Erfahrung

Alltagstaugliche Spiritualität

Vieles, was ihr aus der Bibel vertraut war, habe sie erst durch die Achtsamkeitsmeditation ganz von Herzen verstanden, schreibt Helga Ulrich im Vorwort. Thomas Ulrich wiederum erklärt, wie ihm bewusst geworden ist, dass das Christentum nicht nur vom Buddhismus einiges lernen kann, sondern umgekehrt auch die christliche Tradition die Erfahrung der Achtsamkeit bereichert.

Um beides geht es in dem Buch, das von der Achtsamkeitsmeditation ausgehend wesentliche Themen des christlichen Glaubens entfaltet und einen spirituellen Übungsweg beschreibt. Das gelingt dem Autoren-Paar glaubwürdig auf dem Hintergrund jahrzehntelanger eigener Praxis und Reflexion. Beide haben Theologie studiert und sich dann psychotherapeutisch weitergebildet, sind in diesem Rahmen eher zufällig der Vipassana-Meditation begegnet, haben sie bei bedeutenden Lehrern weiter geübt, schließlich in Berlin-Neukölln eine Meditationsgruppe gegründet, die immer noch großen Zuspruch findet. Thomas Ulrich hat als Gemeindepfarrer gearbeitet, Helga Ulrich als Psychotherapeutin: Beide verstehen sich darauf, komplizierte Einsichten auf elementare Weise zu vermitteln, haben die ganz normalen, weder christlich noch buddhistisch besonders eingeweihten Menschen von heute im Blick.

So beginnen sie auch voraussetzungslos mit dem allgemein empfundenen Unbehagen an der Unruhe und dem Getriebensein des alltäglichen Lebens und führen von daher in die Grundlagen der Meditation ein: die Beobachtung des Atems, das Getragensein vom Boden, die Erfahrung des Empfangens und der Verbundenheit im Nichts-Tun. Sie erklären, warum Meditation missverstanden wird, wenn sie, wie inzwischen schon üblich, vor allem der Stärkung der Leistungsfähigkeit oder des Wohlbefindens dient. Weil Empfangen und Verbundenheit sich nicht mit der Idee der Selbstoptimierung vertragen, bleibt es unbedingt wichtig, die Meditation als religiöse Praxis zu verstehen, eine Praxis der Gottesbeziehung, zu der auch das Gebet gehört. Die fünf Übungsweisen, die sie vorstellen, sind darum sowohl Übungen der Meditation als auch des Gebets. Und da ihnen daran liegt, dass Meditation und Gebet nicht als separate Bereiche gelegentlicher Spiritualität missverstanden werden, sondern die Grundlagen einer kontem­plativen Lebenspraxis bilden, widmen sie sich im zweiten Teil ihres Buches ausführlich den damit verbundenen Haltungen: Vertrauen, Interesse und Ehrfurcht. Sie erklären, warum im Christentum Sünde und Schuld relevante Begriffe bleiben und wie Vergebung und Feindesliebe durch die Achtsamkeitsmeditation gewissermaßen erlernt werden können. Am Ende jedes thematischen Abschnitts gibt es ein paar Vorschläge für’s eigene Üben im Alltag, durchaus mit Humor gewürzt. Da kann es unter dem Stichwort Ehrfurcht schon auch um den Umgang mit dem Brotmesser gehen oder unter dem Stichwort Pause um das Verweilen auf der Toilette. Aber es werden auch die politischen Implikationen einer kontemplativen Lebenspraxis angesprochen.

Manchmal erscheinen die großen Themen der Theologie ein wenig zu elementarisiert. Es ist ja auch ein großes Projekt, den ganzen Horizont christlicher Theologie gewissermaßen alltagstauglich plausibel zu machen. Erstaunlich genug, wie es gelingt, mit der Überzeugungskraft eigener Erfahrung und ohne die Lesenden zu überfordern. Helga und Thomas Ulrich vermitteln: Meditation ist keine Kunst für Eingeweihte, sie kann in den Alltag integriert werden, Theologie keine Wissenschaft voller Rätsel, sondern in der eigenen Erfahrung nachvollziehbar. Gerade weil das Buch keine Vorkenntnisse voraussetzt, ist es auch für die Fortgeschrittenen sehr anregend. Es lädt dazu ein, eigene Haltungen neu zu bedenken.

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Angelika Obert

Angelika Obert ist Pfarrerin im Ruhestand in Berlin. Sie war bis 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).


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