momentum“ nachzudenken und neue Entwicklungen nicht zu verpassen.

Die Versäumnisse der vergangenen Jahre, die in den Brüchen und Kündigungen der Verträge durch Russland und die USA ihren Ausdruck fanden, sollten jedenfalls für die Zukunft mahnen. Es könnte schon jetzt ein „Momentum“ darin liegen, dass zum Beispiel China und Indien keinerlei Interesse an einer nuklearen Eskalation haben und dadurch Bewegung in zukünftige Verhandlungen kommt. Jedenfalls sollte an dieser Stelle nichts unversucht bleiben, auch im Rahmen des Verbotsvertrages. So schrecklich die Drohungen Russlands mit Atomwaffen ist, machen doch die Szenarien ihres Einsatzes die Unmöglichkeit der Möglichkeit eines Einsatzes von Atomwaffen deutlich und müssen zu Verhandlungen über atomare Abrüstung führen.

Natürlich wird es nicht von heute auf morgen zu einer Unterschrift aller Staaten unter den Verbotsvertrag kommen. Aber die Geschichte anderer Verbotsverträge zeigt, dass Fortschritte erzielt werden können. Die Befürworter eines Verbots von Landminen sind lange als unrealistische Träumende bezeichnet worden. Durch starkes zivilgesellschaftliches Engagement – ähnlich wie bei der Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (ICAN) – ist es gelungen, dass 1999 das Ottawa-Abkommen zum Verbot der Landminen von über 160 Staaten unterzeichnet werden konnte. Auch wenn wichtige Staaten wie die USA, China und Russland dem Vertrag noch nicht beigetreten sind, hat sich viel geändert. Wer das geringschätzt, sollte sich bewusst sein, dass er selbst dazu beiträgt, dass Völkerrecht zu untergraben.

Heidelberger Thesen „entmythologisieren“

Für die evangelische Friedensethik ist der Moment gekommen, die Heidelberger Thesen zu „entmythologisieren“, vor allem in ihrer trivialisierten Form der vermeintlichen Gleichrangigkeit oder des „Sowohl-als-auch“ - oder der auf den grundsätzlichen Dienst am Frieden übertragenen Form seit dem Kirchentag 1967 in Hannover unter dem Motto „Frieden schaffen mit und ohne Waffen“. Der Wert der Heidelberger Thesen und ihrer Weiterentwicklung ist es, unterschiedliche und sich widersprechende Meinungen in ihrer Spannung zu halten und den Konflikt nicht einfach zu der einen oder anderen Seite aufzulösen, sondern die gegenseitige Bedingtheit zu markieren.

Die beschriebenen Weiterentwicklungen widersprechen dem nicht. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist der Dienst in einer Parlamentsarmee zur Landesverteidigung genauso ernst zu nehmen wie der Friedensdienst der Friedensfachkräfte. Beide Dienste sollten eine Gewissensbildung voraussetzen, die zu einer bewussten Entscheidung führt. Friedenethisch zu formulieren, die Überwindung des Krieges und militärischer Gewalt zur Lösung von Konflikten anzustreben, den Einsatz militärischer Gewalt im Notfall als zweitbeste Möglichkeit zu definieren und politische, diplomatische, zivile und gewaltfreie Instrumente als erste Option zu benennen, liegt doch auch und gerade im Interesse der Soldatinnen und Soldaten, die nach Möglichkeit nicht in den Einsatz gehen sollten.

Seit 1959 haben sich viele Parameter geändert. Dazu gehören auch die real existierenden Friedensdienste mit ihren qualifizierten Friedensfachkräften, die in der Prävention, in eskalierenden Konflikten und in der Nachsorge von Konflikten arbeiten. Ihre Erfahrungen und die Studien zur Wirksamkeit von gewaltfreien Bewegungen werden in der theologischen Wissenschaft immer noch weitgehend ignoriert. Dabei werden sie in der amerikanischen Militärforschung inzwischen ernst genommen und in Sicherheitsstrategien, z.B. der Baltischen Staaten, integriert. Was lange als „unrealistisch“ galt, hat sich inzwischen als realistischer erwiesen als manche vermeintlich realistischen Erwartungen an militärische Instrumente (siehe Afghanistan).

Aber auch darüber hinaus sollten wir theologisch nicht darauf verzichten, uns mehr vorzustellen als das, was ist. Anpassung friedensethischer Überlegungen an eine schreckliche Wirklichkeit um einer falsch verstandenen „Anschlussfähigkeit“ willen entspricht nicht dem Auftrag der Kirche, die bei aller Vorsicht und Vorläufigkeit doch mit den Möglichkeiten Gottes und Schritten zum Frieden rechnen sollte.

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