„Die Welt mit deinen Augen“

Was die Theologie von der Wortkünstlerin Julia Engelmann lernen kann
Deutschlands berühmteste Poetry-Slammerin Julia Engelmann.
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Deutschlands berühmteste Poetry-Slammerin Julia Engelmann.

Julia Engelmann machte sich als Sängerin und Poetry-Slammerin einen Namen. Wer in den Texten der 30-Jährigen nach Rudimenten christlichen Weltwissens sucht, wird da und dort fündig. Dass ein und dieselbe Symbolik mehrfache und teils widersprechende Assoziationen freisetzt, macht diese Poetry für die Theologie anziehend, erläutert der Theologieprofessor Henning Theißen.

Von Geburt an fehlt mir die Fähigkeit zum räumlichen Sehen. 3-D-Brillen taugen für mich höchstens zur Verkleidung. Vielleicht bin ich deshalb in den Geisteswissenschaften gelandet, die weiterhin mit Texten in der Zweidimensionalität von Papier oder Bildschirm arbeiten. Und von meiner Ausbildung zum Pfarrer her beschäftigt mich besonders das Raum und Zeit enthobene gesprochene Wort, das genauso im Nu artikuliert wie verklungen ist. Wohl deshalb ist mir die Wort-Gottes-Theologie immer besonders sympathisch gewesen. Denn ihr Anliegen ist es, in den binären Gegenüberstellungen von Gott und Mensch, Frage und Antwort, Ja und Nein jene dritte Dimension von Gottes Wort hörbar zu machen, mit der es Menschen ins Herz trifft.

Es war für mich deshalb ein Stich ins Herz dieser Theologie, als der Göttinger Theologe Joachim Ringleben vor einigen Jahren nachwies, dass die dogmatische Bestimmung dieses Wortes (Gottes) als mensch­gewordener Logos oder als biblischer Kanon die Theologie in die Sprachlosigkeit führt, weil sie an der Sprache selbst als wichtigster Humanressource vorbeigeht. Die Theologie verliert dann den erstmals von Augustin Ende des vierten Jahrhunderts gesponnenen, im evangelischen Bereich aber nach Luthers deutschen Musterpredigten (Sermonen) 1519 abgerissenen Faden, dass Worte in den Menschen nicht kognitiv, sondern affektiv als innere Bilder wirken, in denen sie sich selbst unter dem Eindruck dessen erleben, was die Worte besagen. Ich komme zum Schluss dieses Aufsatzes darauf zurück.

In dieser Situation wird der Theologie Hilfe von unerwarteter Seite zuteil. Ich denke an Sprachkünstler des „spoken word“ aus der Welt des Poetry Slam, die in ihrer Wort-Kunst die falsche Alternative von E und U überwinden und so die Voraussetzungen für ein Priestertum aller Gläubigen in der Poetry schaffen, so dass zwischen denen, die sie schreiben, und denen, die sie lesen oder hören, die gleiche Wellenlänge herrscht und die Worte wirklich ins Herz treffen können. Bei mir war es zum Beispiel ein Vers der früheren Slammerin Julia Engelmann, der sich festhakte, vielleicht weil er passenderweise selbst von Herzen handelt: „und wenn sie brechen, sind sie offen“ (Keine Ahnung, was für immer ist, 2020).

Bei Julia Engelmann steht dieser kurze Satz in Klammern, als wäre er eine Nebensächlichkeit, doch mich ließ der Gedanke nicht los: Dass jemand das eigene Herz öffnet, macht diesen Menschen nicht allein verwundbar (was man dann, wenn es eintrifft, wohl gebrochenes Herz nennt), sondern hat diese Verwundbarkeit sogar zur Bedingung („wenn sie brechen …“). Es ist diese rückhaltlose Mitmenschlichkeit, ein Menschsein sozusagen mit offenem Visier, womit jener Vers mich anzog.

Seitdem der Blogger Kai Thrun im Januar 2014 ein Video von Julia Engelmanns Auftritt beim Bielefelder Hörsaal-Slam des Vorjahres repostete, hat sie mit ihren Texten über das Lieben und das Leben der eigenen Träume, inzwischen auch mit eigenen Songs („Bauchgefühl“), ein Millionenpublikum erobert; im August dieses Jahres erschien ihr achtes Buch innerhalb von acht Jahren. Allein auf Instagram folgen ihr 365 000 User, die Verse wie die folgenden (aus ihrem Bielefelder Erstling „One day/Reckoning Text“) liken: „Lass mal an uns selber glauben / ist mir egal, ob das verrückt ist! / Wer genau guckt, sieht, / dass Mut auch bloß ein Anagramm von Glück ist“ (Eines Tages, Baby, 2014).

Gefühl einer Generation

Im Klappentext ihrer ersten Anthologie, die Ende 2021 beim Münchner Verlag Wilhelm Goldmann erschien, wird Julia Engelmanns Erfolg damit erklärt, dass die 1992 geborene und in Bremen aufgewachsene Autorin das „Lebensgefühl einer ganzen Generation“ zum Ausdruck bringt. Das ist die „Generation Y“, deren verbindendes Merkmal, mit einem Begriff des Jugendforschers Klaus Hurrelmann gesprochen, die „Multioptionalität“ ist, also die Qual der Wahl beim Finden des eigenen Lebensweges. Die um die Wende 1989/90 Geborenen können alles werden und rätseln gerade darum, was sie sind. Julia Engelmanns Antwort: „Wir können alles sein, Baby“ (so der Titel ihres zweiten Gedichtbandes, 2015) spießt genau dieses zwiespältige Lebensgefühl mit seinem Zagen und seiner Großspurigkeit auf: Denn dieses Alles ist wörtlich zu nehmen, also (auch) auf das All zu beziehen. Es ist kaum Zufall, dass kosmologische Symbole in Julia Engelmanns Poetry eine große Rolle spielen, und zwar nicht nur in den Worten, sondern auch in ihren eigenen Buchillustrationen. Alle Buchcover zeigen ein Pärchen inmitten von Sternen oder Kometen, und in der Gestaltung sparsam gehalten, erinnert dieser Sternenregen ganz bewusst an Konfetti, das in etlichen ihrer Gedichte zitiert wird, und das Szenario eines Poetry Slam wachruft, wo über den Sieger, der mit dem Vortrag eines eigenen, fünf bis sieben Minuten Lesedauer nicht übersteigenden Textes das Publikum am meisten überzeugt hat, Konfetti gestreut wird.

Offensichtlich geht es Julia Engelmann bei derartigen Himmelssymbolen nicht um eine jenseitige Macht oder Wirklichkeit, nicht um Gott, die Engel oder das ewige Leben. Wer in ihren Texten thematisch nach solchen Sedi- oder Rudimenten christlichen Weltwissens sucht, wird vielleicht da und dort fündig, aber wird mit der Brille, die er ihren Texten überstülpt, nur die eigenen religiösen Vorurteile bestätigt finden. Hingegen, dass ein und dieselbe Symbolik mehrfache und teils widersprechende Assoziationen freisetzt, das macht diese Poetry für eine Theologie, die (wie eingangs erwähnt) zu begrifflicher Vereindeutigung der Worte neigt, wider Willen ungemein anziehend. Sterne zum Beispiel symbolisieren die Weite des Kosmos, die Menschen beflügeln und neugierig machen kann wie die lyrischen Protagonisten, die in Julia Engelmanns Texten auf Hausdächer steigen (wie in „One Day/Reckoning Text“) oder aus Fenstern in den Himmel blicken („Für sie“; „Löwenherz“). Aber dieselbe kosmische Weite gibt dem eigenen Ich womöglich gerade in der Gemeinschaft mit einem geliebten Du auch das Gefühl, klein und isoliert zu sein („Keine Ahnung, ob das Liebe ist“).

Als Theologe fällt einem dazu vielleicht Psalm 8,4f. ein: „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du gemacht hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ Dieselbe Symbolik funktioniert aber auch abseits solch hoher Theologie mit Konfetti, dem schon erwähnten Party-Accessoire einer schönen Scheinwelt, die das lyrische Ich zwar unbehaust lässt („High Society“), aber beim Aufbruch doch in heftige Katerstimmung versetzt („Ich geh zu früh von Partys weg“) – „glücksverkatert“, wie der glänzend gewählte Titel von Julia Engelmanns (corona-bedingt abgesagter) Deutschlandtournee im Mai 2022 lautete. Manche dieser Symboliken sind popkulturelle Gemeinplätze geworden wie der melancholische Autorücksitz, wenn die Party vorbei ist (zum Beispiel in Max Giesingers Lied „Taxi“). Oder beim Thema zwischenmenschlicher Beziehungen ist Julia Engelmann („Für meine Mutter“; „Junges Unglück“) in stillem Einklang mit dem Singer-Songwriter Johannes Oerding („Kreise“), der die Vorstellung, dass dysfunktionales Beziehungsverhalten die Partner in einer Liebe, die sich nur im Kreis dreht, letztlich auch wieder zueinander führen werde, selbstironisch als „Poesie an der Wand auf dem Kneipenklo“ bezeichnet.

Doch was heißt schon Gemeinplatz? Die Symbolfreude, mit der Julia Engelmann poetisch zu Werke geht, gibt der Leserschaft Worte, das eigene Lebensgefühl besser auszudrücken, als man es selbst könnte. Theologen und Theologinnen könnten sich an die Psalmen erinnert fühlen, deren vage Situationsschilderungen möglichst vielen Betern erlauben sollen, darin „sich selbst zu entdecken“ (Ingo Baldermann). Die große Anschlussfähigkeit dürfte ein Schlüssel zu Julia Engelmanns literarischem Erfolg sein, hat ihr aber andererseits in manchen Feuilletons den Vorwurf der Oberflächlichkeit von Kalendersprüchen eingetragen. Ich halte dagegen, dass Julia Engelmanns Sprüche offensichtlich existenzielle Tiefe besitzen, denn wie sonst soll man zum Beispiel erklären, dass Menschen sich diese tätowieren lassen? Eine Kirche und Theologie, die auf die biografische Eindrücklichkeit von Tauf- oder Konfirmationssprüchen setzt, kann von solcher Prägekraft nur träumen. Als Erklärung kann dienen, dass in Julia Engelmanns Poetry (nach meinem Eindruck) existenzielle Ambivalenzen walten wie die, dass (durchaus gegen den Augenschein) ihr Megathema „Lieben“ heißt: „loslassen können“ – um es einmal in den Worten von Wolfdietrich Schnurre zu sagen, die mich nicht mehr losgelassen haben, seit ich sie als Sextaner erstmals im Deutschbuch las.

Existenzielle Tiefe

Die Bereitschaft loszulassen, was einen nicht loslässt, verrät keinen spezifisch theologischen Begriff von Liebe, doch stünde er einer Theologie, die von der keine Gegengabe erwartenden Liebe Gottes ausgeht, gut zu Gesichte. Dass solche Liebe nicht an der Oberfläche bleibt, zeigt paradoxerweise besonders ein Gedicht mit dem Titel „Ich lass das alles doch nicht los, bist du verrückt?“ In ihm werden Stilmerkmale, ja regelrechte Textstrategien sichtbar, die jenseits einzelner Sprüche dafür verantwortlich sind, dass Julia Engelmanns Gedichte aus der Zweidimensionalität von Buch oder Handydisplay heraustreten wie der Filmheld aus der Kinoleinwand in Woody Allens Klassiker „The Purple Rose of Cairo“. Diese Gedichte vermögen, die direkte Interaktion, die Julia Engelmanns Herkunftsformat des Poetry Slam auszeichnet, in das klassische Genre des Gedichtbandes zu übertragen. Dass die sprachlos gewordene Worttheologie von solchen Textstrategien lernt, ist das Ziel des ersten theologischen Forschungsprojektes zu Julia Engelmann, das ich derzeit vorbereite.

Zu den leserorientierten Textstrategien zählen neben den zur Deutung einladenden Himmelssymboliken auch Mitmachimpulse wie die Ermunterung zu eigener Textproduktion (im „Club der stillen Poet:innen“ vor allem auf Instagram) oder das Daumenkino, mit dem Julia Engelmann mehrere Gedichtbände ausgestattet hat und das, wenn man es abblättert, den Gedichten der Bände eine andere Geschichte wie einen Kommentar zur Seite stellt. Von besonderem Gewicht dürfte aber das lyrische Du sein, wie ich es nennen möchte, das in einer ganzen Reihe von Gedichten etwa ab der Textmitte auftaucht. Wie das lyrische Ich nicht mit dem Ich der Autorin gleichzusetzen ist, ist auch das lyrische Du kein reales Gegenüber, wohl aber transparent für ein solches, doch ist es zugleich auch eine innere Stimme, mit der das lyrische Ich im Austausch ist (another me). Damit steht das lyrische Du an der Schnittstelle von Innen- und Außenwelt sowie von gedachter und realer Interaktion, und diese spezielle Position dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass Julia Engelmann ihr Publikum besonders bei den Wünschen und Träumen, aber auch manchen Tabuthemen und -problemen auf dem Gebiet zwischenmenschlicher Beziehungen erreicht.

Warum das lyrische Du das vermag, hat der Blogger Kai Thrun schon 2014 mit Hinweis auf das damalige Real-Beauty-Sketches-Projekt des Kosmetikkonzerns Dove angedeutet. Bei diesem Projekt zeichnet ein Gerichtszeichner dieselbe Person einmal auf deren Selbst- und einmal auf eine Freundesbeschreibung hin. Das Du enthüllt in diesem Projekt (und analog als lyrisches Du) dem Ich eine andere als die eigene Sicht auf es selbst, die fortan zur positiven Orientierung der eigenen Wahrnehmung wird; es sieht nun „die Welt mit deinen Augen“, um es mit dem Titel von Julia Engelmanns jüngstem Gedichtband zu sagen. Mag auch die Antwort auf viele existenzielle Fragen, die Julia Engelmann zum Beispiel in dem Gedicht „Sag mir, wer“ stellt, „immer: Ich“ lauten (Wir können alles sein, Baby, 2015), so ist es doch dieses Ich im Spiegel des (lyrischen) Du. Ich vermute, dass auch all das, was sie zum Thema Liebe zu sagen hat, aus dieser Quelle geschöpft ist. Julia Engelmanns Gedichte erinnern in immer neuen Sprachbildern daran, dass jedes Ich ein Du als Resonanzraum braucht, in dem allein seine Worte, Gefühle und Gedanken Sinn ergeben. Von solcher Wortkunst kann sich auch die Theologie des Wortes an ihren vor Langem gerissenen roten Faden erinnern lassen (1 Korinther 13,12), dass Liebe vom Geliebtwerden lebt. 

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