Perspektivreich

Reiz des Einfachen

Fundamentalistisch ist, wer sich dem Reiz des Einfachen hingibt. So legt es der Untertitel dieses interdisziplinären Sammelbands („Vom Reiz des Einfachen in Religion, Politik und Wissen“) nahe, der auf eine 2017 in der Wittenberger Leucorea veranstaltete Tagung zurückgeht. Angesichts der Komplexität unserer krisengeschüttelten Welt werden die meisten wenigstens zeitweise Zuflucht bei einfachen Antworten gesucht haben. Die Stärke des von Constantin Plaul, Marianne Schröter und Christian Senkel herausgegebenen Buchs liegt darin, dass die elf Beiträge darin ausdrücklich selbst nicht der allzu simplen Auffassung folgen, allein die anderen könnten fundamentalistisch sein. Noch der liberalen „Kritik des Fundamentalismus“ eignet vielmehr „ein Moment, das diesem ähnlich ist“, wie Jörg Dierken überzeugend herausarbeitet.

Der Abweis jener tendenziell gewalttätigen Absolutsetzung etwa politischer oder religiöser Sichtweisen mag moralisch legitim sein: Es wird damit aber eine Position geltend gemacht, die auf Fundamenten normativer Art fußt. Dies gilt im Übrigen auch für den modernen Rechtsstaat, der nach Hendrik Munsonius’ subtiler Argumentation „einen eminent fundamentalistischen Zug aufweist“, weil er Recht nötigenfalls per Zwang gegen den beispielsweise religiös begründeten Widerwillen seiner Bürgerinnen und Bürger durchsetzen kann. Aus dem „Paradox, […] dass die Bestreitung von Fundamentalismus ihrerseits nur von bestimmten Grundannahmen aus möglich ist“, leiten Dierken und Munsonius jedoch nicht die relativistische Aufgabe dieser Grundannahmen ab. Sie plädieren völlig zurecht für einen freien Meinungsstreit über die immer wieder neu zu vergegenwärtigenden Grundlagen unseres Zusammenlebens.

Ganz in diesem Sinne fordert Jens Hacke am Ende seiner ideenreichen Analyse die „liberale Demokratie“ ob der aktuellen fundamentalistischen Bedrohung dazu auf, „ihr Fundament zu befestigen“ und das „selbstverständlich Gewordene […] zur gemeinsamen Sache zu machen, ohne einer ans Fundamentalistische grenzenden Selbstzufriedenheit […] zu erliegen“. Als exemplarisch für solche Selbstzufriedenheit kann der öffentliche Umgang mit jenen „besorgten Bürgern“ gelten, die Ende 2014 in Dresden gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlands“ zu demonstrieren begannen.

Stefan Locke, FAZ-Korrespondent für Sachsen und Thüringen, erinnert in seinem lesenswerten Beitrag daran, wie eilig eingeflogene „Fallschirmjournalisten“ damals ein stark vereinseitigendes Bild von den Geschehnissen vor Ort zeichneten, indem sie den Fokus gezielt auf die unters Volk gemischten Rechtsextremen legten. Wie die selbsternannten Verteidiger des Abendlands verfielen auch sie dem Reiz des Einfachen.

Dessen Verführungskraft liegt aus Constantin Plauls schlüssiger Sicht im fundamentalistischen Versprechen einer stabilen, weil durch Andersheit und Differenz unangefochtenen Identität begründet. Unter den pluralistischen Bedingungen der Moderne lässt sich ein solches Selbstsein jedoch nur im zwanghaften Anrennen gegen „alle entgegenstehenden Prägungen, Einflüsse und Motive“ stabilisieren. Der Versuch, durch Abwertung des Anderen das eigene Selbstbild zu stärken, mag schon länger Tradition haben, wie Malte van Spankerens gelehrte Studie zu Luthers und Melanchthons Aussagen über Islam und Muslime zeigt. Dennoch gehört das Phänomen Fundamentalismus in den Kontext der Moderne, deren zunehmende Komplexität die gegenläufige Sehnsucht nach festem Grund und Halt gebiert. Diese religionsaffine Sehnsucht ist aber nicht per se zu verurteilen.

Vielmehr macht sie auf die „Denk- und Lebensdienlichkeit von Fundamentalem“ aufmerksam, der sich die Beiträge von Markus Buntfuß, Arne Lademann und Christian Senkel widmen. Dabei geht es um die komplexitätsreduzierende Orientierungskraft elementarer Glaubensaussagen, kulturell vorgeprägter Deutungsschemata und religiös-ästhetischer Imagination. „Fundamentalismus“ lässt sich vor diesem Hintergrund als „eine Destruktionsform des Fundamentalen“ verstehen: Anstatt in der herausfordernden Vielfalt moderner Lebensbezüge zu orientieren, soll es diese durch sterile Eindeutigkeit ersetzen. Auch die christliche Religion vermag fundamentalistischer Einfachheit den Boden zu bereiten oder zu einem fundierten Umgang mit Differenzen zu befähigen. Wer Letzteres befördern will, sollte aber bei sich selbst anfangen, bevor er auf die anderen schaut. Dazu ermuntern die in diesem perspektivenreichen Band versammelten Texte.

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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