Kleiner Wald, große Wirkung

Tiny Forests helfen der Umwelt und bringen Menschen zusammen.
Tiny Forest
Foto: Martin Egbert

Ein Trend geht um die Welt: Nach der Idee des japanischen Biologen Akira Miyawaki sind mittlerweile 3 000 kleine Wälder in vielen Städten entstanden, die innerhalb weniger Jahrzehnte zum selbsttragenden Ökosystem werden sollen. Auch Darmstadt macht mit.

Ein grauer Morgen in Darmstadt. Feiner Nieselregen sorgt für hohe Luftfeuchtigkeit. Zäh fließt der Berufsverkehr über die vierspurige, regennasse Berliner Allee. Eine Straßenbahn fährt quietschend um die Ecke, die müden Gesichter der Fahrgäste im fahlen Schein der Deckenlampen.

Stefan Scharfe strahlt trotz des trüben Wetters. „Die wollen wir heute alle pflanzen.“ Der Forstwirtschaftler und Waldpädagoge zeigt auf eine lange Reihe Baumsetzlinge. Sie liegen hinter einer rot-weißen Absperrung auf dem matschigen Boden und warten auf fleißige Hände. 633 Bäume für 200 Quadratmeter, also nicht einmal die Fläche eines Tenniscourts. Größer ist das Gelände zwischen der vierspurigen Straße und dem Parkplatz eines Autohauses nicht, auf dem heute mithilfe von sechzig Kindern einer benachbarten Schule ein Tiny Forest gepflanzt werden soll.

Stefan - Forstwirtschaftler und Waldpädagoge
Foto: Martin Egbert

Stefan, Forstwirtschaftler und Waldpädagoge

 

Vorbild ist die Methodik des japanischen Biologen Akira Miyawaki. Seine Idee: In urbanen Räumen auf kleinen Flächen möglichst vielfältige, schnell wachsende und sich selbst erhaltene Habitate anlegen und so einen Beitrag zum Erhalt der Arten, der Verbesserung der Luftqualität sowie der Wasserhaltekapazität des Bodens zu leisten. Vor allem aber ist ein Tiny Forest ein hervorragendes Instrument für die Umweltpädagogik. Kinder können darin die Verantwortung für das Mikro-Ökosystem übernehmen, das Beziehungsgeflecht des Waldes verstehen, den Umfang von Bäumen messen und dokumentieren, ihr Wachstum beobachten, so wie auch Insekten, Vögel und Pflanzen. „Ein Tiny Forest ist ein grünes Klassenzimmer“, sagt Stefan Scharfe und lächelt hinter seinem dunklen Vollbart.

Wie zum Beleg treffen hinter ihm die ersten Schülerinnen und Schüler ein, freudig aufgeregt und voller Tatendrang. Ein kleiner Wald aus Spaten steht bereit, neben einer Reihe Gießkannen und Schubkarren sowie dem Haufen aus Hackschnitzeln, der die meisten Kinder überragt. Stefan Scharfe und seine Kolleg:innen von MIYA, einem Fachverband zur Förderung der Miyawaki-Methode, geben den Kindern eine kurze Einführung. Und los geht’s. Man merkt dem Team seine Erfahrung an. Hier in Darmstadt entsteht ihr dritter Tiny Forest. Bereits während des Studiums der Forstwirtschaft in Eberswalde haben sich die Aktivisten intensiv mit dem Thema beschäftigt. Nun ist daraus eine Profession entstanden. „Wir können uns kaum retten vor Aufträgen“, freut sich Stefan Scharfe.Schnell stecken die ersten Setzlinge in der satten Erde. 27 Arten kommen auf der kleinen Fläche in den Boden, unter anderen Linden, Elsbeeren, Stieleichen, Eiben, Rotbuchen, Hainbuchen und Vogelkirsche. Um den inneren Bereich mit den Hauptbaum­arten wird ein Kreis mit Nebenbaumarten gepflanzt, um die herum dann ein Ring aus schnell wachsenden Sträuchern, wie Ginster, Haselnuss oder Rosen. Durch die hohe Pflanzdichte, der Abstand zwischen den Bäumen beträgt nur vierzig Zentimeter, steigt der Konkurrenzdruck innerhalb des Systems. Gekoppelt mit den geschaffenen Bodenvoraussetzungen wird eine natürliche Waldgesellschaft statt in 200 Jahren bereits innerhalb von 25 bis 30 Jahren erreicht. „Die Phase der Sträucher, Gräser und Pionierbäume wird übersprungen.“

300 Mikrowälder stehen allein in den Niederlanden. Sie eignen sich besonders gut für degradiertes Land, verdichtete Böden und urbane Räume.
Foto: Martin Egbert

 

Dem Pflanzen voraus gehen deshalb Analysen von Mikroklima und Boden. Letzterer muss so beschaffen sein, dass der Sprung in die fertige Waldgesellschaft gelingt und das System sich schnell selbst tragen kann, ohne Bewässerung, Entfernen unerwünschter Pflanzen und Nährstoffzufuhr, was bei einem Tiny Forest bereits nach zwei bis drei Jahren eintreten soll.

In Darmstadt war der Boden problematisch. Hier in der Nähe des Hauptbahnhofes wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Trümmer aus der Innenstadt abgeladen, weil die Straßenbahn bis hierher fuhr. Das Gelände musste deshalb aufwändig tief ausgebaggert und wieder aufgefüllt werden, mit Humus, Mykorrizasubstrat und Terra Preta, einer Mischung aus Holz- und Pflanzenkohle, menschlichen Fäkalien, Dung, Kompost und Ton. „Terra Preta kann sehr große Mengen Nährstoffe und Wasser binden“, erklärt Stefan Scharfe. Dieser Nährstoff-Akku am Boden des Aushubs bringt die Bäume dazu, möglichst schnell und tief zu wurzeln. Das erhöht die Widerstandsfähigkeit des Mikrowaldes. Nicht alle Pflanzen aber kommen durch. Das ist auch ein Teil der gewollten Entwicklung.

Und was steht hier dann in 100 Jahren? Stefan Scharfe zieht die Schultern hoch, die in einem braunen Kapuzen-Sweatshirt stecken. „Das, was hier funktioniert, das wird ein Stück Wildnis mitten in der Stadt.“ In jeder Phase seiner Entwicklung bildet der Tiny Forest wieder ein anderes Habitat für Flora und Fauna.

„Vielfältiger und spannender als die üblichen fünf Stadtbäume für jeweils 2 000 Euro wird es auf jeden Fall werden“, verspricht Stefan Scharfe. Apropos Kosten. Aufgrund der aufwändigen Vorbereitung des Bodens ist der Tiny Forest in Darmstadt mit 30 000 Euro ein echter Premiumwald geworden. Durch die Patenschaft mit der Schule zur Pflege des Geländes aber, inklusive Reinigung und Bewässerung, spart das Grünamt der Stadt zumindest jedes Jahr laufende Kosten. Zudem entsteht ein Stück Grün im Urbanen, dem die Folgen der Klimakrise, wie Trockenheit, Hitze und ein sinkender Grundwasserspiegel, weniger anhaben können. „Um aber einen messbaren Effekt für die Stadtbewohner in Bezug auf Abkühlung und Luftqualität zu erzielen, müssten in einem Ort wie Darmstadt einige Hundert Mikrowälder entstehen“, weiß Stefan Scharfe.

Effiziente Aufforstung

Über 3 000 Tiny Forests sind nach der Methode Akira Miyawakis weltweit entstanden. Ihren Befürwortern zufolge ist sie eine der effizientesten Aufforstungsmethoden, die sich besonders gut für degradiertes Land, verdichtete Böden und urbane Räume eignet. Zunächst wurde die Methode vor allem von Shubhendu Sharma und seinem von Bangalore und Neu-Dehli aus weltweit agierendem Projekt Afforestt aufgegriffen. Nach Europa kam sie über Aktivisten in Belgien und den Niederlanden. Rund 300 Tiny Forests soll es in den Niederlanden geben. Einer der Hauptorte ist die Stadt Almere. Neun Tiny Forests wachsen und gedeihen in der rund 214 000 Einwohner zählenden Stadt, die in den 1970er-Jahren als Wohn-Satellit für das nur 25 Kilometer entfernte Amsterdam entstanden ist. Almere zählt immer noch zu den am schnellsten wachsenden Gemeinden der Niederlande. Mikrowälder gibt es hier an Kindergärten und Schulen, zur Auflockerung monotoner Grünanlagen oder auf Plätzen als Anwohnerprojekte. „Das allerwichtigste ist, sehr früh die Menschen in die Planung einzubinden, damit es zu ihrem Wald wird“, sagt Ilse Suijkerbuik, Projektleiterin von „ivn nature educatie“. Das Planungsbüro hat den gesamten Prozess für die Stadt durchgeführt, von den ersten Umfragen und Ideensammlungen, über die Auswahlverfahren bis hin zur Anpflanzung und zur Entwicklung von Unterrichtsmaterialien für beteiligte Schulklassen.

Tiny Forest
Foto: Martin Egbert
 

Beworben hatten sich 15 Gruppen um einen Tiny Forest, ausgewählt werden konnten nur neun. Einer der Mikrowälder wächst in einer Reihenhaussiedlung am Stadtrand, mit gestutzen Hecken und eintönigen Rasenflächen. Marcel Post, einer der Initiatoren, kommt in Trainingshosen und Sportshirt. Sein braungebranntes Gesicht unter dem kurz geschnittenen grauen Haar verrät, dass er viel an der frischen Luft ist. Der 66-jährige Handelskaufmann war einer der Erstbewohner der Siedlung. Die große Grünanlage zwischen den Reihenhäusern führte lange Zeit ein trauriges Dasein als Hundeauslauffläche. „Nichts gegen Hunde, aber andere Anwohner nutzen das Gelände kaum.“ Das wollte Marcel Post ändern. Er begann, andere Anwohner für einen Tiny Forest zu begeistern, ihn gemeinsam mit ihnen zu planen und sich bei der Stadt um die Finanzierung zu bewerben. Nach dem Zuschlag pflanzten sie gemeinsam den Mikrowald. Zum Teil waren fünfzig Anwohner beteiligt. „Es war ein tolles Gefühl, so viel zu bewegen und zusammenzubringen.“Heute nutzen Kindergärten und Schulen den Mikrowald für Abenteuer und Umweltbildung. Alle anderen Bewohner schätzen ihn vor allem als Treffpunkt, Platz für Feiern und Begegnungsstätte. Der Tiny Forest hat die Gemeinschaft wachsen lassen, so wie seine eigenen Bäume. „Einige der Bäume sind mir mittlerweile über den Kopf gewachsen“, sagt Marcel Post und grinst.

Lian - Mutter und Waldbetreuerin
Foto: Martin Egbert

Lian, Mutter und Waldbetreuerin

 

Kleiner Wald, große Wirkung. Das kann auch Lian bestätigen. Die 36-Jährige sitzt mit anderen Müttern auf dem zentralen Platz ihrer Neubausiedlung am anderen Ende Almeres. Als ihre Nachbarschaft geplant und vor vier Jahren gebaut wurde, hat die Gemeinde den Anwohnern als Pilotprojekt den Platz zur Selbstverwaltung übergeben. „Wir sind hier für alles verantwortlich, bis hin zum Sauberhalten, dafür können wir auch alles gestalten.“ Neben dem Spielplatz und einem kleinen Gemeinschaftshaus wollten die Anwohner einen Tiny Forest in Form eines Herzens und mit vielen essbaren Pflanzen, wie Obstbäumen oder Beerensträuchern.

Die Kinder in Darmstadt sind immer noch bei der Arbeit. Erde klebt an ihren Schuhen, Anoraks und Hosen. Kleine Menschen schleppen große Eimer mit Mulch oder Mykorizza Substrat. Sinn und Wirkung der Symbiose von Pilz und Wurzeln haben sie natürlich schon längst gelernt. „Hier ist es besser als in der Klasse“, sagen fast alle von ihnen. Am Mittag treffen Politiker und andere wichtige Menschen der Stadt ein, um Lobesreden auf das Projekt zu halten. Die Kinder pflanzen unbeirrt weiter. Als die Abenddämmerung einsetzt, ist auch der Lattenzaun um den ovalen Mikrowald gezogen. Auf der Berliner Allee stockt wieder der Berufsverkehr, und die Straßenbahn biegt quietschend um die Ecke. Doch etwas ist jetzt anders geworden. 

 

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