Gottes Kraft und Selbstbesinnung
Humanität ist universal. Wer von Humanität spricht, meint eine Haltung, die jedem Menschen gilt, unabhängig davon, woher er kommt, und wo er lebt. Es gibt kaum jemanden, der die Humanität nicht als grundlegenden Wert anerkennen würde. Wie kommt es dann, dass die Humanität an so vielen Orten der Welt mit Füßen getreten wird? Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die damit verbundenen Kriegsverbrechen sind genauso aktuelle Beispiele dafür wie die Gewalt in den syrischen Folterkammern oder die Verfolgung von Christen, aber auch von Gläubigen anderer Religionen in Nord-Korea, Afghanistan oder Saudi-Arabien.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie sehr die Verletzung der Humanität ein Phänomen auch unseres eigenen Kulturraums ist. Das drastischste Beispiel für die unfassbare Dimension, die die Verleugnung der Humanität gewinnen konnte, ist die Ermordung von sechs Millionen Juden. Ein anderes Beispiel der massiven Verleugnung der Humanität in der deutschen und europäischen Geschichte ist der Kolonialismus. Er kam in meiner Schulausbildung zwar vor. Aber welch massive Menschenrechtsverletzungen, die zudem bis heute nachwirken, das damit verbundene ganze Zeitalter, besonders für den afrikanischen Kontinent, gebracht hat, habe ich erst viel später verstanden.
Die massive Verletzung der Humanität ist kein Phänomen der Geschichte. Mir lässt eine Zahl keine Ruhe, die eigentlich ungeheuerlich ist: Noch immer sterben jeden Tag weltweit um die 20 000 Menschen, weil sie nicht genug Nahrung oder Medizin haben. Es ist zu befürchten, dass die Zahl nach Pandemie und Ukraine-Krieg sogar wieder wächst. Fachleute beziffern die weltweiten Ausgaben, die es möglich machen würden, den Hunger bis zum Jahr 2030 weitgehend zu überwinden, mit etwa 39 bis 50 Milliarden Dollar jährlich. Warum werden für militärische Maßnahmen zur Rettung von Menschenleben blitzschnell viele Milliarden zur Verfügung gestellt, für die Bekämpfung des Hungers aber nicht? Der damit verbundene moralische Skandal verschärft sich noch, wenn wir uns den Zusammenhang von Hunger und Klimawandel klarmachen.
Vor einiger Zeit hat die christliche Hilfsorganisation Christian Aid eine Studie veröffentlicht, die auf die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels auf die Nahrungsmittelproduktion in dem kleinen zentralafrikanischen Land Burundi hinweist. In Deutschland liegt der CO2-Ausstoß pro Kopf pro Jahr bei circa acht Tonnen, in Burundi bei 0,027 Tonnen. Diejenigen, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, sind seine ersten Opfer.
Ist der Hinweis auf solche buchstäblich zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten kirchlicher Moralismus, politisierende Religion oder ethische Verengung des Glaubens? Nein! Ist er nicht! Er ist die schlichte Konsequenz von Jesu Doppelgebot der Liebe: Gott lieben und den Nächsten lieben. Die Antwort darauf ist nicht das schlechte Gewissen, sondern Selbstbesinnung aus der Kraft der Gottesbeziehung. Sich von Gott geliebt wissen und aus dieser Gewissheit heraus das Notwendige tun, um der Humanität Geltung zu verschaffen. Das heißt Leben aus christlicher Freiheit.
Heinrich Bedford-Strohm
Heinrich Bedford-Strohm ist Landesbischof in München, EKD-Ratsvorsitzender und Herausgeber von zeitzeichen.