Nochmal: geordneter Rückzug

Warum die „Judensau“ in Wittenberg schnellstmöglich entfernt werden muss

Die Debatte um den Antisemitismus auf der Documenta fifteen, die derzeit in Kassel stattfindet, hat auch die Diskussion um die „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche neu angefacht. zeitzeichen-Kolumnist Christoph Markschies kommt zu dem Schluss: Die Skulptur muss entfernt werden, selbst wenn deutsche Gerichte das nicht fordern.

Meine vorige zeitzeichen-Kolumne, die vom 14. Mai,  trug den Untertitel „Der geordnete Rückzug ist keine leichte Übung“ . Heute möchte ich nun selbst einen solchen geordneten Rückzug öffentlich machen. Wenn man als Wissenschaftler seine Meinung ändert und dann auch noch öffentlich darüber Auskunft gibt, löst das bei manchen Menschen Verwunderung aus. Aber es wäre ja nur dann verwerflich, seine Meinung aufgrund besserer Einsicht zu ändern, wenn man es sich zuvor nicht reiflich überlegt hätte und solche Revisionen leichtfertig vornehmen oder statt der besseren Einsicht irgendwelchen Moden und Konventionen folgen würde.

Der Gegenstand meines geordneten Rückzugs ist seit einem Gerichtsurteil vor rund zwei Wochen wieder verstärkt Gegenstand medialer Debatten. Über die sogenannte Judensau an der Choraußenwand der Stadt- und Pfarrkirche St. Marien in Wittenberg wird allerdings schon länger gestritten. Es handelt sich hier schließlich nicht um irgendein Gotteshaus, sondern um die Kirche, in der Martin Luther gepredigt hat und in der ein berühmter „Reformationsaltar“ von Vater und Sohn Cranach steht (um von anderen wichtigen Erinnerungen an die Geschichte der Reformation zu schweigen).

Kein Besuch in Wittenberg ohne den Besuch in dieser zentralen Reformations-Kirche, die inzwischen in der öffentlichen Wahrnehmung wahrscheinlich mehr mit der sogenannten Judensau verbunden ist als mit irgendeinem anderen Objekt aus ihren reichen Schätzen. Außerdem handelt es sich auch um ein ganz besonderes Relief unter den rund vierzig praktisch nur im deutschen Sprachraum nachweisbaren vergleichbaren Darstellungen dieser Art – doch dazu später.

Besuche außen beginnen

Ich gestehe gern, dass ich die Wittenberger Stadtkirche erstmals als West-Berliner Schüler und danach mehrfach als Student besucht hatte, bevor mir das Problem an ihrer Außenfassade überhaupt aufgefallen ist. Ich habe (wie vermutlich die meisten Menschen, die nicht Kunstgeschichte studiert haben) eine Tendenz, gleich durch den Eingang in ein Gotteshaus einzutreten und es nicht erst einmal zu umrunden. Erst nachdem ich einmal eine Exkursion gemeinsam mit meinem Bruder, der als Kunsthistoriker arbeitet, angeboten habe, beginne ich Besuche immer erst außen und schaue mir gründlich an, was ich sehe.

Die Südfassade der Wittenberger Stadtkirche ist nicht uninteressant, weil auch Menschen, die nicht Kunstgeschichte studiert haben, die unterschiedlichen Bauzeiten und Baustile auffallen dürften. Das Schiff wurde, wie die hochgotischen Fenster mit reichem Maßwerk zeigen, offenbar deutlich später erbaut als der Chor mit deutlich einfacheren Fenstern. Der Chor hat einen graden Abschluss, keine Apsiden oder Chorkapellen und auf der abschließenden Chorwand sitzt eine steinerne Laterne. An der Ecke zur graden Chorabschlusswand, gleichsam als Tragstein der Ziegeldekoration des Schmuckgiebels dieser östlichen Abschlusswand, befindet sich auf der Südfassade die sogenannte Judensau an prominenter Stelle. Sie bildet sozusagen den Abschluss der südlichen Langhaus- und Chorwand, eine ebenso gut sichtbare wie baulich hervorgehobene Stelle des Gebäudes.

Das ganze ursprünglich gotische Ensemble ist frühneuzeitlich gefasst (und diese Fassung macht die sogenannte Wittenberger Judensau einzigartig). Über dem Schwein steht in schwungvollen, seit einer Renovierung im Zusammenhang des Reformationsjubiläums frisch vergoldeten Lettern mit reich dekorierten Anfangsbuchstaben „SchemHaMphoras“ und darüber „Rabini“. Das Relief selbst ist älter, es stammt aus dem späteren dreizehnten Jahrhundert und befand sich ursprünglich auch gar nicht an der prominenten Stelle der Außenfassade. Es stammt damit aus der Bauzeit des schlichten Chors, an den hundertfünfzig Jahre später das deutlich prächtigere Langhaus angebaut wurde.

Die Beschriftungen machen für jeden klar, was auf zudem gut sichtbaren Relief zu erkennen ist: Die dargestellten und als Juden erkennbaren Personen sind Rabbiner. Sie sind in der Optik des Reliefs gleichsam „Schweinepriester“, die an den Zitzen eines Schweins trinken und ihm in den Hintern schauen – und in diesem Schwein erkennen sie „Ha-Schem Ha-Mephorasch“, den mit dem „ausdrücklich festgelegten Namen“ bezeichneten Gott. Anders formuliert: Hier wird die Ansicht dargestellt, jüdische rabbinische Gelehrte verehrten, wenn sie Gott zu verehren glauben, sich von seiner Weisheit nähren, in Wahrheit nur ein Schwein (obwohl ihnen doch der Umgang mit einem solchen als unrein empfundenen Tier ausdrücklich verboten ist). Eine schlimmere Form der Polemik – Judentum als Götzenverehrung, nicht als Gottesverehrung – kann man sich auch im Mittelalter, das grobe Polemik liebte, kaum vorstellen.

Scheu, Gottes Namen auszusprechen

Bis heute prägt jüdisches Leben wie Theologie eine große Scheu davor, den Namen Gottes – wie es in Luthers Übersetzung des entsprechenden Gebots heißt – „unnützlich“ (also missbräuchlich) zu „führen“. Und um missbräuchliche Verwendung zu vermeiden, wird seit ewigen Zeiten das in der Bibel verwendete Konsonanten-Tetragramm JHWH gar nicht vokalisiert und vokalisiert ausgesprochen (also schon gar nicht: Jachwä, Jaa-wäh oder wie auch immer weniger sensible Christenmenschen versuchen, das bereits in der Antike nicht mehr ausgesprochene biblische Vier-Buchstabenwort zu vokalisieren). „Ha-Schem Ha-Mephorasch“ kennzeichnet und vertritt den eigentlichen, hinter dem Tetragramm stehenden Namen Gottes, an dessen Stelle schon im antiken Judentum Substitute getreten waren, wie beispielsweise das uns vertraute „der Herr“. Dieser eigentliche Name Gottes ist den allermeisten Menschen unbekannt, einige jüdische Mystiker und Denker haben Theorien über diesen Namen vorgelegt und den Namen selbst zu identifizieren versucht – aber niemand außer den christlichen Polemikern des Mittelalters haben diesen Namen mit „Sau“ oder „Schwein“ identifiziert.

Zu diesen Polemikern, die sich über den Gottes unaussprechlichen Namen vertretenden Ausdruck „Ha-Schem Ha-Mephorasch“ lustig machten, gehörte übrigens auch Martin Luther, der in der Kirche, in der auch damals schon die sogenannte Judensau angebracht war, Gottesdienste hielt und predigte. Eine schroff polemische Schrift Luthers unter dem Titel „Vom Schem Hamphoras“ von 1543 dürfte sogar verantwortlich dafür sein, dass man rund fünfundzwanzig Jahre später das ursprünglich im Altarraum angebrachte Relief gut sichtbar nach außen versetzte und noch einmal eigens mit den beiden erwähnten Schriftzügen hervorhob – Luther behandelt das Relief nämlich in seiner Schrift und behauptet, dass der Rabbiner, der in den Hintern des Schweines schaut, dort nachschaut, wo die Juden den heiligen Gottesnamen verbergen. Das hebräische „Schem Hamphoras“ bedeute in Wahrheit: „Hier ist Dreck“.

Außen an der Kirchenfassade diente das Relief, wie die amerikanische Mediävistin Caroline Walker Bynum vor einiger Zeit einmal festhielt, als sichtbares Schandmal und wirksames Warnzeichen: Die Mitglieder der christlichen Gemeinde sollten sich von denen der jüdischen fernhalten, aber auch die Mitglieder der jüdischen vom christlichen Gotteshaus.

Doppelte Kommentierung

Obwohl ich alles das seit meinem Studium wusste und man es inzwischen auch praktisch überall nachlesen kann, dachte ich lange, es sei ausreichend, die dreiste Verhöhnung Gottes und die widerliche Polemik gegen jüdische Gelehrte und das Judentum in der sogenannten Wittenberger Judensau zu kontextualisieren (wie wir dann gern sagen), aber an Ort und Stelle zu belassen. Ich tröstete mich über die schreckliche Darstellung am prominenten Ort mit dem Gedanken, dass schon vor dem Ende der alten DDR, nämlich 1988, die Kirchengemeinde mit einem im Boden eingelassenen Kommentar in Form eines Kunstwerks das Schandmal in ein Erinnerungsmal und Mahnmal für christliche Judenfeindschaft umzuwandeln versucht hatte und später auch noch eine weitere kommentierende Stele aufgestellt worden war.

Dabei fand ich mich jedenfalls nicht in schlechter Gesellschaft: Das Oberlandesgericht Naumburg hatte 2020 entschieden, dass diese doppelte Kommentierung der Plastik die ursprüngliche beleidigende Wirkung gleichsam neutralisiert habe und der Bundesgerichtshof hat im Juni 2022, wie gesagt, diese Sicht in einer Revisionsverhandlung bestätigt. Auch Caroline Walker Bynum votierte eher für die Beibehaltung und Kommentierung am ursprünglichen Ort. Und so votierte ich auch, wenn ich befragt wurde, dafür, das Relief als Zeichen des allgegenwärtigen und auch bei Reformatoren wie Luther verbreiteten christlichen Antisemitismus nicht zu verstecken, sondern zu zeigen, zu erklären und so Verhaltensänderungen bewirken.

Diese meine bisherige Meinung habe ich revidiert und darüber würde ich gern öffentlich Rechenschaft ablegen. Es war eine längere öffentliche Debatte, die mich dazu gebracht hat, die sogenannte Wittenberger Judensau noch einmal ausführlicher anzusehen und dann meine Ansicht über das Relief zu ändern – die Debatte um antisemitische Kunstwerke auf der Documenta fifteen in Kassel. Inzwischen hat sich das verantwortliche Kuratorenkollektiv ruangrupa dafür zu entschuldigen versucht, dass auf dem Kasseler Friedrichsplatz, mitten im Zentrum der Stadt und der Documenta, ein Kunstwerk in beachtlichen Dimensionen auf einem Gerüst zu sehen war, auf dem klassische antisemitische und gegen die Existenz des Staates Israel gerichtete übel polemische Stereotypen dargestellt waren. Dazu gehörte übrigens auch ein mit Davidsstern versehener Soldat mit Schweinegesicht und also wieder eine Verhöhnung eines jüdischen Menschen im Zusammenhang mit einem Schwein wie auch auf der sogenannten Wittenberger Judensau. Auch dieses Kunstwerk auf dem Friedrichsplatz in Kassel sollte zunächst stehenbleiben, wurde dann mit schwarzem Tuch verhängt und schließlich abgehängt.

Kein Spezifikum deutscher Lerngeschichte

In den Tagen vor der endgültigen Abhängung wurde überraschend heftig darüber gestritten, ob es irgendeinen Grund geben kann, künstlerische Darstellungen, die jüdische Menschen oder das Judentum öffentlich verspotten oder verhöhnen, nicht öffentlich auszustellen und auf diese Weise die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Kunst zu beschneiden. Glücklicherweise ist dank dieser Debatte inzwischen den meisten (und darunter hoffentlich auch der Documenta-Leitung) klar, dass die künstlerische Freiheit an der roten Linie einer solchen Verhöhnung jüdischer Menschen endet und es auch kein Spezifikum deutscher Lerngeschichte aus einer schrecklichen Vergangenheit oder lediglich eine auf Mitteleuropa beschränkte Sichtweise ist, solche antisemitischen Darstellungen für intolerabel zu halten. Sie gehören nicht in die Öffentlichkeit und noch dazu auf einen großen Platz bei einer zeitgenössischen Kunstausstellung, sondern in ein entsprechendes historisches Museum, in dem bekanntlich auch Dinge ausgestellt und erläutert werden, die wir heute aus guten Gründen nicht mehr für unsere öffentlichen Plätze und Gebäude verwenden wollen.

Mit dem Hintergrund der Debatte um die Documenta fifteen schaute ich noch einmal auf die sogenannte Wittenberger Judensau. Schon den Versuch der Kontextualisierung und Kommentierung im Erinnerungszeichen von 1988 wird man nicht für glücklich halten können, um es vorsichtig zu sagen. Auf dieser Bodenplatte steht: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen“.

Hilft es aber irgendeinem jüdischen Menschen, die sogenannte, sehr besondere und besonders gotteslästerliche Wittenberger Judensau historisch einzuordnen, wenn ihm Wittenberger Christenmenschen erklären, dass Gottes eigentlicher Name im Holocaust gestorben sei und das auch noch millionenfach? Ich kenne viele Menschen, die einen solchen Satz für ebenso gotteslästerlich halten wie das darüber befindliche Relief. Sollte man sich in die jüdische Debatte über die Frage, wo Gott in Auschwitz war, auf diese – freundlich formuliert – verquaste Weise einmischen? Was heißt eigentlich „fast unsagbar heilig“? Und sollte man dann auch noch behaupten, dass das alles unter einem Kreuzeszeichen geschah? Nicht umsonst haben jüdische Verbände gegen die Aufrichtung eines großen Kreuzes vor dem Lager in Auschwitz protestiert. Muss man jetzt also auch noch die Bodenplatte von 1988 erläutern und kontextualisieren?

„Kulturspezifischer, deutscher Aberglaube“

Ich weiß nicht, ob man überhaupt Kunst, die man als problematisch empfindet, durch Kontextualisierung auf Stelen mit Erläuterungstexten und weitere Kunstwerke zu Gedenk- und Erinnerungsorten umgestalten kann. Patrick Bahners nannte das unlängst „kulturspezifischer deutscher Aberglaube“. Die amerikanischen Truppen haben das Hakenkreuz auf der Haupttribüne des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes nicht erläutert und auch nicht kontextualisiert, sondern gesprengt.

Ich weiß aber inzwischen, dass es trotz anerkennenswerter Bemühungen der Kirchengemeinde nicht gelungen ist, die ungeheuerliche Gotteslästerung der sogenannten Wittenberger Judensau zu kontextualisieren und durch eine Erläuterung aus einer Beleidigung zu einem Gedenkort zu machen. Die Erläuterung auf der Bodenplatte ist theologisch so unglücklich formuliert, dass man sie wiederum für lästerlich und beleidigend halten kann. Daraus folgt meiner Ansicht nach glasklar: Ein Schwein unter dem hochheiligen Gottesnamen bleibt eine schlimme Gotteslästerung für Juden und gehört daher von dem Chorhaupt der Kirche entfernt. Das Relief droht, die Glaubwürdigkeit der Verkündigung dieser Kirche zu beschädigen, allzumal, wenn man sich die enge Verbindung seiner frühneuzeitlichen Präsentation mit Martin Luther klarmacht. Ich bin sicher, dass sich in Wittenberg ein geeigneter Ort für seine Präsentation findet – das beeindruckende reformationsgeschichtliche Museum in Luthers ehemaligem Wohnhaus wäre beispielsweise ein guter Platz. Was in die leere Stelle eingefügt werden sollte, wie man mit der Inschrift im Gedenkzeichen von 1988 umgehen sollte, die vielleicht gleich einfach mit ins Museum gehört – alles das sollte man in Ruhe und vor allem nicht unter Christenmenschen allein diskutieren. Man sollte aber bald damit beginnen. Und als erstes schleunigst das Relief von der Kirchenwand nehmen.

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