Raus aus dem falschen Film!

Wie die evangelische Kirche den gewaltigen Transformationen unserer Zeit begegnen sollte
Blick in das Refektoriums des Klosters Mont St. Michel (Frankreich)
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Blick in das Refektoriums des Klosters Mont St. Michel (Frankreich)

Im Leitartikel der aktuellen Maiausgabe der zeitzeichen wird an die erste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD 1972 erinnert. Der Theologe Peter Scherle nutzt dieses Jubiläum zu grundsätzlichen Erwägungen, wie die evangelische Kirche die großen Transformationen angehen sollte. Derzeit befinde sie sich aber leider noch im „falschen Film“ …

Gegenwärtig erleben wir, wie wichtig Erzählungen sind, die unsere Wahrnehmungen der Welt rahmen. Die Ukraine verteidigt sich gegen den russischen Angriffskrieg nicht nur mit Waffen, sondern schlägt auch eine mediale Schlacht gegen die russische Propagandamaschine. Hierzulande ringen Menschen wiederum um ihre Haltung zu diesem Krieg, indem sie bestimmte Narrative in den Vordergrund rücken. Nicht wenige sehen sich inzwischen im falschen Film, weil sie die Bilder von zerfetzten Leibern, zerstörten Häusern und Menschen auf der Flucht nicht mehr in ihre eingeübte Weltsicht einordnen können. Viele andere sehen in dem Schrecken dieses Krieges einen Angriff auf ihr eigenes Leben. Und je nachdem, in welchem Film wir uns hier sehen, welche Rahmenerzählung wir haben, fallen unsere Haltungen zu Waffenlieferungen oder Flugverbotszonen aus.

Auch unser gegenwärtiges Ringen um den Weg der Kirche in den nächsten Jahrzehnten, ist von Erzählungen gerahmt. Der großen Bedeutung der visuellen Kultur in der digitalisierten Medien- und Informationsgesellschaft entsprechend, möchte ich die Metapher des Films bzw. der filmischen Erzählung verwenden, um deutlich zu machen, wie wir getrost evangelische Kirche sein können. Dazu müssen wir raus aus dem falschen Film, der unsere Reformprozesse rahmt.

Vor genau fünfzig Jahren begannen die Dreharbeiten zu dem Film, in dem sich die evangelischen Kirchen seitdem wiederfinden. 1972 veröffentlichte die EKD die Ergebnisse ihrer ersten Mitgliedschaftsuntersuchung unter dem Titel „Wie stabil ist die Kirche?“. Der sorgenvolle Titel verrät das Genre: Ein Krisenfilm. Die Kirche braucht Retter, braucht Helden, sonst geht es mit ihr zu Ende.

Film mit Fortsetzungen – die KMUs

Diese filmische Erzählung, die den Weg der evangelischen Kirchen in Deutschland seitdem gerahmt und so gedeutet hat, hat weitere Fortsetzungen gefunden. Die neueste Sequel sollte in diesem Jahr erscheinen: die KMU 6. Alle bisherigen fünf Folgen des Films folgten demselben Drehbuch, wie schon die erste Folge der Staffel. Der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Die Kirche verliert an Mitgliedern und an Bedeutung. Wir müssen das verhindern. Wir suchen nach Helden, die unsere Zukunftsfähigkeit sichern.

In langen filmischen Erzählungen, deren Sequels über Jahrzehnte entwickelt werden, ändern sich Erzählformen und Inhalte. Im Fall des Films, in dem sich die evangelische Kirche selbst beobachtet, sind dafür gesellschaftstheoretische Überlegungen maßgebend.

In den vergangenen fünfzig Jahren gab es wechselnde Einflüsse. Grundlegend war von Anfang an die Theorie der funktional differenzierten Gesellschaft, die hierzulande Niklas Luhmann geprägt hat und die heute am markantesten von Armin Nassehi vertreten wird. Durch diese Theoriebrille betrachtet erscheint die Kirche als Organisation, die in ihrem Funktionssystem der Religion Leistungen erbringt.

Der Soziologe Armin Nassehi hat in seinem jüngsten Buch ausgeführt, was das gesellschaftlich bedeutet. „Unbehagen“ nennt er die Erfahrung, dass eine funktional differenzierte Gesellschaft zwar enorm leistungsfähig ist, ihr aber gleichzeitig ein Steuerungszentrum fehlt. Und dazu gehört auch, dass die christlichen Kirchen, dieser Gesellschaft keinen umfassenden Sinnzusammenhang (keinen „heiligen Baldachin“), dass sie der Politik keine Rahmenerzählung mehr bieten können. In der Corona-Krise hatte der Soziologe Rudolf Stichweh diese Erkenntnis schmerzlich auf den Punkt gebracht: Die Kirchen sind nicht systemrelevant – noch nicht einmal im Blick auf die Deutung der Pandemie.

„Milieutheoretische Milieubrille“

Die Theoriebrille der funktionalen Differenzierung ist also immer noch wichtig, um die Rolle der Kirchen zu begreifen. Aber Anfang der 1990er-Jahre begann zunehmend die milieutheoretische Theoriebrille die Selbstwahrnehmung der Kirchen zu prägen. Mit ihr ließ sich die Erfahrung einordnen, dass im Zuge von kultureller Pluralisierung und Individualisierung die Kirchenzugehörigkeit nicht mehr sozial abgestützt war. Nachdem die Kirche sich selbst als Organisation begriff und sich um die Mitgliederbindung sorgte, schien die Analyse aus der Marketingperspektive naheliegend. So sollten die Kirchenmitglieder nach Lebensstilen und geschmacklichen Präferenzen unterschiedlich adressiert werden können.

Die Mittel der kirchlichen Publizistik wurden in der Folge zugunsten einer kirchlichen PR umgeschichtet, die immer neue Kampagnen in Gang setzt. Das neue „Philippus-Projekt“ der EKHN etwa ist eine Fortsetzung dieser Marketing-Logik, die schon mit der Verwendung der Sinus-Milieustudien Gestalt gewann. Es geht darum, so viele Daten wie möglich über die Mitglieder zu erheben, um sie punktgenau adressieren zu können. Mit dem Philippus-Projekt soll das nun verfeinert werden. Eine Art kirchliches Cambridge Analytics, dessen Wirkweise den Mitgliedern wohl besser nicht bekannt werden sollte.

In der bisher letzten KMU von 2012 deutete sich allerdings ein Abschied von der Milieu-Theoriebrille an. Eine neue Perspektive wird erprobt, die sich aus der Theorie der „verflüssigten Moderne“, speist, wie sie mit dem Namen Zygmunt Bauman verbunden ist. Darin schlägt sich die Erfahrung nieder, dass die gesellschaftlichen Strukturen keineswegs jene Festigkeit haben, die gerne unterstellt wird. In dem Meer der Ströme des Geldes, der Waren, des Verkehrs und der Menschen bilden sich immer neue Knotenpunkte und Vernetzungen. Diese können zu Organisationen werden, sich aber auch wieder auflösen.

Aus dieser Perspektive erscheinen Kirchen nun als Hybride aus institutionellen, organisationalen und Netzwerk-Dimensionen. Netzwerkarbeit, auch im Gemeinwesen, wird als neue Aufgabe beschrieben. So treten neben die nun schon Jahrzehnte alte funktionale Ausdifferenzierung kirchlicher Arbeit, sowie den Ausbau der mittleren Ebene seit den 1990er-Jahren, heute weitere strukturelle Modelle, wie zum Beispiel Nachbarschaftsräume mit weiteren Leitungsorganen und so genannten interprofessionellen Teams. Neben diese immer komplexeren Strukturen werden dann noch Projekte aller Art gesetzt, zum Beispiel um die „digital natives“ in ihren Welten zu erreichen.

„Wachsendes Unbehagen“

Auch diese neueste Wendung in der Selbstwahrnehmung soll in erster Linie die Kirche zukunftsfähig machen und die Mitgliederbindung sichern. Doch das Vertrauen in die Rettungserzählung schwindet, da alle Reformprozesse die Erosion der Mitgliederbasis nicht aufhalten konnten. Getrost wirkt das nicht. Mit Nassehi gesprochen: Das Unbehagen wächst. In der Kirche auch deshalb, weil immer nur eine Reform auf die nächste draufgelegt wird, ohne dass noch eine Steuerung erkennbar wäre, die mehr ist als die allgemeine Kürzung von Haushaltsmitteln. Da nützt auch die mit großen Kosten verbundene Doppik nichts.

Interessant ist insgesamt, welche Theoriebrillen kaum genutzt werden. Es sind jene, die grundlegende Transformationen und Krisen der Spätmoderne in den Blick nehmen. Die Drehbücher zur Kirchenreform versprechen zwar eine Modernisierung der Kirche, können aber mit kritischen Analysen gesellschaftlicher Modernisierung wenig anfangen, die uns vor Augen führen, dass wir uns auf ein Leben in den Ruinen der beschleunigten Moderne einrichten müssen. Ökonomisch, ökologisch, kulturell und politisch ist der Traum von einer alles inkludierenden Weltgesellschaft (der die vergangenen drei Jahrzehnte geprägt hat) zerplatzt. Unser kleiner Lebensraum auf dem Erdmantel erweist sich als eine Kampfzone, in der es um die Bewohnbarkeit geht, und kein kosmopolitisches Idyll. Im dritten Corona-Jahr, angesichts der spürbaren Auswirkungen des Klimawandels und dem Angriff auf die Sicherheitsordnung Europas, ist uns diese Erkenntnis auf die Pelle gerückt. Noch aber träumen viele davon, dass das alte Leben zurückkehrt – auch in den Kirchen.

Inzwischen hat das Genre der KMU, das von der krisenhaften Gegenwart der Kirche erzählt, weitere Erzählmodelle nach sich gezogen. Seit Mitte der 1980er-Jahre ist das Modell der Prognose dazu gekommen. Die Studie „Christsein gestalten“ aus dem Jahr 1985 und die Freiburger Studie aus dem Jahr 2020 sind die wohl bekanntesten prognostischen Erzählungen. Nach der ersten – eher dystopisch wirkenden - Prognose von 1985 dürfte es schon heute keine evangelischen Kirchen mehr geben. Inzwischen ist die dystopische Inszenierung abgeschwächt worden. Immerhin soll es 2060 die evangelischen Kirchen noch geben, nur eben in Größe und Finanzkraft halbiert.

„Abwehrkampf gegen den Niedergang“

Doch für Beruhigung hat auch diese Erzählung nicht gesorgt. Denn noch immer ist das gesamte Genre davon geprägt, dass die evangelische Kirche gerettet werden muss. Am deutlichsten auf den Punkt gebracht wurde das in der Formel vom „Wachsen gegen den Trend“, die das Reformpapier „Kirche der Freiheit“ begleitet hat. Und tatsächlich sind alle Kirchenreformen seit einem halben Jahrhundert als Abwehrkampf gegen den Niedergang der Kirchen konzipiert worden. Jede Reform braucht ja zuerst eine veritable Krise, um als Inszenierung plausibel zu wirken. Und so sind wir seit Jahrzehnten im Modus der Krise. Nicht zu Unrecht spricht Günter Thomas davon, die Kirchen seien manisch-depressiv geworden.

Bis zum Jahr 1990 war das noch nicht bemerkt worden. Denn die EKD-Kirchen sind durch die seit den 1970er-Jahren nicht mehr subsidiären Kirchensteuern einnahmegesteuert. Durch die unmittelbare Koppelung an den gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum konnten sie ihre Arbeitsfelder, ihr Personal und den Gebäudebestand massiv ausbauen. Das Krisengefühl wurde mit Geld und noch mehr Geld erstickt. Die Bedeutung kirchlich-diakonischer Einrichtungen für den Wohlfahrtsstaat überdeckte die heute offensichtliche Tatsache, dass die Kirche öffentlich immer weniger gehört wurde. Die Arbeit der Kirche, als auch die von Pfarrerinnen und Pfarrern in dieser Zeit wurde als Erfolgsgeschichte des Auf- und Ausbaus erlebt.

Das Jahr 1990 markierte hier einen Einschnitt. Die Kirchen begannen zu realisieren, dass sich ihre Einnahmen irgendwann nicht mehr steigern ließen, weil eine Entkoppelung vom gesellschaftlichen Reichtum begonnen hatte und auch der Mitgliederschwund trotz des massiven Ausbaus der Kirche und der inneren Differenzierung weiter ging. Die Rahmenerzählung wandelte sich nun. Sie folgte nicht mehr dem Western-Modell, sondern nunmehr einer neoliberalen Wall-Street- Inszenierung: Der Knappheitsdiskurs schrieb das Drehbuch und die Akteure sollten sich jetzt alle als Marktteilnehmer verstehen, die um Kunden, Konsumenten und User auf dem religiös-spirituellen Markt kämpfen. Seit dreißig Jahren ist dies der Film, in dem sich die evangelischen Kirchen sehen. Da inzwischen – deutlich später als erwartet – die Einnahmen durch die Kirchensteuer zu sinken beginnen, wird jetzt erwartet, den Rückbau in Szene zu setzen.

„Rückbau als Niederlage“

Solch ein Rückbau lässt sich aber nur schwer als heldenhaft darstellen, wenn gleichzeitig die EKD-Synode sich unter der Fahne mit der Formel „Kirche ist Zukunft“ versammelt. So erscheint Rückbau als eine Niederlage, die sich dann auch Pfarrerinnen und Pfarrer (in meinem Alter oder jünger) als persönliches Versagen zurechnen. Das unterscheidet die Lage jener, die jetzt in die letzte Berufsphase eintreten, von denen, die um 1990 nach dem Ende der Ausgabenorgie für Personal, Gebäude und neue Arbeitsfelder in den Ruhestand gingen.

Alle wiederum die jetzt ihren Pfarrdienst beginnen, dürften nüchterner sein. Sie wissen, dass sie in einer kleineren Kirche mit weniger Personal und Gebäuden arbeiten werden. Allerdings – und das scheint mir ein wunder Punkt – ist noch nicht geklärt, was die geforderte Konzentration auf die genuin religiöse Aufgabe bedeutet.

Vielleicht haben Sie schon herausgehört, warum ich die Rahmenerzählung, die vor fünfzig Jahren entwickelt wurde, als „falschen Film“ bezeichne. Sie hat eine Trostlosigkeit erzeugt, der man sich zwar als Einzelperson entgegenstellen oder entziehen mag. Und es spricht auch nichts dagegen, in kleinen Heldengeschichten zu schwelgen. Aber wir können nicht mehr getrost evangelische Kirche sein und schlicht den Dienst tun, zu dem die Kirche gesendet ist.

„Scheinbarer Normalzustand“

Der falsche Film beginnt mit dem Setting, dass es einen Normalzustand der Kirche gebe, in der sie als Organisation „mächtig und groß“ ist. Aber die steigenden Mitgliederzahlen von 1945 bis 1968 waren Folge des Babybooms in der Nachkriegszeit und dem beginnenden Wirtschaftswunder. Und die Kirche als öffentliche Stimme profitierte von der Erschütterung des Vertrauens in den Staat vor 1945. Diesen scheinbaren Normalzustand zu erhalten beziehungsweise wiederherzustellen wurde zum Inhalt dieses falschen Films oder Drehbuchs.

Das zweite Setting, in dem die Kirche als „mächtig und groß“ erscheint, ist der gewaltige Ausbau kirchlicher Strukturen seit den 1970er-Jahren. Auch wenn wir inzwischen wissen, dass es sich dabei um eine Überdehnung der kirchlichen Organisation handelt, wurde doch eben diese Verteidigung der überdehnten Kirche zum Inhalt von Heldenerzählungen in diesem falschen Film. Die Folge: Allerorten werden Stellen, Arbeitsbereiche und Gebäude mit größter Vehemenz verteidigt, auch weil ihr Abbau als persönliche Niederlage und als Niedergang der Kirche erlebt wird. Zugleich wurden und werden in immer neuen Varianten „best practices“ angepriesen, die einen Rückbau verhindern könnten. Heute heißen die Rollenbeschreibungen dafür: kreativ, innovativ, agil und irgendwie fresh. Das jedenfalls verspricht Aufmerksamkeit.

Was diese Erzählung vom Niedergang, der verhindert werden muss, ganz und gar ausblendet, ist die Erkenntnis, dass Religionen ihre gesellschaftliche Bedeutung und damit auch ihre organisatorische Stärke aus sekundären Gründen haben. Kirche behält oder gewinnt gesellschaftliche Bedeutung nur dort, wo sie durch andere gesellschaftliche Interessen gestützt wird. Am wirksamsten ist das Bündnis mit Nationalismen, wie in Polen, Russland oder auch dem früheren Preußen. Die russische orthodoxe Kirche verdankt ihre heutige Macht der Sakralisierung des großrussischen Imperialismus Putins.

Religion kann sich aber auch mit dem Versprechen sozialen Aufstiegs oder individuellen Wohlstands verbinden, wie der Erfolg charismatischer und neo-evangelikaler Kirchen in Lateinamerika, Afrika oder Asien zeigt, die ein „Prosperity Gospel“ verkündigen. Der liberale Protestantismus, der sich von solchen Bündnissen befreit hat, leidet an dieser fehlenden sekundären Abstützung. Inzwischen versucht er das zu kompensieren, indem er sich – mit Andreas Reckwitz gesprochen - dem kulturell-hegemonialen Wertekanon der akademischen Mittelschicht andient. Doch es nützt nichts, wenn der Rat der EKD seine Sitzung auf eine FFF-Demo verlegt, um sich als gesellschaftliche Avantgarde zu inszenieren. Es zeigt eher, wie ersetzbar Kirche als Wertelieferantin ist. In Ländern, in denen es sowohl gesellschaftliche Freiheit wie auch einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat gibt, ist eine Bewegung in die Konfessionslosigkeit festzustellen. Das gilt weltweit, sogar – anders als oft vermutet – in den USA.

Erstaunen über gute Arbeit

Die Folge all dessen ist die dauernde Abwertung der ganz normalen kirchlichen Arbeit, die sich allerorten mit großer Beständigkeit vollzieht. Diese Abwertung ist der Großerzählung seit der ersten KMU von 1972 inhärent. Denn alle diese Mitgliedschaftsbefragungen wurden mit der Annahme durchgeführt, dass die kirchliche Arbeit defizitär und die parochiale Kirchengemeinde nicht mehr leistungsfähig sei. In den fünf bisherigen Untersuchungen zeigte sich dabei ein Erstaunen der Autoren, dass nach Ansicht der Mitglieder und sogar der Bevölkerung insgesamt die evangelischen Kirchen nicht nur das Richtige tun, sondern dass sie es auch gut tun. Es ist eben das, was den pfarramtlichen Alltag ausmacht: Gottesdienste feiern, Begleitung in Lebensübergängen und Hilfe für die Schwachen.

Aus der alltäglichen pastoralen Arbeit, aus der geduldigen Präsenz vor Ort lassen sich jedoch keine medialen Funken schlagen. Das normale Leben entgeht den medialen Erzählmaschinen, bleibt unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. Die Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin hat dieses Phänomen in ihrer kleinen „Tragetaschentheorie des Erzählens“ („The Carrier Bag Theory of Fiction“) zu erklären versucht. Demnach ist es ein frühmenschheitliches Phänomen, dass Jäger von ihren Ausflügen nicht nur Fleisch mitbrachten, sondern auch eine spannende Geschichte. Obwohl die Hauptnahrungsquelle der frühen Menschheit aus gesammelten Samen, Wurzeln, Sprossen und Früchten bestand, ließen sich daraus keine Heldengeschichten machen. Das alltägliche Sammeln von Nahrung und die kleinen Geschichten, die sich damit verbinden, kommen gegen die Heldengeschichten nicht an, in der Säbelzahntiger erlegt werden, in der Päpste Kaiser auf die Knie zwingen und das evangelische „Z-Team“ die Kirche rettet.

Protestantismus als große Tragetasche

Mir scheint es, dass der Protestantismus eigentlich der Versuch ist, das alltägliche Sammeln und Sorgen der Menschen zu würdigen und den Glauben nicht als Heldengeschichte zu erzählen, sondern als Versuch, den Glauben im Alltag ins Leben zu ziehen. Das Sammeln von Geschichten alltäglichen christlichen Lebens in der großen Tragetasche Protestantismus ist ein Gegenentwurf zur heroischen Erzählung von der Rettung der Kirche. Zwar haben auch kleine Helden in dieser Tragetasche Raum, aber nicht mehr als die Retter der Kirche und der Welt, wie in der herrschenden Western- oder Wall Street-Verfilmung von der Krise der Kirche.

Falsch nenne ich diesen Film also nicht deshalb, weil es nicht auch spannende Sequenzen, ermutigende Erzählstränge und beeindruckende ästhetische Erlebnisse in unseren Kirchen gäbe. Falsch nenne ich vielmehr die filmische Großerzählung, die seit Jahrzehnten die Kirche im Modus der Krise präsentiert, die sich vor allem um sich selbst sorgen müsse und sich schließlich selbst zum Inhalt der Zukunft erklärt.

Geradezu fatal ist die Wirkung dieser Erzählung, weil sie die evangelische Kirche geistlich zersetzt. Sie untergräbt die theologische Erkenntnis der Reformation, dass die Kirche weder Selbstzweck noch Inhalt der Botschaft des Evangeliums ist. Getrost kann eine evangelische Kirche aber vor allem deshalb sein, weil sie sich nicht um ihre Zukunft sorgen muss, sondern sich auf das Kommen Gottes konzentrieren kann. Es geht um eine adventsfähige, nicht um eine zukunftsfähige Kirche.

Die Krisis nicht verpassen

Wer sich unentwegt mit der Krise der Kirche und den immer neuen Rettungsgeschichten durch Kirchen- und Strukturreformen beschäftigt, verpasst leicht die Krisis, die das Kommen Gottes in die Welt bedeutet. Diese Krisis hat zwei Elemente: das Gericht und die Neuschöpfung. Davon zu erzählen, dafür braucht Gott die Kirche neben dem Gottesvolk Israel. Nicht die Menschen brauchen die Kirche – Gott braucht sie als Zeugin für sein Versprechen der Bewahrung und Erlösung der Schöpfung. Gott braucht uns als „Protestleute gegen den Tod“ (Christoph Blumhardt d.J.), die darauf bestehen, dass die Opfer der Geschichte zuletzt Recht bekommen und aufgerichtet werden. Und Gott braucht Menschen, die seine Sorge um die Kreatur teilen, „bis er kommt in Herrlichkeit“.

Das also ist der Film, das ist die Erzählung, in die wir die Menschen mit hineinnehmen sollen. Dazu mangelt es uns an nichts. Und die Strukturen sind dafür nur insoweit von Belang, als dass sie diese Erzählung erwartbar sicherstellen (oder wenigstens nicht erschweren oder behindern). Dafür braucht es nicht viel. Es braucht Menschen, die von Gottes Kommen in die Welt erzählen und ihre Hoffnung auf die neue Schöpfung bezeugen. Es braucht Orte, an denen diese Geschichte Gottes immer wieder erzählt und gefeiert wird.

Die Anlässe, die es braucht, damit diese Geschichte gehört wird, die liefert das Leben selbst. Ich meine nicht nur die biographischen Anlässe für Kasualhandeln. Ich meine auch die Anlässe die damit zu tun haben, dass unser altes Leben vorbei ist. Wir müssen lernen getrost (mit Blick auf Gott) und untröstlich (mit Blick auf die Beschädigungen des Lebens) auf dem Erdmantel zu leben, mit den Folgen des Klimawandels, mit Pandemien und mit den Putins dieser Welt.

Alles das wäre aber sinnlos, wenn wir unsere Hoffnung auf die Zukunft setzen. Nur wenn wir daran glauben, dass Gott auch noch das vergangene Leben retten kann, sind wir auch zukunftsfähig. Es gibt kein Ziel der Geschichte von Menschen und Natur, das uns darüber hinwegtrösten könnte, dass Menschen gerade jetzt in der Ukraine oder im Jemen getötet werden, dass Arten aussterben, dass die Pandemie immer weitere Menschenleben fordert. Für all das muss Rechenschaft auch von Gott gefordert werden. Für all das gibt es aber nur einen wirklichen Trost: die Auferweckung der Toten und die Neuschöpfung von Himmel und Erde. Nur deshalb können wir getrost evangelische Kirche sein.

Getrost evangelische Kirche sein

Das sprengt nun aber meine Film-Metapher. Diese Hoffnung lässt sich nicht in ein filmisches Genre packen. Sie ist nicht einfach ein weiterer Beitrag zu der medialen Erzählmaschine, die unsere Gesellschaft mit formt. Diese Hoffnung übersteigt alles, was wir uns vorstellen können. Deshalb können wir sie auch nicht filmisch als „Die größte Geschichte aller Zeiten“ selbst in Szene setzen. Aber wir können uns auf die Krisis-Geschichte vom Kommen Gottes einstellen. Wir können sie in kleinen Alltagsereignissen aufscheinen sehen. Manchmal wie ein Doppelbild. Manchmal verschwommen, manchmal kristallklar. Aber wir können daraus kein Drehbuch machen, damit keine Kirche gestalten. Wir können solche kleinen Geschichten von Gottes Heimsuchungen in unserem Alltag aber sammeln in unserer protestantischen Tragetasche. Deshalb gilt für unsere Organisation: Ob groß oder klein, ob mächtig oder schwach, ob gesellschaftlich bedeutend oder unbedeutend – wir können getrost evangelische Kirche sein.

Eine getroste evangelische Kirche kann dann auch gelassener in den Ruinen der Fortschrittsutopien der Moderne leben. Wenn es Gott selbst ist, der die Schöpfung bewahrt und sie mit Shalom und Zedakah (Frieden und Gerechtigkeit) erfüllt haben wird, dann können wir getrost an der menschlichen Aufgabe mitarbeiten, den Erdmantel bewohnbar zu halten.

(Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor auf der Dekanatskonferenz des Evangelischen Dekanats Darmstadt am 6. April 2022 gehalten hat)

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Peter Scherle

Peter Scherle, Jhg. 1956, ist Pfarrer i.R. der EKHN. Er war bis 2020  Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar Herborn und Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Irish School of Ecumenics (Trinity College Dublin).


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