Unerträglicher surrealer Countdown

Warum zwei Menschen gemeinsam aus dem Leben gehen wollen
Ein Herz mit Initialen: oftmals Ausdruck einer symbiotischen Liebe.
Foto: picture-alliance/Robert Kalb
Ein Herz mit Initialen: oftmals Ausdruck einer symbiotischen Liebe.

Es gab und gibt zu allen Zeiten Situationen, in denen zwei Menschen gemeinsam aus dem Leben gehen wollen. Doch in den vergangenen Jahrzehnten ist das Durchschnittsalter der Suizidenten deutlich gestiegen und die Motive haben sich geändert, wie Herbert Csef beleuchtet. Er war 35 Jahre lang Professor für Psychosomatik und Psychoonkologie am Universitätsklinikum Würzburg.

Im Alter von 83 Jahren schrieb der berühmte französische Soziologe André Gorz einen langen Liebesbrief an seine Ehefrau Dorine. Dieser Brief war ihm ein persönliches Herzensanliegen. Freunde, die diesen Brief gelesen haben, ermunterten oder bedrängten ihn, diesen Liebesbrief in Buchform zu veröffentlichen. André Gorz hatte diesen Brief in der Zeit vom 21. März bis 6. Juni 2006 geschrieben, und im selben Jahr ist dieser im französischen Original erschienen. Die deutschsprachige Übersetzung folgte ein Jahr später im Schweizer Rotpunktverlag. Das Buch beginnt mit den Sätzen:

„Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden. Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag.“

Den prosahaften Schilderungen des Kennenlernens folgen fast philosophisch anmutende Reflexionen über den Sinn und den Bund der Ehe. Es folgen nach der Hochzeit Jahrzehnte, die zeigen, wie André und Dorine ihre große Liebe in der Realität des Lebens gestalteten. Die letzten fünfzehn Seiten handeln von den leidvollen Jahrzehnten. In den 1970er-Jahren musste sich Dorine einer Bandscheibenoperation unterziehen. Dabei wurde – vermutlich ein Kunstfehler – ein Kontrastmittel verwendet, das schwere Erkrankungen im Rückenmark (Arachnoiditis) auslösen kann. Für Dorine folgten viele Jahre mit unerträglichen Schmerzen. Schließlich wurde bei ihr auch noch Gebärmutterkrebs diagnostiziert und eine erfolgreiche Operation ausgeführt. Die Schmerzzustände persistierten und wurden schlimmer. Dann entschied sich das Ehepaar, nach fast sechzig Jahren Ehe gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Auf der letzten Seite des Buches wird dieser Schritt angekündigt.

Unglücklich oder verzweifelt

Im letzten Absatz des Buches heißt es: „Nachts sehe ich manchmal die Gestalt eines Mannes, der auf einer leeren Straße in einer öden Landschaft hinter einem Leichenwagen hergeht. Dieser Mann bin ich. Und du bist es, die der Leichenwagen wegbringt. Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche bekommen … Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.“

Etwa 15 Monate nach dem Verfassen des Briefes war es so weit. André und Dorine Gorz entschieden sich, ihren Plan in die Tat umzusetzen. In ihrem kleinen, schlichten Haus in dem kleinen Ort Vosnon in der Champagne injizierten sich beide eine Giftspritze – eine Selbsttötungsart, die viele andere prominente Doppelselbstmörder schon angewendet hatten. Der französische Marxist Paul Lafargue und seine Ehefrau Laura, Tochter von Karl Marx, wählten diese Methode für ihr gemeinsames Sterben im Jahr 1911.

André und Dorine hatten sich zuvor intensiv mit anderen Doppelsuiziden auseinandergesetzt, auch jenem des britischen Schriftstellers Arthur Koestler und seiner Ehefrau Cynthia. Von diesem Paar übernahmen sie die Handlung, an die Haustür einen Zettel zu hängen mit der Aufforderung, die Polizei zu rufen. Zwei Tage nach ihrem Tod fand eine Freundin den Zettel an der Tür und rief die Polizei.

Es gab und gibt zu allen Zeiten Situationen, in denen zwei Menschen gemeinsam aus dem Leben gehen wollen. Meistens sind sie gerade sehr unglücklich oder verzweifelt, fühlen sich in einer ausweglosen Situation, einer oder beide sind todkrank oder beide sind vitalen Bedrohungen oder Verfolgungen ausgesetzt. Die Entscheidung, gemeinsam das Leben zu beenden, bedeutet immer eine Entscheidung gegen einen natürlichen Tod. Gemeinsam sterben geht eben nicht als natürlicher Tod. Folglich muss das Paar selbst „Hand an sich legen“ – wie es der bekannte Selbstmörder Jean Améry formulierte. Das wäre ein Doppelsuizid in Eigenregie. Die andere Möglichkeit des gemeinsamen Sterbens ist der assistierte Doppelsuizid, der meist durch eine Sterbehilfeorganisation durchgeführt wird. Diese Variante existiert weltweit erst seit einigen Jahrzehnten. Eine dritte Möglichkeit ist das gemeinsame Sterbefasten.

Doppelsuizide machen in allen westlichen Ländern seit Jahrzehnten etwa ein bis zwei Prozent aller Suizidfälle aus – das sind etwa 150 Doppelsuizide pro Jahr in Deutschland. Über Doppelsuizide wird ausführlich berichtet und geschrieben, wenn diese von berühmten Persönlichkeiten durchgeführt werden. Über den Doppelsuizid von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel aus dem Jahr 1811 oder den von Stefan und Charlotte Zweig im Jahr 1942 wird nach Jahrhunderten noch ausführlich diskutiert.

Die Suizidforschung zur Phänomenologie des Doppelsuizids hat eindeutig ergeben, dass es in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Wandlung gegeben hat: Das Durchschnittsalter der Suizidenten ist deutlich gestiegen, und die Suizidmotive haben sich geändert. Vor Jahrzehnten lag das Durchschnittsalter bei etwa dreißig Jahren, jetzt beträgt es über sechzig Jahre. Der Doppelsuizid wird also zunehmend eine Todesart des höheren Lebensalters. Die Hauptmotive sind schwere oder lebensbedrohliche Erkrankung eines oder beider, unerträglich erlebtes Leid, starke, schwer behandelbare Schmerzen, Einsamkeit und Depressionen.

Der natürliche Tod wäre für das kranke alte Ehepaar das schicksalsergebene Warten auf den Tod. In Umfragen in der Allgemeinbevölkerung möchten etwa achtzig Prozent der Deutschen, dass dies zu Hause, in den eigenen vier Wänden, unter Begleitung der Familie geschieht. Die meisten Menschen sterben jedoch in einem Krankenhaus, auf dem Transport oder in einem Heim. Nur etwa zwanzig Prozent der Sterbenden wird ihr letzter Wunsch erfüllt, zu Hause im Kreis der Familie sterben zu dürfen. In der Forschung wird dieses erschreckende Faktum „Sterbeort-Paradox“ genannt: Achtzig Prozent wollen zu Hause sterben, nur zwanzig Prozent wird dieser Wunsch erfüllt.

Die Suche nach Alternativen bei jenen, die sich frühzeitig Gedanken über Lösungen machen, bringt jeweils ernüchternde Erkenntnisse hervor. Ein gemeinsames natürliches Sterben gibt es nicht. Für das gemeinsame Sterben braucht man einen „Pakt“, eine gemeinsame Entscheidung und schließlich eine zielgerichtete Ausführung des Planes. Und da beginnen die erheblichen Schwierigkeiten. Bereits die Entscheidung des Paares für das gemeinsame Sterben ist schwierig. Denn der eine will es mehr als der andere. Der eine drängt, der andere zögert. Es gilt schließlich die „Dominanz des Sterbewilligen“. Der Partner stimmt zu. Dann kommt die Frage der Umsetzung des Sterbewunsches. Allein in Eigenregie oder mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation? In Deutschland oder im Ausland? Werden Kinder oder Angehörige in die Entscheidung und Ausführung einbezogen oder nicht? Je mehr Kinder, desto komplexer der Entscheidungsprozess.

Der Doppelsuizid in Eigenregie ist für das kranke alte Paar eine große Herausforderung. Denn das geplante gemeinsame Sterben geht nur über einen Doppelsuizid. Hierbei sind die Gespräche des Paares über die Ausführung bedeutsam. Entweder es wird viel und lange gesprochen oder wenig.

Ein Doppelsuizid ist immer ein gewaltsamer Tod. Die Todesart kann hart oder sanft sein, doch soll sie tödlich enden. Das Ehepaar Jochen und Johanna Klepper tötete sich mit Schlaftabletten und Gas. Andere erschießen oder erhängen sich. Beim Erschießen gibt es meistens einen dominanten Ersttäter, der zuerst den Partner und dann sich selbst erschießt. Das berühmteste Vorbild ist der Suizid von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel in Berlin am Wannsee am 21. November 1811. Kleist tötete zuerst Henriette Vogel mit einem Schuss ins Herz und dann sich selbst mit einem Schuss in Mund und Kopf. Die beiden hatten einen gemeinsamen Suizidplan und Suizidpakt. Aus juristischer und forensischer Sicht war es kein reiner Doppelsuizid, sondern Tötung auf Verlangen mit anschließendem Suizid von Kleist.

Eine weitere Variante ist die gemeinsame und zeitgleiche Injektion von todbringenden Substanzen. Diese Form des Doppelsuizids wird eindrucksvoll im Film „Satte Farben vor Schwarz“ gezeigt, in dem Bruno Ganz und Senta Berger als die Hauptprotagonisten gemeinsam aus dem Leben scheiden. Der berühmte französische Sozialphilosoph André Gorz und seine Ehefrau Dorine begingen ihren Doppelsuizid im Jahr 2007 ebenfalls mit Giftinjektionen.

In den 1980er-Jahren wurden nach entsprechender Gesetzgebung in der Schweiz Sterbehilfeorganisationen gegründet, die auch Doppelsuizide anbieten. Die bekanntesten Organisationen sind Dignitas und Exit. Zahlreiche Ehepaare aus der Schweiz haben diesen Weg des gemeinsamen Sterbens gewählt. Der deutsche Manager und Politiker Eberhard von Brauchitsch und seine Ehefrau waren das erste prominente deutsche Paar, das diese Variante im Jahr 2010 wählte.

In zwei neueren Beispielen des assistierten Doppelsuizids wird deutlich, wie die Kinder eines alten Ehepaares intensiv in den Entscheidungsprozess einbezogen waren und in renommierten Zeitungen darüber berichteten. So schrieb Martin Beglinger, ein Schweizer Journalist der Neuen Zürcher Zeitung, im Jahr 2019 einen eindrucksvollen Artikel über die letzten Jahre seiner Eltern, die schließlich am 14. Dezember 2018 durch einen assistierten Doppelsuizid aus dem Leben gingen. Er beschreibt seine Erlebnisse als Sohn und Hinterbliebener, der den langen mühsamen Weg miterlebt hat.

Enge Symbiose

Zum Zeitpunkt des Suizids war sein Vater 88 Jahre, seine Mutter 85 Jahre alt. Fast siebzig Jahre waren sie ein Paar. Sie hatten immer eng aufeinander bezogen gelebt, es war wie eine enge Symbiose. Beglinger beschreibt dies mit dem Bild „wie zwei miteinander verwachsene Bäume“. Im Jahr 2015 wurde sein Vater wegen einer Darmkrebserkrankung operiert und erhielt einen künstlichen Darmausgang (Stoma). Die Mutter pflegte und umsorgte den Vater. Im Oktober 2018 wurde sie selbst wegen schwerer Osteoporose und Wirbelkörpereinbrüchen zum Pflegefall.

Eine Heimlösung lehnte die Mutter strikt ab und entschied: „Wir werden gemeinsam gehen.“ Sie waren beide schon seit Jahren Mitglied bei Exit und wollten nun einen gemeinsamen assistierten Suizid. Der Ehemann stimmte zu. Nun folgte der Antrag bei Exit. Voraussetzung in der Schweiz ist, dass beide einwilligungsfähig sind, dauerhaft den Sterbewunsch bestätigen und beide schwer krank sind. Bei nicht ausreichend schwer Kranken oder fast Gesunden kann die Sterbehilfe abgelehnt werden. Doch Exit stimmte zu. Das führte zu einer gewissen Erleichterung und Gelassenheit. Jetzt war nur noch das „Wann“ offen – der Zeitpunkt des geplanten Sterbens. Wieder Ungewissheit. Martin Beglinger kommentiert: „Der surreale Countdown ist unerträglich.“

Es folgte das Abschiednehmen von Freunden und Bekannten: Abschiedsbesuche, Abschiedsbriefe, Abschiedstelefonate. Der assistierte Suizid ist ein lang geplantes Ereignis mit vielen Vorbereitungen, ein angekündigtes Sterben. Dies ermöglicht einen „wohlvorbereiteten Tod“, wie er in der christlichen Tradition gelobt wurde. Anders als beim plötzlichen oder unerwarteten Tod nach Herzinfarkt oder Schlaganfall dehnt sich die Zeit. Trotzdem läuft der Countdown unerbittlich. Dann, am letzten Tag: Der Vater hatte in seinen Kalender für den 14. Dezember die Worte „Letzte Reise“ geschrieben. Die Kinder kamen an diesem Freitagmorgen. Die Eltern saßen Zeitung lesend auf dem Sofa. Um zehn Uhr sollte es sein. Die Stunde davor. „Das Leben dauert noch 60, 50, 40, 30 Minuten …“ Die Sterbebegleiter von Exit waren frühzeitig da, hatten alles vorbereitet. In farbigen Plastikmäppchen legten sie die Protokolle für Polizei, Hausarzt und Staatsanwältin auf den Tisch. Martin Beglinger fügt hinzu: „Alles ist bis ins Detail geregelt. Exit als Routine.“

Um 9.55 Uhr kommt die evangelische Pfarrerin. Mit den letzten Worten „Macheds guet“ verschwinden die Eltern mit den professionellen Begleitern hinter der Tür zum Schlafzimmer. Die Kinder warten. Schließlich das Schlussbild: „Die Eltern liegen zum letzten Mal in ihrem Bett, friedlich, Hand in Hand.“ 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"