Hoffnung trotz Schlamassel!

Warum wir auch in den großen Krisen unserer Zeit nicht resignieren müssen

Die vielfältigen Krisen der Gegenwart scheinen uns oft zu erdrücken, und ihre Komplexität droht, Hoffnungslosigkeit zu erzeugen. Das darf und muss nicht sein, meint Peter Dabrock, Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik in Erlangen. Denn zum Glück gibt es genügend Grund zur Hoffnung und zwar direkt aus der Mitte unserer Gesellschaft heraus.

Unaufgearbeitete Verwundungen und Vernarbungen aus der Corona-Krise, notwendige Konsequenzen für die Zukunft, Ideen für echte Versöhnungsarbeit. Noch vor etwas mehr als drei Monaten hätte man Gedanken zur aktuellen Lage so begonnen. Und wer auf Hoffnung setzt, hätte hinzugefügt: Auch und gerade in der Krise liegt eine Chance – nicht einfach zum Wieder-weiter-So, sondern zum Neuanfang.

Und dann kam der 24. Februar – der nie mehr hier in Europa für möglich erachtete Zivilisationsbruch: der Angriff, das Morden, der Vernichtungswille Putins, aber auch zu vieler in Russland – geduldet vom noch mächtigeren und bedrohlicheren China. Corona und ihre Folgen – in der Realität der Medien wie weggeblasen. Die ausgerufene Zeitenwende hat uns brutal aus unserem selbstgenügsamen Schlummerschlaf herausgerissen. Gelandet sind wir im Schlamassel.

Schlamassel hat – auch wenn es sich lautmalerisch so anhört – primär nichts mit dem fiesen, einen in die Tiefe ziehenden Schlamm zu tun – Schlamm klingt ja nach Naturgewalt, nach schicksalhaftem Ergehen. Doch der Eindruck trügt. Der jiddische Ausdruck Schlamassel meint das Gegenteil, nämlich das selbstverschuldete Unglück, schlimmes Glück, Unglück, aber durch eigenes Tun. Man könnte schon sagen: Man steckt so richtig im Schlamm, man kommt kaum raus. Aber dass man zu versacken droht, ist nicht Schicksal, sondern Machsal, wie der Philosoph Odo Marquardt die Konsequenzen selbstverschuldeten Tuns oder Unterlassens bezeichnet.

Der Schlamassel unserer Zeit besteht wohl in einem nicht zu geringen Teil darin, dass wir Dinge verdrängt, verschoben, vernachlässigt haben. Wir haben es uns, um mit dem Soziologen Stephan Lessenich zu sprechen, als Externalisierungsgesellschaft zu lange zu bequem gemacht. Wir haben immer und immer unsere Probleme und Herausforderungen externalisiert – nach draußen oder in die Zukunft verbannt: Unsere militärische Sicherheit an die USA, bei einem Großteil unserer wirtschaftlichen Prosperität zu stark auf China gesetzt, bei einem Großteil unseres Energiebedarfs auf billige Importe aus Russland, bei einem Großteil des günstigen Weizens auf die Ukraine, bei vielen Lebensmitteln auf andere Billigimporteure, einen Teil unseres Wohlstandsmülls schicken wir an Länder in Afrika, Plastik in die Ozeane; Rente, Staatsschulden, marode Infrastruktur, Klima- und Biodiversitätsschutz an die nächste Generation. In einer "Seniorendemokratie" (Emanuel Richter) werden deren Ansprüche an uns ja kaum zählen, denken wohl Viele. Dieses räumliche und zeitliche Externalisieren fällt uns gerade auf die Füße. Zugleich haben wir unsere Unvernunft zur Vernunft umdefiniert, nämlich als Rationalität des „schneller, höher, weiter“ und gleichzeitig nötiges Veränderungswissen und willige Veränderungsbereitschaft als Unvernunft diskreditiert.

Der noch größere Schlamassel

Eingebettet ist der Schlamassel unserer Externalisierungsstrategien in den noch größeren Schlamassel global induzierter Krisen, die da heißen: Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Fukushima-Effekt, Migrationsherausforderung 2015, Corona-Krise, Putins Vernichtungskrieg. Neben diesem Riesenschlamassel wirken Scharmützel wie die Wissenschaftsfreiheitsdebatte, Cancel Culture und Identitätsdebatten schon wie Ablenkungsstrategien – obwohl auch sie wichtig sind.

Die gerade so trendige Gesellschaftsdeutung und soziologische Zeitdiagnostik bieten leider kaum Auswege aus dem Schlamassel. Ihre einflussreichen Deutungen sind nämlich oft nur begrenzt empirisch gesättigt und daher eher als kryptonormativ zu charakterisieren. Zudem bestärken sie unisono den Eindruck: Wir sind total blank! Gerade so sind sie eher Teil des Problems als der Lösung. Wer auf solche zielt, sollte sich gegen die Kassandras wehren können. Darum lohnt sich ein Blick auf die Positionen der derzeit vermutlich einflussreichsten soziologischen Zeitdiagnostiker: Armin Nassehi aus München und Andreas Reckwitz aus Berlin.

Nassehi erklärt uns, wie wenig Handlungsspielraum wir in der modernen Gesellschaft eigentlich haben: Strukturen und gesellschaftliche Systeme seien ziemlich autark und funktionierten übrigens ganz ordentlich; die Politik käme mächtig an ihre Grenzen, wenn sie in andere Funktionssysteme – beispielsweise Wirtschaft oder Wissenschaft – hineinregieren wolle, und die Zivilgesellschaft könne das sowieso nicht; die führe notorisch reine Symbol- und Ersatzdebatten. Das Agieren und Lavieren in der Corona-Krise habe dies ziemlich deutlich gemacht. Wir hätten viel zu viel von der Politik, aber auch von der Umsetzungsmöglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse erwartet.

Die nächste bittere Einsicht nach Nassehi: Ein einheitliches Wir existiert gar nicht: Das sei eine soziale Illusion, mit der wir unsere mangelnde Handlungsfähigkeit für gesamtgesellschaftliche Entscheidungen in der Moderne doch eigentlich nur überspielen wollten, in einer Gesellschaft, in der sich doch alles einigermaßen immer wieder zurechtgeruckelt hat. Ständig mit übermäßiger Komplexität und eigener Handlungsohnmacht konfrontiert, spüre man dann notorischen Unbehagen, so der Titel seines letzten großen Werkes. Und dieses Unbehagen, so Nassehi, sei das generelle Grundgefühl des modernen Menschen. Schließlich seine fatalistische Diagnose: Wenn man Gutes tun wolle, beispielsweise gegen den Klimawandel, solle man mehr auf Konsumanreize setzen als auf Bildung, denn deren Wirkung sei eher bescheiden.

Nassehis Berliner Antipode Andreas Reckwitz teilt diese Diagnose eines verbreiteten Unbehagens. Nur setzt er in seiner Krisendiagnose weniger bei den komplexen Strukturen an, sondern bei der kulturellen Selbstbeschreibung. Sein Buch Gesellschaft der Singularitäten postuliert: Die traditionelle Mittelschicht mit Vereinsleben, Einfamilienhaus und Goretex-Urlaub habe in seiner Leitfunktion ausgedient. Dieses Milieu kämpfe mit Verlustängsten, hinsichtlich seiner kulturellen und auch politischen Anerkennung – und die Jüngeren dieses Milieu sogar auch in ökonomischer Hinsicht.

Beide Entwürfe unserer führenden Gegenwartssoziologen lassen mich skeptisch zurück: Bei Nassehi habe ich Zweifel, ob seine Kategorie Unbehagen weltweit Deutung beanspruchen darf. Ich wünschte mir schon eine weitere Differenzierung nach Ländern, Kulturen, Generationen, Geschlechtern und Milieus. Und sein vorgebliches Gegengift, mehr auf Konsumanreize als auf Bildungserfolge zu setzen, erscheint mit als unnötige und zudem falsche Alternative. Auch Reckwitz' Gegenwartsdeutung hinterlässt bei vielen Unbehagen, entweder, weil man kulturell abgehängt zu werden droht oder weil man eben doch in einem großen Überbietungswettbewerb ob vermeintlicher Singularitätsbemühungen landet. Auch hier stellt sich die Frage: Greift Reckwitz' Gesellschaftsdeutung jenseits deutscher Befindlichkeiten? Stimmt es, dass wir in einer Gesellschaft der Singularitäten lebten oder leben wollten? Empirische Sozialforscher haben Reckwitz' Theorie jedenfalls als empirisch nicht gesättigt falsifiziert: Sie ist schlicht normativ, aber nicht empirisch gehaltvoll (siehe auch hier). Einig scheinen die beiden scheinbar gegensätzlichen Gegenwartsdeuter Nassehi und Reckwitz aber darin zu sein: Das alte Wir, das Gemeinschaftliche, Gemeinsinn und Ringen um Gemeinwohl – das funktioniert nicht mehr.

Diese Beobachtung, diese Diagnose ist mehr als ernüchternd, sie ist erschütternd. Und sie ist nicht ganz falsch, denn der Schlamassel ist in der Tat groß. Dennoch weigere ich mich, die Hoffnung fahren zu lassen, denn Hoffnungslosigkeit ist für Dante das Türschild zur Hölle.

Mehr als Überlebenswille

„So lange ich atme, habe ich Hoffnung!“ –„Und immer wieder geht die Sonne auf!“ oder im Fußballersprech: „Die Hoffnung stirbt zuletzt!“. Bei diesen Sprüchen geht es um das Gefühl, die Einstellung zur Hoffnung. Mehr am Gehalt sind die folgenden Worte orientiert wie: "Man hofft auf das, was man nicht sieht!" oder „Am Ende, wenigstens am Ende wird es gut!“ – unendliche Weisheiten über Hoffnung: alle verdeutlichen, dass dem Menschen immer etwas begegnet, das über das hinausreicht, was man sich in seiner Vorstellung wünscht, was man plant oder prognostiziert. Vielleicht ist es der pure Überlebenswille – individueller oder kollektiver Art; gerade in so furchtbaren Erlebnissen, wie denen der Menschen in und aus der Ukraine.

Vielleicht. Aber Hoffnung ist mehr als Überlebenswille: Angesichts all unserer Pläne, angesichts all unserer Projekte, aber auch angesichts aller fatalistischen Vertröstungen oder Verzweiflung widerfährt einem der Möglichkeitsüberschuss. Im Anschluss an einen der bedeutendsten Theologen der Gegenwart, Ingolf Dalferth, kann man Hoffnung daher treffend als „Wirklichkeit des Möglichen“ bezeichnet. Das heißt: Hoffnung lehrt Dinge anders, ganz neu zu sehen: eine neue Story gegen das Eingespielte. Hoffnung als Wirklichkeit des Möglichen schärft den menschlichen Möglichkeitssinn, der uns aus unserem selbstverschuldeten Schlamassel herausziehen kann oder könnte.

Doch Vorsicht! Religionen, Philosophie und Psychologie erinnern immer wieder daran, Hoffnung nicht mit Optimismus zu verwechseln. Hoffnung ist eben nicht einfach Methodenkompetenz, um Ziele zu erreichen – individuelles Coaching, kollektiv erarbeitete Koalitionsverträge.

Wer auf Hoffnung setzt, weiß eben: Hoffnung mag ein Ziel formulieren, aber dieses bleibt fragil, der Weg dorthin erst recht – „Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1 Korinther 13,12). Hoffnung ruht nach dem Hebräerbrief auf Vertrauen „in das, das man nicht sieht“ (Hebräer 11,1). Hoffnung stiftet daher keine Sicherheitsgarantien – sie ist immer prekär, aber genau deshalb vermutlich auch so attraktiv, weil diese Kraft des „und dennoch“, des „jetzt erst recht“ eben auch nicht einfach widerlegt werden kann.

Janusköpfigkeit der Hoffnung

Diese Janusköpfigkeit der Hoffnung erschließt ein bekanntes Motiv aus dem kulturellen Gedächtnis Europas: Der Mythos der sogenannten Büchse der Pandora: Pandora öffnet die Büchse verbotenerweise und allerlei Übel entweichen ihr, nur die auch in der Büchse befindliche Hoffnung kann nicht entweichen. Legion sind die Deutungen: Nach manchen adelt die Hoffnung die entwichenen bösen Übel als vielleicht doch gut. Mal wird die Hoffnung mit den anderen Übeln identifiziert und so selbst zu einem Übel degradiert. Der Pandora-Mythos zeigt: Lasst uns nicht allzu schnell die Hoffnung instrumentalisieren, dann wird sie eben doch Methode. Und die Aufgabe, mit Nietzsche über Nietzsche hinweg zu kommen lautet: Es kommt darauf an, wie wir welche Hoffnungsbilder aufnehmen. Hoffnung ist nicht gleich Hoffnung.

Dass man die Hoffnung nicht als Methode instrumentalisieren darf, aber eben doch ihr den Weg bereiten kann, ohne zu wissen, was genau geschieht, und wie unfassbar anstrengend das sein kann, wie einen das nicht nur geschlagen zurücklässt, sprich: für immer verändert, sondern auch gesegnet zurücklassen kann, das verdeutlicht die andere, das kulturelle Gedächtnis Europas so prägende biblische Tradition. Konkret in der Geschichte von Kampf Jakobs am Jabbok (Genesis 32). Zur Vorgeschichte gehört der ewige Bruderzwist mit Esau, mit Betrug und Hass von Anfang an. Jakob plant eine Begegnung mit Esau, den er durch Boten mit Geschenken prophylaktisch besänftigen will. Die Szene des Kampfes mit dem Unbekannten spielt direkt zuvor in Nacht und am Fluss, zeitlich und räumlich Indikatoren für größtes Risiko.

Wegbereitung zur Versöhnung und nicht nur Planung, so die Jakobsgeschichte, geht aber in der eigenen Vorbereitung durch vorausgeschickte Boten und Gaben nicht auf. Vielmehr muss man bereit sein, sich dem überraschend Kommenden zu stellen. Jakob kann am Kampf nicht vorbei. Bekanntlich kämpfen Jakob und der Unbekannte bis zum Morgen und Jakob wird seinen weiteren Weg als hinkende Person, als Mensch mit Behinderung fortsetzen.

„Hoffnungshoffnung“ und die drei Illusionen

Anders als der Pandora-Mythos lenkt die Jakob-am-Jabbok-Geschichte nicht nur den Blick auf die Ambivalenzen von Hoffnungseinstellungen und -bildern. Vielmehr lehrt sie uns, bei „Hoffnungshoffnung“ Abschied zu nehmen von zumindest drei gefährlichen Illusionen:

Erstens: von der Protestillusion: Wer möchte, dass Hoffnung Realität wird, darf die Ursache für Veränderung nicht nur bei anderen sehen oder Fehler externalisieren. Purer Protest gegen das als Leid Empfundene reicht nicht aus. Jakob sieht den Schlamassel und das Leid, das er selbst seinem Bruder und anderen zugefügt hat. Wer hoffend einem Ziel den Weg bereiten will, darf nicht verharren im „Alle anderen sind schuld“ oder "Die werden’s schon richten".

Zweitens: von der Kontrollillusion: Jakob bereitet die Schritte zur Versöhnung vor. Aber als die unerwartete Konfrontation mit dem Unbekannten sich ereignet, stellt er sich ihm. Plötzlich durchkreuzt der Kampf die eigenen Pläne zur Versöhnung. Dem muss er sich stellen und die Herausforderung bewältigen. Denn sonst kommt er weder über den Fluss noch zum nächsten Morgen.

Drittens: von der Harmonieillusion: Neben der Frage nach dem eignen Beitrag zum Schlamassel braucht es die Bereitschaft, durch die Begegnung mit dem Außerordentlichen ganz anders, neu zu werden. Das ist nicht immer nur schön. Das tut oft weh und hinterlässt bleibende Spuren. Für Jakob hat es sich gelohnt, diese Beschädigung an seiner alten Identität zu akzeptieren. Er hoffte darauf: Das verheißene Neue wird größer als das bisher Bekannte.

Wenn sich Hoffen trotz Begegnung mit Außerordentlichem auch durch Ambivalenz auszeichnet, kommt es entscheidend darauf an, was gehofft wird – und das ist für jede und jeden durchaus unterschiedlich; es gibt allseits bekannte Hoffnungsbilder, aber auch die werden je einzeln verarbeitet.

Zurückgeworfen auf Hoffnung

Meine eigene Profession, die der Theologie, die bei aller rationalen Durchdringung auch etwas mit Bezeugen zu tun hat, wirft mich auf Hoffnungselemente des christlichen Glaubens zurück. Ich will sie so formulieren, dass sie auch über die christliche Religionskultur hinaus begreifbar und hoffentlich anregend sein können: Da ist die Hoffnung als das feste Vertrauen: Was gut in Gang gesetzt wurde, wird am Ende durch alle Irrungen und Wirrungen hindurch vollendet werden. Mit Max Horkheimer gesprochen: „Am Ende wird der Mörder nicht über die Opfer triumphieren.“ Und wo und weil immer wieder Leid geschieht und weil unabgegoltenes Leid geschieht, ist das nicht hinzunehmen. Denn wir sind gewiss: Jeder und jede „verdient“ gleiche Anerkennung, egal wie mächtig, wie wichtig, wie reich, wie gebildet, wie alt, welche Hautfarbe, welche Herkunft, welches Geschlecht, welchen Beruf jemand hat.

Wir nehmen alle mit und sind im „Zweifel für die Schwachen“, so, wie es die verteidigenswerten Errungenschaften unserer rechts- und sozialstaatlichen Demokratie mir zeigen. Als Christ bin ich „Verfassungspatriot“ (Dolf Sternberger, Jürgen Habermas) des Grundgesetzes, vor allem der tragenden Bilder von Menschenwürde und Menschenrechten. Von der Hoffnung, dass sie immer weiter realisiert werden, will ich – bei allem Wissen um Ambivalenzen, um die Gefahr von Protest-, Kontroll- oder Harmonieillusion von Hoffnung – nicht lassen. Wir haben zwar keine sichere Methode, aber wir können den Weg bereiten[1]. Aber wie kann das gehen?

Bevor ich diese Frage angehe, sei nochmals an die diagnostische Skepsis der Kollegen Nassehi und Reckwitz erinnert, die die Botschaft vermitteln: Das gesellschaftliche Wir hat sich in Funktionssysteme und Strukturen beziehungsweise im Überbietungswettbewerb um Aufmerksamkeit aufgelöst. Ein Wir – gefühlt wie im Sommermärchen 2006 – haben wir verloren, wenn es es je gab.

Trotz allem ein Wir

Ich sage dagegen: Doch, in und trotz all dem gibt es ein Wir. Kein kontrolliertes noch pseudoharmonisches Wir, aber eines, das sich trotz aller Kommunikationsblasen immer wieder auftut. Zum einen offensichtlich in überraschend starker Solidarität, wenn sich Not ereignet, zum Beispiel die Willkommenskultur des Jahres 2015, aber auch die breite und tiefe Bereitschaft, für die durch Corona besonders Gefährdeten über zwei Jahre Solidarität zu zeigen, allen sogenannten Querdenkenden und Herumspazierenden zum Trotz, schließlich für die Opfer der Flutkatastrophe und jetzt mit denen von Putins und seiner Helfershelfer Vernichtungskrieg.

Richtig ist: Aus der Willkommenskultur wurde eine Flüchtlingskrise, und die anfangs erwähnten Externalisierungen sind nicht vom Tisch, Querdenker und Spaziergängerinnen untergraben die Solidarität mit den Schwächsten und die demokratische Kultur, weil sie ihre eigenen Freiheitswünsche absolut setzen.

Dennoch: Es existiert eine breite Übereinkunft, Freiheit nicht nur am eigenen Befinden, sondern auch an anderen, vor allem sozial Schwachen und in Solidarität mit solchen, denen es an Anerkennung mangelt, zu messen (vergleiche hier). Der starke Wohlfahrtsstaat findet breite Akzeptanz, auch bei denen, die mehr zahlen, als sie rausbekommen. Ich zahle Steuern gerne, weil ich so in einem Land leben darf, das noch eine Infrastruktur vorhält, die nicht nur mir nützt.

Ich glaube, wir würdigen das Hoffnungspotential dieser bürgerschaftlichen Einsicht nicht intensiv genug; im Gegenteil – mit zu wenig Mut – bleibt es ungenutzt: Bürgerinnen und Bürger, das zeigte die Corona-Krise, waren früh, lange und intensiv bereit, Einschränkungen zu tragen. Ein überragender Teil dieser Gesellschaft wäre den Weg der Solidarität mit diesen Gruppen lange mitgegangen: hätte Freiheit mit Solidarität verbunden.

Einzigartiges Netzwerk

Zum anderen findet sich unterhalb des medialen Radars der Großkrisen im Vergleich zu vielen anderen Ländern in Deutschland ein einzigartiges zivilgesellschaftliches Netzwerk: das seit Jahrzehnten, teilweise Jahrhunderten ungebrochene Engagement in unzähligen Vereinen, Verbänden und organisierten Gemeinschaften. Vielleicht ist dies Ausdruck der deutschen Kleinstaaterei, aber der Effekt ist evident. Unsere lebendige Zivilgesellschaft vitalisiert die Gesellschaft diesseits von Strukturen und jenseits der Singularitätsideologie. Allein der Gang über den Markt der Möglichkeiten auf einem Evangelischen Kirchentag lässt mich immer beglückt ob dieser tragenden Säule unserer Gesellschaft zurück, und die dortigen Initiativen sind ja nur ein Teil des Ganzen. Das ist das Wir, das unsere Gesellschaft trägt und das allen Grund zur Hoffnung im Schlamassel bietet.

Abschließend drei Empfehlungen, wie wir der Hoffnung einen Weg bereiten können, aus dem Schlamassel herauszukommen:

Erstens: das WIR ernst nehmen: Viel mehr Bürgerinnen und Bürger sind bereit, Schweres, sie Einschränkendes, vermeintlich Kompliziertes und Unpopuläres mitzutragen. Der Politikstil, der reinen Wein einschenkt, der sagt, was man beabsichtigt und was auch schief gehen kann, der findet gerade überragende Anerkennung – und das ist gut so!

Zweitens: Zuhören. In der Corona-Krise ist mir nochmals aufgefallen, wie wenig die Vor-Ort-Expertise von höheren Stellen in Politik und Administration angezapft und genutzt wurde. Mich hat immer wieder bewegt, was für anregende Ideen in den sozialen Medien auftauchten. Warum haben die zuständigen Stellen auf allen Ebenen diese ungeheure Erfahrungswissen nicht systematisch gesucht und evaluiert? Welche Verschwendung sachlicher Art, aber auch welch vertane soziale Chance zu zeigen, dass Gesellschaftsgestaltung keine Einbahnstraße ist! Man hatte fast den Eindruck, es herrsche Angst vor bürgerschaftlicher Kompetenz. Souveränität zeigt sich darin, anderen Gehör zu schenken.

Drittens: Das WIR stärken: Wie aber sollen wir stärkende Hoffnungszeichen gegen Struktur- und Singularitätsapologeten setzen? Anfang der 2000er-Jahre gab es in der Sozialphilosophie eine damals viel beachtete Debatte zwischen den beiden großen Intellektuellen Nancy Fraser (nicht zu verwechseln mit Nancy Faeser) und Axel Honneth. Sie wurde veröffentlicht unter dem Titel: Umverteilung oder Anerkennung? Gerade weil für viele das erste Wort völlig aus der Mode gekommen oder ideologisch kontaminiert erscheint, muss diesseits einseitiger politischer Vereinnahmung an das erhellende und stärkende Zusammenspiel beider Momente für die Kultivierung des Wir erinnert werden, um Hoffnung den Weg bereiten zu können.

Es braucht zum einen mehr Anerkennung für das Rückgrat der Gesellschaft. Ohne die breite Mitte in Vereinen, Verbänden, Kirchen und Initiativen, ohne lebendige Kultur des Miteinanders wird auch die inspirierende und zur Kreativität anregende Avantgarde nicht getragen. Es wäre eine wichtige, ja zwingende Aufgabe der Verantwortlichen in Politik und Medien, diesem Rückgrat mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Auch das Ehrenamt will und muss gepflegt sein, nicht nur in Sonntagsreden – es liegen genug Vorschläge auf dem Tisch. Die Mitte definiert sich nicht über irgendwelche Stammtischparolen, sei es im Wirtshaus, sei es auf Telegramm, sondern über das Engagement für diese Gesellschaft. Positiv gewendet: Man wird der Spaltung der Gesellschaft dann am besten begegnen, wenn man das nicht primär über Regulation der Spaltpilze versucht, sondern wenn man von innen und von unten die guten Gemeinschaften stärkt.

Und deshalb braucht es zum anderen mehr, aber auch intelligentere Umverteilungen: Nicht das Füllhorn über diese oder jene Gruppe auszukippen, stärkt das Wir in dieser Gesellschaft. Wenn wir das Engagement der Mitte fördern wollen, wenn wir den Auftrag des Grundgesetzes, für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen zu sollen ernst nehmen, dann müssen vordringlich Infrastrukturen gestärkt werden, die ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltig den lebendigen Austausch ermöglichen – beispielsweise zwischen Stadt und Land, zwischen Mitte und Avantgarde. Eine der Stärken der deutschen Gesellschaft, die sich zu verteidigen lohnt, ist doch ihre Pluralität: Der Weltgeist wohnt eben nicht nur in Berlin oder München, denkt nicht nur in Strukturen oder Singularitäten; er denkt, werkelt und handelt in Weimar, in Cannstatt oder Pottenstein.

Wir in Deutschland haben Hoffnungsbilder genau in diesem WIR, in einem Wir, das sich frei machen kann von Kontroll-, Harmonie- und Protestillusion, und in dem nicht nur von der Avantgarde die Rede sein muss, sondern auch die Mitte des Engagements anerkannt, gehört und gestärkt wird. Wo sollen wir anfangen, wenn nicht hier und jetzt? Es gibt riesigen Schlamassel hier und global! Aber anfangen, genauer: besser weitermachen können wir nur hier, aber wir können es nicht nur als Einzelne, wir können es in unserem Land, sensibel für andere, hier und in der Welt – als offenes Wir. Ob dies geschieht? Ich bin nicht unbedingt optimistisch; eine Methode verspricht keine Sicherheit; aber ich bin hoffnungsfroh. Das wären jedenfalls Schritte der Wegbereitung für Hoffnung im Schlamassel. Dann gäbe es nicht nur Schlamassel, sondern Masel, Glück!

 

[1] Diese Unterscheidung von planender Methode und mit dem Außerordentlichen rechnender Wegbereitung stammt von Dietrich Bonhoeffer – aufgeschrieben in dunkler Zeit. Bonhoeffer versuchte, trotz allem Hoffnung zu bewahren und Verantwortung daraus zu gewinnen. So, in hoffender Verantwortung wollte er Entscheidungen treffen und trotzdem keinesfalls die Ambivalenzen einseitig auflösen, die er damit eingehen musste. Konkret: Ist es moralisch richtig, einen Tyrannen zu töten? Wegbereitung, nicht Methode, das ist der Hoffnung angemessen.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Peter Dabrock

  Peter Dabrock ist seit 2010 Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war Dabrock Mitglied des Deutschen Ethikrates und von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"