Symbiose

Aufbruch in die Welt von heute

Die Geschichte des „lateinischen Christentums“ habe nicht nur die europäische Zivilisation tiefgreifend geprägt, sondern habe darüber hinaus eine wegweisende Bedeutung für die zukünftige Entwicklung. Das gelte vor allem für den Pluralismus der religiösen und politischen Kulturen, die sich auf dem Boden der lateinisch-christlichen Welt gebildet haben: „Nicht Einheitlichkeit, sondern Vielfalt … ist die einzig tragfähige Grundlage des Zusammenlebens in einer Welt, die immer näher zusammenrückt, an kultureller, vor allem religiöser Verschiedenheit aber nicht ab-, sondern zunimmt.“ Diese These durchzieht das ganze geschichtliche Panorama, das der Berliner Historiker Heinz Schilling für ein großes Publikum entworfen hat: wissenschaftlich fundiert und zugleich von politisch-kulturell orientierender Kraft.

Im Unterschied zur Frömmigkeit der byzantinisch-orthodoxen Welt prägte die paulinische Weltzugewandtheit des Gottessohnes den Charakter des christlichen Glaubens im lateinischen Europa. Sie bestimmte die Dynamik der Symbiosen und Spannungen zwischen Kirche und Kaiser, Politik und Religion von der Spätantike bis zur modernen Trennung von Staat und Kirche und der säkularisierten Welt von heute.

Schilling stellt die wechselnden Konstellationen der Konflikte vom Streit um den Primat zwischen Papst und Kaiser, über die gespannte Symbiose von Renaissance, Humanismus und Reformation und den kulturellen Kampf zwischen Aufklärung, Pietismus und Romantik lebendig mit konkreten Fallstudien dar. Und er zeigt in den Konfliktszenarien sowohl die Dynamik der christlichen Weltfrömmigkeit als auch den durchgängigen Zug zur Säkularisierung der christlichen Welt auf. Besonders das Zeitalter der Kirchenspaltung und des Konfessionalismus hat demnach den Pluralismus und die Säkularisierung der Lebensformen vorangetrieben.

Der erbitterte, jahrhundertlange Kampf zwischen Politik und Religion um Wahrheit und Vorherrschaft ist nach Schillings Verständnis nicht als Verschleiß und Niedergang zu begreifen, sondern eher mit Hegel als ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Das vorläufige Ergebnis: die Geltung der Menschenrechte, die Trennung von Staat und Kirche, der Kompromiss und die Pluralisierung der Gesellschaft als Friedensformel.

Für die Kirchen war der Prozess der christlich inspirierten Säkularisation zu einer „schwierigen Gratwanderung zwischen Öffnung und Verfallenheit an die ‚Welt‘“ und damit zu einer Daueraufgabe ums Überleben geworden.

Und die Zukunft? Der erreichte „Einklang von Säkularität und Religion“ wird durch den in Europa präsenten Islam „infrage gestellt“; auch die ostkirchliche Orthodoxie hat mit dem gesellschaftlich wirksamen Sauerteig einer „säkular aufgeklärten Religiosität“ große Probleme. Schillings Einschätzung dieser prekären Konstellation fällt freilich positiv aus; er schließt sich Jörg Lausters Diagnose an: „Dem modernen Staat“ gelinge es „besser als Rom, Wittenberg und Genf zusammen, die Ideale des Christentums zu verwirklichen. Die Moderne ist nur dann unchristlicher als frühere Epochen, wenn man das Christentum mit Kirchlichkeit identifiziert. Der göttliche Geist treibt jedoch das Christentum über seine ausschließliche Fixierung auf die Gestalt der Kirche hinaus.“

Der Welterfolg der kulturellen Symbiose von religiösem Glauben und sozialer Ethik in den demokratischen Gesellschaften und Verfassungen Europas werde nicht zu einer „Schubumkehr“ der Entwicklungsdynamik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation führen. Diese Prognose wird freilich von dem gegenwärtigen Krieg in Europa auf eine akute Probe gestellt. Die Lektüre dieser Historie führt mitten hinein in das Drama, in dem es um die Überlebensfähigkeit unserer Lebensart geht.

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