Musikalische Pfingsten an der Donau

Das Neuste von der Alten Musik hört man immer noch in Regensburg
Blick auf die Regensburger Altstadt mit Dom St. Peter

Bald werden sie vierzig Jahre alt, die Tage Alter Musik in Regensburg. 2024 ist es soweit. Und die heimliche Königin unter Deutschlands Festivals dieser Art strahlte in diesem Jahr nach Corona-Zwangspause wieder im Glanz der Klänge. Impressionen von dem ewig jungen Musikfest in wunderbaren Mauern.

Didelideldüüt - Hilfe, ein Smartphone klingelt! Es ist er Alptraum jedes empfindsamen Konzertbesuchers. Wo ist der rettende Boden, der sich auftut und ihn verschlingt. Nicht nötig, denn Sekunden später respondiert eine Geigerin vom Podium fröhlich: Didelideldüüt, kurze Lacher im Publikum und weiter geht’s im Reichssaal beim Konzert mit dem Ensemble Jupiter und der grandiosen Sängerin Lea Desandre, einer der 16 wunderbaren Aufführungen der diesjährigen Tage Alter Musik in Regensburg (TAM), die erstmals seit 2019 wieder in gewohnter Länge über Pfingsten stattfinden konnten. 

Doch der Reihe nach: Traditionell begannen die TAM „heuer“ mit einem Auftritt der wohl weltweit bekanntesten Boygroup, die es seit Jahrhunderten in der Stadt gibt, den Regensburger Domspatzen. Auf dem Programm steht häufig Mozart, so auch dieses Mal, und anderem die „Vesperae solennes de Confessore“ KV 339, die sicher zu den interessanteren Werken Mozarts für Soli, Chor und Instrumente gehört, unter anderem mit dem berückenden Sopran-Soloarie „Laudate dominum“ – hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1956, heuer, 66 Jahre später, klang es sehr anders, wie man live im Bayerischen Rundfunk erleben konnte …Das war es dann aber auch schon mit dem einzigen konventionellen Konzertprogramm, denn ab dem späten Freitagabend entfaltete sich eine Perlenkette klingender Kostbarkeiten jenseits des Mainstreams.

Oder kennt jemand etwa Jehan Titelouze? Er lebte von 1563 bis 1633, war jahrzehntelang Organist an der Kathedrale von Rouen und gilt als der Begründer der französischen Orgelmusik. Zwar war bekannt, dass er auch Vokalwerke komponierte, doch die galten jahrhundertelang als verschollen, bis 2016 in einer Pariser Bibliothek viele Noten von ihm gefunden wurden. Eine der vier aufgefundenen Messvertonungen erblickte durch das exquisite Ensemble Les Meslanges, das sich der Erforschung und Aufführung dieser neuaufgefundenen Werke verschrieben hat, in Regensburg das Licht der Konzertbühne.

Und als die erhabenen Klänge, diese herbe Mixtur von menschlicher Stimme und Blasinstrumenten, durch den Raum der hohen Dreieinigkeitskirche wehten, begannen sich in den Gedanken des gebannten Zuhörers die Steine der Kirche zu Klang zu verflüssigen, und es formte sich die Frage: „Wach ich, träum ich, oder schwebe ich?“ Anders als seine galant-hochbarocken Nachfolger wie Lully oder Rameau verharrt Jehan Titelouze in einer gewissen Archaik der Harmonik. Zwar befleißigt auch er sich schon reichlich des Quartvorhaltes im Schlussakkord, aber das zeitigt einen ganz anderen Effekt, als den, der ein halbes Jahrhundert später am Hofe Ludwig XIV. in Versailles mutmaßlich erzeugt wurde: weniger galant, sondern eher emotional schillernd. Aber auf jeden Fall faszinierende Musik – gerne mehr davon! (Zum Nachhören: Ein Mitschnitt dieses Konzertes wird am Montag, 18. Juli, um 18:05 Uhr auf der Festspielzeit auf BR KLASSIK gesendet)

Es fällt schwer und mag auch ungerecht sein, ein Konzert bei einem Festival wie den Regensburger Alte-Musik-Tagen ein Konzert zum Höhepunkt auszurufen, aber der heiße Kandidat für Regensburg 2022 ist die Matinee des Ensembles Jupiter mit der Mezzosopranistin Lea Desandre am Pfingstsonntag , das mit dem Klingeton (siehe oben). Jedenfalls fand sich der gebannte Zuhörer bei diesem Konzert rasch im Siebten Himmel des Koloraturgesangs wieder, denn in den hatte ihn die noch nicht mal 30-jährige französische Sängerin mit Arien und Concerti von Antonio Vivaldi katapultiert. Ja, Lea Desandre hat eine Wahnsinnsstimme, die gleichsam kontrolliert und mit feinsten Nuancen daherkommt, und dabei technisch keine Grenzen kennt. Den Namen wird man sich merken müssen, denn man wird in wenigen Jahren stolz sagen können: „Ich habe die Desandre schon gehört, als sie noch niemand kannte …“.

Schöne, erfreuliche Akustik

Absolut kongenial an diesem Pfingstmorgen, an dem reichlich Geist der heiligen Cäcilia ausgeschüttet ward, agierte auch das Ensemble Jupiter. Zwar hatte sich Leiter Thomas Dunford morgen beim Frühstück leicht am Finger verletzt, sodass sein angekündigte Lautenkonzert ausfallen musste. Dafür aber spielte sein Cellokollege Bruno Philippe zwei Sätze aus der Solosuite Nr. 3 C-Dur (BWV 1009), und wie er sie spielte. Mit großer Geste hinter der sich Großes verbarg, so zum Beispiel ein wunderbar seidig-kräftiger Ton und eine hinreißende Gestaltung – man hätte die berühmte Stecknadel hätte allen hören können im Reichstagssaal zu Regensburg, der wieder mal seine besonders schöne und erfreuliche Akustik für Kammermusiken dieser Art beweisen konnte. Dass auch Bruno Philippe erst im nächsten Jahr das dritte Lebensjahrzehnt vollendet, zeigt, wieviel Leben, Qualität und Jugend in der sogenannten Alten Musik steckt. Zum Glück war auch bei diesem sensationellen Konzert von Lea Desandre und dem Ensemble Jupiter der Bayerische Rundfunk dabei, die Übertragung sollte niemand versäumen (Sendetermin: Mittwoch, 29. Juni, 18:05 Uhr auf BR-KLASSIK)

Wer es eher etwas norddeutscher als Vivaldi mag, würde vielleicht das Konzert am Vorabend des ersten Pfingsttages zum Festivalfavoriten erkiesen: Das englische Ensemble Alamire unter seinem Leiter David Skinner sang den ganzen Abend Praetorius, wohlgemerkt: Hieronymus Praetorius (1560-1629), ein Zeitgenosse von Michael Praetorius (1571-1621), aber im Gegensatz zu diesem weder mit einem Weihnachtssatz weltberühmt (Es ist ein Ros entsprungen), noch mit ihm irgendwie verwandt oder verschwägert, was wenig verwunderlich ist, da „Praetorius“ die damals gängige Latinisierung des recht häufigen Namens „Schulze“ darstellte. Wie auch immer, Hieronymus Praetorius ist bisher total unbekannt und das sehr zu Unrecht, denn es ist überaus beglückend, seine vielstimmigen Kompositionen zu hören, die bis zur Zwanzigstimmigkeit gehen, wie in der Motette „Decantabat Populos Israel“.

Hieronymus Praetorius wirkte zeitlebens in Hamburg an der Hauptkirche St. Jacobi. Anders als seine Zeitgenossen Hans Leo Hassler und Heinrich Schütz kannte er wohl Italien und die dort seit dem Ende des 16. Jahrhunderts besonders in Venedig bei Gabrieli Vater und Sohn ausgefeilte Doppelchörigkeit nur vom Hörensagen und von Partituren. Aber seine Werke sind jenen allen absolut ebenbürtig, aber eben unbekannt. Das zu ändern haben sich aber Skinner und seinen Sänger:innen, die im hochklassigen britischen Bläserensemble Her Majesties Sagbutts & Cornetts meisterhafte Mitstreiter:innen fanden, auf die Fahnen geschrieben. Wer weiß, Regensburg 2022 könnte Comeback dieses Hamburgers auf dem Kontinent begründen. Und wer’s versäumt hat, auf den Bayerischen Rundfunk ist Verlass, dass Konzert wird am 5. Juli ab 20:05 Uhr auf BR KLASSIK gesendet.

Extravagante Launen

Sehr viel gebe es noch zu anderen Konzerten sagen, zum Beispiel zu einem außerordentlich gelungenen Kammermusiknachmittag mit Sonaten und Fantasien des sogenannten Stylus Phantasticus mit dem belgischen Ensemble Clematis. Es fand seinen Höhepunkt in dem goldenen Raumambiente der Basilika U.L. Frauen zur Alten Kapelle  in der exaltierten und ausgedehnten „Capriccio Stravagante“ (zu Deutsch etwas „extravagante Laune“) des aus Italien stammenden und lange am Dresdner Hof wirkenden Carlo Farina (1600-1639). Bewundernswert bei diesem Konzert war aber auch die Tatsache, dass die Geigerin Louise Ayrton dort quicklebendig und höchst agil an der Violine mitwirkte, nachdem sie wenige Stunden zuvor bereits beim oben erwähnten Vivaldi-Starkonzert bereits in selbiger Manier als Konzertmeisterin gezaubert hatte. Manche haben halt Energie ohne Ende – beneidenswert!

Leider hatte da der Bayerische Rundfunk seine Mikrofone nicht dabei, aber natürlich am Abend des Pfingstsonntags bei einer ganz besonderen Marienvesper. Nicht etwa der von Claudio Monteverdi, die für viele ja „die“ Marienvesper überhaupt ist, sondern einer Marienvesper von Chiara Margarita Cozzolani. Sie war eine Mailänder Benediktinerin, die von 1602 bis 1678 lebte. Das Werk entstand einige Jahrzehnte nach Monteverdis Vesper von 1610 und ist überaus kunstvoll gesetzt. Das Ensemble I Gemelli brachte es mit viel Herzlut und Engagement da, verkörpert insbesondere durch den lebhaft singenden wie zugleich dirigierenden Tenor Emiliano Gonzalez Toro. Auch das muss man können und wollen ... Das durchaus beeindruckende und vielbeklatschte Regenburger Ereignis kann am Montag, 4 Juli, ab 20:05 Uhr auf BR Klassik nachgehört werden – es lohnt sich!.

Lust am Tun

Der Ausklang der Tage Alter Musik geriet nochmals zu einem wunderschönen Höhepunkt: Mit großer Virtuosität und sicht- und hörbarer Lust am Tun spielte und sang sich die Musikerinnen und Musiker des tschechischen Collegium Marianum durch Händels kleine Oper – Fachausdruck: Masque beziehungsweise Schäferspiel, deren Handlung schnell erzählt ist: Der Schäfer Acis (Vojtěch Semerád, Tenor) liebt die Nymphe Galatea (Helena Hozová, Sopran), die seine Liebe erwidert. Herrlich.

Aber ist das eine Geschichte? Ja, insofern, als dass diese Liebe dem monströsen Zyklopen Polyphem (Tomáš Král) gar nicht gefällt. Er rast vor Zorn und Eifersucht, als er das Glück der beiden sieht, und als ihn dann auch die von ihm umgarnte Galatea entsetzt stehen lässt, beschließt er Acis, den Rivalen, zu töten. Den wiederum können seine beiden Co-Schäfer und Co-Tenöre Damon (Ondřej Holub) und Coridon (Tomáš Lajtkep) auch mit schönstem Gesang nicht davon abhalten, sich dem riesigen Zyklopen keck im Kampf zu stellen, statt das Weite zu suchen. O weia. Es kommt wie es kommen muss: Ein Felswurf des monströsen Fieslings und Acis ist tot.

Die besondere Attraktion der Aufführung lag darin, dass sowohl die realen Sänger und die Sängerin als auch die Marionetten agierten. Neben der bezaubernden und herrlich dargebrachten Vokal- und Instrumentalmusik kam alles recht heiter daher. Denn irgendwie schließt die Nymphe Galatea in der sagenhaften Geschichte ihren Frieden mit dem getöteten Acis, der sich in einen stetig quellenden Bach wandelt und so der Nymphe verbunden bleibt.

Andere Rollenverteilung

Ende gut, alles gut? Naja. Schon bei der hinreißend kurzweiligen und musikalisch bravourösen Vorstellung mögen einige im Publikum von einer anderen Rollenverteilung in diesem zeitlosen Spiel bedrängt worden sein, die sich im Hirn einnistete: Acis, Galatea und die Schäfer als Europa, der zürnend-destruktive Polyphem als Putins Russland? Natürlich wäre das platt gewesen, aber eigentlich auch nicht, denn genauso stellt es sich ja momentan da: Brutale Zerstörung gegen wachsende Liebe und Verbundenheit, die sich ausleben will.

Aber gut, dass Regisseur Vit Brukner vom Marionettentheater Buchty A Lotky und die Musiker dieser Versuchung einer gegenständlichen Politisierung und Aktualisierung widerstanden haben. Vielleicht wären sie auch gar nicht auf die Idee gekommen. Doch  der Autor dieser Zeilen konnte sich diesen düsteren Assoziationen nicht entziehen. Und leider kann Musik die Überfälle und Kriege unserer Welt nicht ungeschehen machen. Aber sie kann lindern, sie kann – auch das muss mal sein – ablenken und sie kann in unvergleichlicher Weise Lust und Schmerz Ausdruck verleihen und damit irgendwie auch wieder neue Perspektiven und neue Energien vermitteln, um sich den schlimmen Fährnissen unserer Zeit zu stellen. Doch genug solcher finsteren Gedanken, die auch mit dem überbordenden Schlussapplaus rasch verflogen waren. Vielmehr gilt: Wunderbar, dass nach drei Jahren zu Pfingsten an der Donau die sogenannten Alte Musik wieder so frisch, überraschend und jung daherkam. Möge es so bleiben und auf ein Neues – so Gott will und wir leben – im nächsten Jahr zu Pfingsten (26. bis 29. Mai 2023) bei den Tagen Alter Musik in Regensburg!

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