Auf einem langen Weg

Stationen der Ökumene bis zur Vollversammlung des Weltkirchenrats in Karlsruhe 2022
Agnes Aboum, Moderatorin des Zentralkomitees des Ökumenischen Rates der Kirchen, begrüßt Albert van den Heuvel, der 1948 als Steward an der ersten Ökumenischen Vollversammlung in Amsterdam teilnahm, bei der Jubiläumsfeier im August 2018.
Foto: Albin Hillert/WCC
Agnes Aboum, Moderatorin des Zentralkomitees des Ökumenischen Rates der Kirchen, begrüßt Albert van den Heuvel, der 1948 als Steward an der ersten Ökumenischen Vollversammlung in Amsterdam teilnahm, bei der Jubiläumsfeier im August 2018.

Anlässlich der Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe beschreibt die Ökumene-Expertin Katharina Kunter, Professorin für Kirchliche Zeitgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki, wichtige Stationen der Bewegung der vergangenen einhundert Jahre.

Wer heute zum ersten Mal nach Genf kommt und an der Promenade des Genfer Sees entlang spaziert, spürt rasch: Genf ist eine Stadt der stabilen Finanzkraft, des gediegenen Luxus und der professionellen Internationalität. Die Reformation calvinistischer Prägung, die sich von hier aus mit Jean Calvin seit dem 16. Jahrhundert weltweit verbreitete, trug dazu ebenso bei wie der ausgeprägte Bürgersinn der Genfer Bevölkerung. In Genf wurde 1863 das Internationale Rote Kreuz gegründet, hier wurden die Genfer Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten angenommen. 1920 trat in Genf zum ersten Mal der Völkerbund zusammen. Die Hoffnung auf den Weltfrieden, das Vertrauen, zukünftig mit gemeinsamen diplomatischen Anstrengungen Kriege verhindern zu können, beseelte die Stadt und machte sie in den 1920er-Jahren zum neuen Zentrum des Internationalismus.

In diese Atmosphäre des Aufbruchs kam 1924 der junge niederländische Theologe Willem Visser’t Hooft (1900 – 1985). Er war der neue Sekretär des YMCA, der internationalen Dachorganisation des Christlichen Vereins Junger Menschen. Visser’t Hooft ließ sich vom Geist der Konferenzdiplomatie und der Völkerfreundschaft anstecken. Er organisierte und moderierte internationale Kirchentagungen, netzwerkte und begeisterte mit seinem theologischen Enthusiasmus zahlreiche junge Menschen für ein transnationales Christentum. Schnell machte er Karriere. 1929 wurde er Generalsekretär des Christlichen Studentenweltbundes, 1938 Generalsekretär eines neu zu gründenden Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK).

Grenzen diplomatischer Gespräche

Visser’t Hooft war im richtigen Moment an der richtigen Stelle. Politisch erlebte er in Genf die Blütezeit des Völkerbundes mit und sah, wie transnationale Zusammenarbeit politisch konkret gestaltet werden konnte. Zugleich lernte er in den 1920er- und 1930er-Jahren mit dem Aufkommen der totalitären Bewegungen in Europa die Grenzen diplomatischer Gespräche und idealistischer Weltwahrnehmung kennen. Aus dieser Zeitzeugenschaft leitete er sein Credo ab: Die Ökumene müsse einen christlichen Realismus und keinen internationalen Idealismus vertreten.

Doch nicht nur der Standort Genf war dynamisch. Auch in seinen Arbeitsfeldern gab es Bewegung. Hier kam Visser’t Hooft mit jungen Menschen und charismatischen Theologen wie dem Amerikaner John R. Mott zusammen, die sich leidenschaftlich für Evangelisierung und ein dynamisch wachsendes, grenzenloses und erneuertes Christentum einsetzten. Viele von ihnen hatten bereits an der ersten Weltmissionskonferenz vom 14. bis 23. Juni 1910 in Edinburgh teilgenommen. Sie war damals mit ihren 1400 Vertretern aus 159 verschiedenen protestantischen Missionsgesellschaften aus der ganzen Welt die größte ökumenische Kirchenversammlung ihrer Zeit – und selbstredend aus heutiger Perspektive eine von kolonialen Vorstellungen geprägte, paternalistische Veranstaltung des protestantischen Westens. Hier wurden jedoch viele neue Freundschaften und Netzwerke geschlossen. Diese beflügelten auch den Christlichen Studentenweltbund. Er besaß in den 1920er-Jahren weltweit mehr als 3 000 Gruppen mit 300 000 Mitgliedern und entwickelte sich zu einer wichtigen Stütze der Ökumenischen Bewegung. Aus seinen Kreisen wuchs eine neue Generation von ökumenischen Theologen und Kirchenvertretern heran, die die Einheit des Christentums vorantreiben wollten, einerseits durch vertiefte dogmatische und theologische Arbeit, andererseits durch ein stärker zur Welt orientiertes sozialethisches Engagement. Erstere trafen sich in der Bewegung „Glaube und Kirchenverfassung”, Letztere in der Bewegung „Praktisches Christentum”. Beide arbeiteten zunächst unabhängig. Erst 1937 wurde beschlossen, dass diese beiden Zweige der Ökumenischen Bewegung zu einem gemeinsamen ökumenischen Rat von Kirchen fusionieren sollten. Ein vorläufiges Komitee sollte die Gründung dieses neuen Kirchenrates mit Sitz in Genf vorbereiten; als zukünftiger Generalsekretär wurde Willem Visser’t Hooft bestimmt. Wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges 1939 musste die Gründung jedoch erst einmal verschoben werden.

Pazifismus als logische Konsequenz?

Als dann nach Kriegsende, im August 1948, endlich die seit langem vorbereitete Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam stattfand, war der Zweite Weltkrieg mit seinen Bomben und seiner grausamen Zerstörungskraft noch unter den Teilnehmern präsent. Viele der über 800 Teilnehmer hatten die Realität des Krieges miterlebt: Tote, Verletzte, der Holocaust, Flüchtlinge und Displaced Persons, Hunger, Verzweiflung und Zerstörung. Was konnte die Ökumene angesichts dieses humanitären Desasters Ermutigendes und Sinnvolles in die Welt geben? Grundlegende ethische Überzeugungen waren in Frage gestellt. Konnte es noch so etwas wie einen gerechten Krieg („just war“) geben? War der christliche Pazifismus nicht die logische Konsequenz aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges?

Das war die eine der großen Fragen, der sich der neue Ökumenische Rat unter der Leitung seines sich jetzt auch offiziell im Amt befindlichen Generalsekretärs Willem Visser’t Hooft zu stellen hatte. Sie wurde in Amsterdam intensiv diskutiert. Drei unterschiedliche Positionen schälten sich heraus – wobei die pazifistische Haltung als letzte genannt wurde. Die Differenzen waren groß. Als kleinsten gemeinsamen Nenner konnte man sich nur auf die Aussage „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ einigen.

Zugleich tagte die Vollversammlung 1948 im Schatten eines neuen aufziehenden Krieges, des Kalten Krieges. Ende 1948 hatten die Kommunistischen Parteien in Mittel- und Osteuropa die Macht übernommen. Die Durchsetzung des stalinistischen Sowjetmodells begann. Der Ideologie des Marxismus-Leninismus entsprechend wurden Christen und Kirchen systematisch aus dem öffentlichen Leben gedrängt, unterdrückt, verfolgt. Auf der geopolitischen Ebene kam es zum globalen Wettlauf der beiden Supermächte, der USA und der Sowjetunion. Wer bot die überzeugendere internationale Ordnung an? Die Sowjetunion mit ihrem Kommunismus und Kollektivismus oder die USA mit ihrem Liberalismus, Individualismus und Kapitalismus?

Die Positionierung des Ökumenischen Rates in der sich abzeichnenden Bipolarität der Welt war das zweite große Thema in Amsterdam. Visser’t Hooft setzte, wie schon in den 1930er-Jahren gegenüber den Deutschen Kirchen, auf den „Goldenen Mittelweg“. Er hatte deshalb zwei diametral sich gegenüberstehende Persönlichkeiten als Hauptredner eingeladen: den amerikanischen Politiker (und späteren Außenminister) John Foster Dulles und den tschechischen Theologen Josef Hromádka. Während Dulles für eine freie Gesellschaft und für die individuellen Menschenrechte warb, interpretierte Hromádka gerade diese bürgerliche Westlichkeit des Christentums als Hauptursache von Nationalismus und Krieg. Für ihn war klar, dass sich Europa und die Kirchen nur durch den Sozialismus und den Kommunismus erneuern könnten.

Doch welchen Weg sollte die Ökumene gehen? Der Abschlussbericht hielt fest: Die Kirchen sollten beidem widerstehen, dem Kommunismus und dem Laissez-faire-Kapitalismus. Stattdessen sei es die Verantwortung der Christen, nach neuen kreativen Lösungen zu suchen, die es weder der Gerechtigkeit noch der Freiheit erlauben, die jeweils andere zu zerstören.

Die mit der Dekolonisierung in Gang gesetzten revolutionären globalen Umbrüche erreichten den Ökumenischen Rat, als er sich 1961 zu seiner Vollversammlung in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi traf. Es herrschte Aufbruchstimmung, neue Kirchenvertreter aus Asien, Afrika und Lateinamerika waren präsent. Eine dieser neuen charismatischen Stimmen war der indische Theologe Madathilparampil Mammen (M. M.) Thomas aus der syrisch-orthodoxen Mar-Thoma-Kirche. Beeinflusst von Mahatma Gandhi und der indischen Unabhängigkeitsbewegung war er zeitweilig sogar Mitglied der Kommunistischen Partei. Er war überzeugt: Christen müssten sich aus sozialer Verantwortung gemeinsam mit Nichtchristen für eine humane Gesellschaft und den Aufbau von Nationen in der sogenannten Dritten Welt einsetzen; es dürfe keine Trennung mehr von Mission und Humanismus geben. Dazu passte, dass in Neu-Delhi der 1921 gegründete Internationale Missionsrat, der bis dahin ein institutionell unabhängiger Flügel der Ökumenischen Bewegung war, in den Ökumenischen Rat integriert wurde. Viele begrüßten diesen Schritt: Endlich sei die Verbindung zwischen missionarischer und kirchlicher Ökumene geglückt. Mission sei nicht länger eine imperialistische und koloniale Aktivität, die von Europa und Nordamerika ausgehe, sondern ein Ziel für alle sechs Kontinente, wie es die siebte Weltmissionskonferenz in Mexiko-Stadt wenig später formulierte.

M. M. Thomas und zahlreiche andere ökumenische Theologen, wie etwa der Brasilianer Paolo Freire oder Julio de Santa Ana aus Uruguay, faszinierten und inspirierten die ökumenischen Diskussionen in den 1960er- und 1970er-Jahren. Es gab Kontroversen zur „Theologie der Revolution” und dem 1969 eingeführten „Programm zur Bekämpfung des Rassismus”, das vor allem afrikanische Befreiungsbewegungen humanitär und finanziell unterstützen sollte. Der Ökumenische Rat veränderte sich. Er verlor sein Image als Ort der distinguierten, westlich geprägten Kirchendiplomatie. Partizipation, sozialrevolutionäre Bewegung und identitätspolitische Aktion traten in vielen Bereichen an seine Stelle. Sichtbarster Ausdruck dieses Paradigmenwechsels war die Wahl des dritten Generalsekretärs Philip A. Potter 1972. Er stammte von der Karibikinsel Dominica, die damals noch unter britischer Kolonialherrschaft stand, und wurde der erste nicht-weiße Generalsekretär.

Zugleich erweiterte sich der Ökumenische Rat konfessionell: 1961 wurden 23 neue Kirchen aufgenommen, darunter elf neue Kirchen aus Afrika, fünf aus Asien sowie drei aus Lateinamerika (darunter zwei chilenische Pfingstkirchen) und der Karibik. Das umstrittenste Thema war jedoch die Aufnahme der Russisch-Orthodoxen Kirche sowie der orthodoxen Kirchen Bulgariens, Rumäniens und Polens. Visser’t Hooft hatte die Mitgliedschaft der Russisch-Orthodoxen Kirche selbst entscheidend vorangetrieben. Doch es gab Kritik: Inwieweit ließ sich der Ökumenische Rat nun von Moskau politisch instrumentalisieren? Wer war die Russisch Orthodoxe Kirche überhaupt? Würde eine Mitgliedschaft den verfolgten Glaubensmitgliedern an der Basis überhaupt helfen? Diese Fragen wurden 1975 auf der Vollversammlung in Nairobi noch einmal in aller Schärfe gestellt, als zwei Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche den Ökumenischen Rat in einem offenen Brief baten, die Verletzung der Religionsfreiheit in der Sowjetunion offiziell zu verurteilen. Der Ökumenische Rat war in einem Dilemma: Sollte er gegen den Willen seiner Mitgliedskirche offiziell zur Verletzung der Religionsfreiheit in der Sowjetunion Stellung nehmen? Die Vollversammlung wich dem Konflikt aus und formulierte schließlich nur, dass die angebliche Verweigerung der Religionsfreiheit diskutiert worden sei. Ein Ergebnis dieses Kurses war, dass die sich zur gleichen Zeit formierenden oppositionellen Christen in Mittel- und Osteuropa vom Ökumenischen Rat aus Rücksichtnahme auf ihre staatsnahen Kirchenleitungen nicht unterstützt wurden.

Chance ergreifen

Der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa 1989/90 und der Zerfall der Sowjetunion 1991 bedeutete das Ende der Nachkriegsordnung und der durch den Kalten Krieg geprägten Weltpolitik. Für den Ökumenischen Rat wirkte dieses wie ein Schock; das lange Zeit tragende antiwestliche Narrativ schien an sein Ende gekommen zu sein. Zwar konnte im Februar 1990 noch das Ende des Apartheidsystems in Südafrika gefeiert werden, zu dessen Fall die ökumenische Welt engagiert beigetragen hatte. Doch in den großen Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte wurde der Ökumenische Rat der Kirchen nur selten außerhalb ökumenischer Expertenkreise in der politischen Öffentlichkeit wahrgenommen.

Die bislang bekannten Vorbereitungstexte für die Vollversammlung sprechen nicht dafür, dass sich dieser Trend in Karlsruhe umkehren wird. Gleichwohl ist aus historischer Sicht klar: So, wie die Vollversammlung des Ökumenischen Rates 1968 in Uppsala mit dem Vietnamkrieg und der Ermorderung Martin Luther Kings im ökumenischen Gedächtnis abgespeichert ist, wird auch die Vollversammlung in Karlsruhe mit dem Ukrainekrieg verbunden sein und bleiben. Die Vollversammlung sollte das als eine echte Chance begreifen, denn hier liegen die ureigenen Anliegen der Ökumenischen Bewegung auf dem Tisch: eine zeitgemäße, verständliche und theologisch fundierte Positionierung zu Krieg und Nationalismus, eine grundlegende Debatte darüber, wie mit Mitgliedskirchen in Diktaturen und autoritären Staaten umzugehen ist, wann, wo und mit wem man sich solidarisch zeigt, was man kirchlich und politisch bereit ist, dem Einheits- und Konsensgedanken zu opfern, und wo die Grenzen des ökumenischen Dialogs liegen.

Aber vielleicht ist es mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen auch so, wie es mit der Stadt Genf ist: Als Wohnsitz schon lange zu teuer, und die alte Glorie der Neutralität trägt nicht mehr. 

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Foto: privat

Katharina Kunter

Prof. Dr. Katharina Kunter, geboren 1968, ist seit 2020 Professorin für Contemporary Church History specifically Nordic Countries and Europe an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Ökumenischen Bewegung sowie die Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas.


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